Rede vor der Konferenz der Gesellschaft der Naturforscher von Moskau und Leningrad 1930
In diesem revolutionären Aufsatz, der 1930 auf französisch in der Revue des Sciences erschienen ist, setzt sich Wladimir Wernadskij leidenschaftlich und provokativ für die Entwicklung einer „neuen Physik” ein. Seiner Ansicht nach sei dies nicht nur aufgrund der bahnbrechenden Arbeiten von Louis Pasteur und einiger anderer Forscher unbedingt erforderlich, sondern genauso, um die Wissenschaft von den dauerhaften ideologischen Nachwirkungen Isaac Newtons zu befreien. Über Hunderte von Jahren habe sich die Wissenschaft in eine Richtung entwickelt, in der sie sich immer weiter von den Erkenntnissen der Erforschung des Lebens und selbst des menschlichen Lebens entfernt hat. Eingeschworene Reduktionisten und andere kleingeistige Wissenschaftler waren davon überzeugt, daß letztlich alles auf „die alte Physik” reduziert werden könnte. Einsteins wissenschaftliche Revolution sei ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, aber Wernadskij mahnt hierbei an, daß noch viele weitere Fortschritte gemacht werden müßten. Er fordert mutig eine neue Physik, die die offenkundigen Anomalien des Lebens und des menschlichen Lebens berücksichtigen und auf ihnen aufbauen müsse.
Alle nummerierten Anmerkungen sind vom Übersetzer. Anmerkungen mit * sind von Wernadskij.
I. Die Revolution, die in unserem 20. Jahrhundert in der Physik stattfindet, läßt im wissenschaftlichen Denken die Notwendigkeit entstehen, grundlegende biologische Vorstellungen neu zu überdenken. Erstmals scheint es im wissenschaftlich aufgebauten Kosmos möglich zu sein, den Lebensphänomenen eine wichtige Stellung zuzuweisen. Zum ersten Mal im Laufe von drei Jahrhunderten eröffnet sich uns die Möglichkeit, die durch den historischen Erkenntnisfortschritt erzeugten grund- legenden Widersprüche zu überwinden – Widersprüche, die zwischen dem wissenschaftlich aufgebauten Kosmos und dem menschlichen Leben bestehen, zwischen der Vorstellung der uns umgebenden Welt im Zusammenhang mit dem menschlichen Bewußtsein und seinem wissenschaftlichen Ausdruck. Dieser Widerspruch ist schon im 16. Jahrhundert in unser geistiges Leben vorgedrungen; wir empfinden ihn zutiefst bei jedem Schritt. Seine Folgen sind unzählig.
Es ist deshalb wichtig, die Entwicklung der neuen Physik aufmerksam zu verfolgen und zu durchdenken, da die Veränderungen in unserem Leben aufgrund des neuen wissenschaftlichen Bildes des Kosmos – eine Konsequenz der neuen Physik –, worin es den Widerspruch zum menschlichen Empfinden nicht mehr gibt, mit dem Fortschreiten der Physik zunehmen.
Diese Revolution muß sich in nicht geringerem Maße auf das Hauptinstrument wissenschaftlichen Denkens auswirken – die tägliche wissenschaftliche Arbeit, die Psychologie des Forschenden. Denn sie hat, wie man sehen wird, in den letzten Jahrhunderten ein auffälliges Mißverhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Weltbild und der auf ihm gründenden wissenschaftlichen Arbeit entstehen lassen.
Wir erleben somit einen der größten Prozesse im Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens und eine der uralten Krisen des menschlichen Bewußtseins.
II. Unser wissenschaftliches Bild des Kosmos geht auf die Zeit der Renaissance zurück. Im 16. Jahrhundert sprach Giordano Bruno (1548–1600) ausdrücklich von der Unendlichkeit des Universums und von dem kleinen Platz, den dort unsere Sonne einnimmt, von der Erde ganz zu schweigen.1 Nikolaus von Kues (1401–1464) hatte dies schon ein Jahrhundert zuvor verstanden und ausgedrückt.2
Bruno sagte mit größerer Klarheit als andere, was zu seiner Zeit überall im menschlichen Bewußtsein auftauchte. Tatsächlich war Brunos Denkgebäude keine wissenschaftliche Errungenschaft, sondern er zog aus neuen wissenschaftlichen Entdeckungen philosophische Schlüsse, die über das hinausgingen, was damals wissenschaftlich bekannt war und sich mit der späteren Entwicklung wissenschaftlicher Kenntnisse deckte.
Die gesamte wissenschaftliche Vorstellung des Universums änderte sich radikal. Die Tradition Tausender Jahre zerbrach.
Die philosophischen Denkgebäude, die sich von neuen Tatsachen und empirischen wissenschaftlichen Verallgemeinerungen ableiteten, eilten dem späteren Erwerb genauen wissenschaftlichen Denkens um mehrere Generationen voraus.
Auf Grundlage des Teleskops entwickelte sich innerhalb weniger Generationen eine neue Vorstellung, ein neues wissenschaftliches Verständnis des Universums – Kopernikus, Kepler, Galileo und Newton erschütterten im Laufe mehrerer Jahrzehnte die jahrhundertealte Beziehung, die sich zwischen Mensch und Universum gebildet hatte.
Das von den Newtonschen Gesetzen bestimmte wissenschaftliche Bild des Universums ließ, auch wenn es die Grenzen wissenschaftlicher Vollkommenheit erreicht zu haben schien, für Äußerungen des Lebens keinen Platz.
Nicht nur der Mensch, nicht nur alles Leben, sondern unser Planet insgesamt verlieren sich dabei in der Unendlichkeit des Kosmos. Bis dahin hatte der Mensch und durch ihn die Erscheinungen des Lebens in den wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen und künstlerischen Vorstellungen einen zentralen Platz im Kosmos eingenommen; am Ende des 17. Jahrhunderts waren alle diese Darstellungen aus den wissenschaftlichen Vorstellungen über das Universum verschwunden.
Aufgrund der übertriebenen Dimensionen, die es der Welt verlieh, schien das neue wissenschaftliche Weltbild gleichzeitig den Menschen mit seinen Interessen und Errungenschaften, aber auch die Lebensphänomene insgesamt herabzusetzen, als seien diese nur eine Art unbedeutendes Detail im Kosmos.
Je mehr sich das menschliche Denken entwickelte, desto stärker und klarer schien dieser wissenschaftlich aufgebaute Kosmos hervorzutreten, der für alles Lebende – für jeden einzelnen Menschen und für das menschliche Leben insgesamt – völlig fremd und unvorstellbar war.
Dank wissenschaftlicher Naturbeobachtungen setzte sich nach Newton dieses lebensentleerte, nur vom wissenschaftlichen Denken bestimmte Bild des Universums immer schneller außerhalb aller philosophischen oder religiösen Darstellungen durch.
Seine Bedeutung entwickelte sich vor allem in der Zeit der großen Erfolge der Stellarastronomie.
Die erste dieser Epochen fiel auf das Ende des 18. und den Beginn des 19. Jahrhunderts zur Zeit von Wilhelm Herschel und seiner Schwester Caroline Herschel, die eine neue Welt entdeckten und zum ersten Mal die Regelmäßigkeit des Aufbaus kosmischer Sternensysteme zeigten, insbesondere die Existenz unzählig vieler Nebel.
Jetzt im 20. Jahrhundert erleben wir die zweite Epoche. Die neue Blüte der Stellarastronomie verdanken wir einerseits leistungsstarken neuen Beobachtungsmethoden, die mit beispiellosem Tempo von amerikanischen Observatorien entwickelt wurden, und andererseits der unmittelbaren Übernahme wissenschaftlicher Beobachtungen durch die Physik. Die neuen astrophysikalischen Entdeckungen dringen in die Neue Physik ein und werden immer mehr von ihrem Aufbau geleitet.
Hierin liegt der radikale Unterschied des neuen Fortschritts der Stellarastronomie gegenüber früheren wissenschaftlichen Generalisierungen wie denen von Hipparch, Ptolemäus, Brahe, den Herschels und Struves.3
In Wissenschaftskreisen und unter gebildeten Leuten erhoben sich im 18. und 20. Jahrhundert umgehend und unaufhörlich Stimmen, die besorgt auf die Unbedeutendheit des Lebens wie auch aller anderen großen menschlichen Bestrebungen verwiesen, eine Unbedeutendheit, die das grandiose Bild des Kosmos nahezulegen schien. Diese geistigen Ausrichtungen fanden ihre Rechtfertigung in den auf diesen Beobachtungen basierenden Weltentstehungslehren. Der englische Astronom M. Jeans hat diese jüngst erneut in seinen Reden dargestellt, die die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregten. Die Zerbrechlichkeit und Belanglosigkeit des Lebens, seine Zufälligkeit im Kosmos, scheinen aufgrund des Fortschritts der exakten Wissenschaft immer neue Bestätigungen zu finden.
Aber diese neue Entwicklung des wissenschaftlichen Weltbildes, welches im alten wissenschaftlichen Denkrahmen entstand, trifft heute zum ersten Mal auf eine andere, tiefere Weltsicht, die das empirisch erreichte Bild des Kosmos radikal verändert.
Weder philosophische Analyse, noch religiöses Empfinden, sondern wissenschaftliches Denken beginnt Korrekturen einzubringen, um auf neue Weise Licht auf das wissenschaftliche Bild des Kosmos zu werfen, das lange dem menschlichen Leben fremd war.
Basierend auf Verallgemeinerungen und astrophysikalischen Theorien verändert sich dieses Bild unerwartet für die Zeitgenossen dank des Einflusses der tiefgehenden Revolution, die der Grundaufbau der Physik durchgemacht hat.
Etwas undeutlich Neues in der neuen wissenschaftlichen Struktur des Universums regt sich. Die brennenden Widersprüche, die seit Jahrhunderten bestehen, werden so in einen neuen Rahmen gestellt.
III. Bis jetzt konnte der Mensch die Widersprüche, die es zwischen seiner eigenen Weltsicht und der des wissenschaftlichen Bildes gab, nur lösen, indem er sich an die Philosophie und Religion wandte.
Über viele Jahrhunderte hinweg hat sich der Wissenschaftler nicht damit abgefunden, daß weder er noch alles Lebende – Bewußtsein, Denken, Verstand, alles, was für ihn das Höchste ist – in keiner Weise Einfluß auf das wissenschaftliche Bild des Kosmos nehmen konnte – es ließen sich keine Korrekturen im Aufbau des von der Wissenschaft erzeugten Kosmos vornehmen, außer indem man Anleihen in anderen geistigen Bereichen wie der Philosophie, der Religion und teilweise der Kunst machte.
Solange er auf dem Boden des wissenschaftlichen Konzeptes blieb, mußte er das lebensfremde wissenschaftliche Bild des Kosmos akzeptieren und die Bedeutung, die er stets im Leben dem Verstand und dem Bewußtsein – allem Lebenden, zu dem er selbst gehörte – gegeben hatte, als Fehler und Illusion behandeln.
Angesichts der Unmöglichkeit, Lebensphänomene tatsächlich wissenschaftlich auf physikalisch-chemische Phänomene zu reduzieren, wobei ihm das frühere Bild des Kosmos als Grundlage diente, schuf er sich im wissenschaftlichen Umfeld und unter gebildeten Leuten einen großen Anhang, um zu verkünden, daß dies früher oder später geschehen werde, ohne die Grundprinzipien, die als unerschütterlich galten, radikal zu ändern.
Man glaubte, daß sich Verstand und Bewußtsein, die herausragendsten Eigenschaften des Lebens, zusammen mit all den anderen physiologischen Prozessen auf physikalisch-chemische Vorgänge reduzieren ließen, die Teil der Struktur des Kosmos sind. Man dachte, daß alle philosophischen, künstlerischen und religiösen Äußerungen des menschlichen Bewußtseins ausnahmslos in Newtons wissenschaftlichen Rahmen des Universums enthalten seien.
Das philosophische Denken hat sich mit einer solchen Darstellung nie abgefunden; Philosophen und eine Vielzahl von Wissenschaftlern, die über die Grundlagen ihres Wissens nachgedacht haben, waren in ihrer Analyse zu dem Schluß gekommen, daß diese Darstellung nicht aus wissenschaftlicher Erkenntnis herrühre, sondern im Grunde eine reine Glaubensfrage sei, die sich auf philosophische und sogar metaphysische Darstellungen gründet.
Philosophische, der exakten Wissenschaft fremde Ansichten bilden die Grundlage für einen anderen wissenschaftlichen Erklärungsversuch, der darauf abzielt, sich über alle Widersprüche zu erheben, indem man Kräfte oder Energieformen oder eine für Lebensphänomene spezifische Entelechie annimmt, die der unbelebten Welt fremd sind.
Diese vitalistischen Darstellungen gingen auch nicht dauerhaft ins wissenschaftliche Denken ein, da sich ihre Wurzeln nicht im empirischen und exakten Material wissenschaftlicher Verallgemeinerungen und Fakten befinden, sondern mittels Denkgebäuden und philosophiefremder Forschungen in die Wissenschaft gelangten.
Nur auf Basis der Analyse des wissenschaftlichen Grundgehalts, wissenschaftlicher Fakten und der aus ihnen abgeleiteten Verallgemeinerungen, und nur auf diese sich stützend, war der Wissenschaftler gezwungen, zuzugeben, daß es keine reale Grundlage für den Glauben gab, die physikalisch-chemischen Phänomene des Newtonschen Weltbildes wären ausreichend tief und breit, um alle Phänomene des Lebens zu umfassen, und daß es gleichzeitig unmöglich wäre, aus ihnen bzw. ihrem empirischen Material vitalistische Darstellungen abzuleiten, die das Bild des Universums vervollständigt hätten.
Neben der logischen Analyse wissenschaftlicher Erkenntnisse und des wissenschaftlich aufgebauten Universums war es die Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahrhunderte, die ihm diese Überzeugung geben mußte.
Tatsächlich hat die Erklärung des Lebens mit Hilfe der gängigen Begriffsmodelle des wissenschaftlichen Universums in den letzten Jahrhunderten keinen Fortschritt gemacht. Wie zur Zeit Newtons tut sich die gleiche Kluft zwischen lebender und nichtlebender (abiotischer) Materie auf. Die Modelle und Denkgebäude physikalisch-chemischer Systeme des Newtonschen Kosmos haben es bis heute nicht vermocht, Bewußtsein, Verstand und logisches Denken wissenschaftlich zu erklären.
Der Wissenschaftler mußte weiter nach einem Ausweg aus diesen Widersprüchen suchen, entweder im philosophischen oder religiösen Denken oder im Wiederaufbau des wissenschaftlichen Universums, worin die in wissenschaftlichen Fakten und empirischen Verallgemeinerungen ausgedrückten Phänomene des Lebens sowie andere Äußerungen der Realität enthalten sein müssen.
IV. Trotz der allgemein verbreiteten Auffassung, die moderne wissenschaftliche Darstellung des Universums sei unveränderlich, und trotz ihrer im letzten Jahrhundert weit fortgeschrittenen Genauigkeit hat diese Darstellung in ihren Grundlagen weder genügend Belastbarkeit noch Autorität erlangt, als daß der Platz, den das Leben darin findet, als bewiesen betrachtet werden könnte, und der Wissenschaftler, der nur auf dem Boden wissenschaftlicher Erkenntnisse verbleibt, muß in seinem Stolz gedemütigt werden, sich unterordnen und die Unbedeutendheit und Nichtigkeit des Lebens im Kosmos anerkennen.
Das religiöse und philosophische Denken hat dem Leben im Universum einen ganz anderen Platz zugewiesen. Die philosophische Forschung entwickelte sich im Laufe von drei Jahrhunderten (und was für eine Entwicklung das war!) umgehend in die entgegengesetzte Richtung wie das wissenschaftliche Weltbild, während die religiösen Gedankengebäude unaufhörlich jene Elemente veränderten, die mit dem wissenschaftlichen Denken in Kollision gerieten.
Das Bewußtsein über die Lebensphänomene und deren außerordentliche Bedeutung im Kosmos vertiefte sich gleichzeitig in der Philosophie, in religiösen Werken und im Leben der Menschen.
Die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens in diesem geistigen Umfeld hat Schritt für Schritt und für die Zeitgenossen unmerklich den Glauben an die Möglichkeit angekratzt, die Phänomene des Lebens könnten in das wissenschaftliche Weltbild aufgenommen werden, ohne es radikal zu ändern.
Aber es gibt mehr. Die Veränderung in diese Richtung wurde zwangsläufig durch ein neues Phänomen
vorbereitet – die Entwicklung und neue Struktur der wissenschaftlichen Organisation der Menschheit.
Darum geht es im folgenden.
Nach dem glänzenden Erfolg, den die beschreibende Naturwissenschaft dem 18. und 19. Jahrhundert gebracht hatte, und nachdem in den gleichen Jahrhunderten präzise wissenschaftliche Methoden in den Bereich der Geisteswissenschaften eingezogen waren, nahm der Stellenwert, den das wissenschaftliche Weltbild im laufenden Wissensstand einnahm, mit fortschreitender Forschung immer weiter ab. Tatsächlich beschäftigte sich eine immer weiter abnehmende Zahl von Forschern mit dem Bild des Kosmos. Ein immer größerer Teil der beharrlichen Arbeit der Menschheit verlor seine Beziehung zu dem wissenschaftlich erzeugten Bild des Universums.
Das Gesicht der Wissenschaft hat sich in den zweieinhalb Jahrhunderten, die Newtons Principia philosophiae naturalis folgten, grundlegend gewandelt; ganz neue Wissenschaften entstanden, die es zuvor nicht gegeben hatte, und die allermeisten dieser neuen Wissenschaften standen mit der Untersuchung des Lebens und insbesondere des Menschen in Verbindung.
Es läßt sich nicht bezweifeln, daß mehr als 9 von 10 Wissenschaftlern in Bereichen arbeiten, die keine Verbindung mit dem Bild des Kosmos haben, welches fälschlich als Ergebnis der gesamten wissenschaftlichen Arbeit betrachtet wird.
Sie haben keinerlei Interesse an diesem Bild und begegnen ihm auch bei ihrer gesamten wissenschaftlichen Tätigkeit nicht. Veränderungen in diesem Bild tauchen in ihrem Wissensbereich nicht auf. Sie übergehen es völlig.
Dies zeigt sich beispielsweise auf erstaunliche Weise in der Geschichte der biologischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Die Theorie der Evolution der Arten, die in den Vorstellungen der letzten 70 Jahre und im gesamten Leben der Menschheit noch immer eine wichtige Rolle spielt, geht nicht in das wissenschaftliche Bild des Kosmos ein, da das Leben darin nicht vorkommt.
Die Geschichte der Evolutionstheorie ist von diesem Standpunkt noch nicht geschrieben worden, aber sie ist sehr eigenartig und erzeugt bei uns heute eine ganz andere Wirkung, welche sie damals nicht auf die Leute hatte, die an ihrer Entwicklung beteiligt waren. Sie belebte kosmogonische evolutionäre Darstellungen, befindet sich aber in lebhaftem Widerspruch zu den physikalisch-chemischen Forschungen in der Biologie. Ihre Übereinstimmung mit dem Newtonschen Kosmos, d. h. die Möglichkeit, sie völlig auf physikalisch-chemische Prinzipien zu reduzieren, die die Grundlage des Kosmos bilden, erschien immer zweifelhaft – vielleicht zweifelhafter zur Zeit von C. Darwin als in der Zeit danach. Jedenfalls übte sie einen großen Einfluß auf das wissenschaftliche Denken aus und paßte nicht in das wissenschaftliche Weltbild.
Im Moment stehen wir an einem Wendepunkt. Es ist möglich, daß sich die unbewußte Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit der letzten Jahrzehnte in eine Richtung bewegt, die den Glauben an die Möglichkeit zerstört, die Phänomene des Lebens auf die Parameter des Newtonschen Kosmos zu reduzieren.
V. Unbewußt wurde in der Psychologie der wissenschaftlich Tätigen hierfür der Boden bereitet, teilweise dadurch, daß man dem Fortschritt der Evolutionstheorie folgte, wie wir jetzt sehen werden.
Die Wissenschaft ist kein abstraktes, selbstgenügsames Gebilde, das unabhängig existiert. Sie ist eine Schöpfung des menschlichen Lebens und existiert auch nur in diesem Leben. Ihr Inhalt ist nicht durch Wissenschaftstheorien, durch Hypothesen oder durch Modelle des von ihr geschaffenen Weltbildes begrenzt. Ihr Inhalt besteht grundsätzlich aus wissenschaftlichen Fakten und ihren empirischen Verallgemeinerungen. Der wirkliche Inhalt der Wissenschaft ist die wissenschaftliche Arbeit lebender Individuen.
Diese lebenden Individuen, die wissenschaftlich Tätigen, begründen die Wissenschaft als soziales Phänomen: Ihre geistige Einstellung, ihr Können, ihre Auffassungsgabe und ihre Zufriedenheit mit der geleisteten Arbeit, ihr Wille – diese umfassende wissenschaftliche Einstellung – sind die wesentlichen Faktoren im historischen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis.
Die Wissenschaft ist eine komplexe soziale Schöpfung des Menschen, einzigartig und unvergleichlich mit irgendetwas anderem; sie hat einen viel universelleren Charakter als Literatur oder Kunst und hat wenig Beziehung zu den Lebensformen von Staat und Gesellschaft. Sie ist ein globales soziales Gebilde, da es auf der Kraft von Fakten und Verallgemeinerungen, die für die gesamte Welt gleich obligatorisch sind, ruht.
In keinem anderen geistigen Bereich menschlichen Lebens gibt es etwas Vergleichbares.
Die Wissenschaft besteht aus lebenden Personen, die diese universelle Verpflichtung verbindet.
Deswegen ist es keineswegs gleichgültig, wenn die grundlegenden theoretischen Ergebnisse ihrer Arbeit für die wissenschaftliche Arbeit der überwiegenden Zahl lebender Personen und Denker, die die Wissenschaft repräsentieren, fremd und beziehungslos sind.
Das sehen wir in der heutigen Zeit. Der Inhalt wissenschaftlicher Arbeit drückt sich größtenteils noch nicht einmal im wissenschaftlichen Bild der Natur aus.
Das kann nur deswegen so weitergehen, weil Wissenschaftler glauben, ihre Arbeit werde am Ende in das jetzige Wissenschaftsbild des Universums eingebunden und ihm nicht widersprechen; und dieser Glaube besteht fort. Viele Leute erwarten dies, beschäftigen sich mit ihrem Spezialbereich und sorgen sich nicht um die Zukunft. Wenn der Glaube verschwindet, wird sich den Forschern der Widerspruch zwischen dem Inhalt der Wissenschaft und dem Ergebnis ihrer Arbeit auftun und eine Lösung erfordern.
Die Wissenschaftler insgesamt können sich mit der religiösen oder philosophischen Lösung des Widerspruchs nicht abfinden. Sie werden eine wissenschaftliche Lösung suchen.
VI. Die Wissenschaft ist eine eigene Einheit, und alle ihre Fachgebiete sind ohne Ausnahme eng miteinander verbunden. Diese empirische Verallgemeinerung ist so strikt, daß sie sich durch den persönlichen Willen nicht ändern läßt.
Es gibt noch mehr. Um ein Beispiel aus einem anderen Lebensbereich zu übernehmen, kann man sagen, daß die Wissenschaft zutiefst demokratisch ist. Alle Arbeit, die im Bereich der Wissenschaft geleistet wird, ist im Grunde gleichwertig, denn sub specie aeternitatis [aus Sicht der Ewigkeit] enthält die Wissenschaft weder Wichtiges noch Unwichtiges: Ihre Anstrengungen führen alle zur gleichen, einzigartigen wissenschaftlichen Gattung, zum einzigartigen – und für alle ohne Ausnahme obligatorischen – wissenschaftlichen Begreifen der Umwelt.
Diese Überzeugung leitet auf grundlegendste und zwangsläufige Weise alle wissenschaftlich Tätigen.
Aber der Glaube an das, was die wissenschaftliche Arbeit der meisten Forscher hervorbringt, nämlich daß die Phänomene, die etwas mit der Untersuchung des Lebens zu tun haben, letztlich in das wissenschaftliche Weltbild eindringen, ohne daran grundsätzliche Änderungen zu erzeugen – dieser Glaube läßt in den Ansichten der Wissenschaftler unwiderruflich einen Wert entstehen, der in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen ganz unterschiedlich aussieht.
Dadurch entsteht eine heftige Instabilität in der wissenschaftlichen Organisation der Menschheit.
Die Ausgangsbehauptung, daß die mathematische, astronomische und physikalisch-chemische Wissenschaft ihrem Wesen nach allein eine Wirkung auf das Verständnis der Grundlagen des jetzigen wissenschaftlichen Weltbildes – Raum, Zeit, Materie, Energie – ausübt, diese Behauptung, die häufig geäußert wurde, aber nie wirklich in das wissenschaftliche Umfeld eingedrungen ist, kann nicht von Dauer sein.
Sie kann es nicht, weil es immer mehr Forscher gibt, die mit der Untersuchung von Lebensphänomenen beschäftigt sind, weil die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen immer stärkeren Einfluß auf das wissenschaftliche Denken gewinnt und ihre Arbeit für das wissenschaftliche Denken mehr Wert sei als der Bau des wissenschaftlichen Weltbildes. Die Geschichte evolutionärer Ideen des vorigen Jahrhunderts, die ich bereits erwähnt habe, ist aus dieser Sicht lehrreich.
Unter Naturforschern werden Zweifel laut, die es ihnen nicht erlaubt, der mathematischen, astronomischen und physikalisch-chemischen Wissenschaften eine Vorrangstellung einzuräumen, einen Vorrang, der durch die moderne Struktur des wissenschaftlichen Universums inspiriert ist.
Zwei Schlüsse müssen bei empiristischen Naturforschern zwangsläufig Zweifel aufkommen lassen.
Können denn die Lebenswissenschaften nicht die Grundvorstellungen des wissenschaftlichen Universums – die Vorstellungen von Raum, Zeit, Energie, Materie – radikal ändern? Und ist diese Liste der Grundelemente unseres wissenschaftlichen Denkens vollständig?
Kann der Naturforscher ernstlich zugeben, daß die Intelligenz des Homo sapiens faber die Endstufe der Artenevolution, der Höhepunkt geistiger Errungenschaft organisierter Wesen ist? Oder muß man nicht vielmehr annehmen, daß sich uns in der derzeitigen geologischen Epoche auf der Erde nur ein geistiger Übergangszustand des Lebens zeigt und es irgendwo im Kosmos höhere Ausdrucksformen in diesem Bereich gibt.
Ohne eine negative Antwort aus der Wissenschaft auf diese sich unausweichlich stellenden Fragen kann nur eine relativ begrenzte Zahl wissenschaftlich Tätiger das Zutrauen in die Realität des gegenwärtigen Weltbildes teilen.
Im übrigen leben Wissenschaftler nicht auf einer abgelegenen Insel. Große schöpferische menschliche Arbeit – fruchtbar in vielerlei Hinsicht – findet überall um sie herum in anderen geistigen Bereichen wie der Religion und vor allem der Philosophie statt, Arbeit, die der Wissenschaftsauffassung der letzten Jahrhunderte absolut zuwiderläuft.
All dies vertieft den Widerspruch, der zwischen wissenschaftlicher Arbeit und ihrem grundlegenden, offiziellen Ergebnis besteht.
Gegenwärtig fehlt der wissenschaftlichen Organisation der Menschheit die nötige Beständigkeit, und das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit ist im Bewußtsein der Wissenschaftler, deren Zahl stetig steigt, zunehmend von ihrem Inhalt getrennt.
VII. Sobald eine solche Unbeständigkeit im Hauptinstrument wissenschaftlicher Erkenntnis festgestellt wird, kann dies nicht von Dauer sein.
Dieser Zustand hat sich im letzten Jahrzehnt infolge eines neuen, überragenden Ereignisses plötzlich zu ändern begonnen – der radikalen Veränderung der Physik, teilweise der Astronomie.
Raum, Zeit, Materie und Energie unterscheiden sich für den Naturforscher des Jahres 1929 deutlich von Raum, Zeit, Materie und Energie des Naturforschers von 1900.
Sie unterscheiden sich nicht nur, sondern sie sind offensichtlich selbst in der deutlich veränderten Form, in der sie derzeit in Erscheinung treten, für den wissenschaftlichen Aufbau des Kosmos nicht von Nutzen. Neue Ideen ziehen in die Physik ein, welche notwendigerweise die Aufmerksamkeit der Physiker auf die Phänomene des Lebens lenken. Denn es ist tatsächlich so, daß sich diese neuen Ideen in lebenden Phänomenen deutlicher ausdrücken als in den normalen Untersuchungsgegenständen der Physik. Diese Merkmale, diese Elemente des Gedankengebäudes, die im wissenschaftlichen Bild des Universums vernachlässigt werden und dessen Newtonsche Form ändern, lassen sich offenbar weder verstehen noch untersuchen, solange man nicht in der einen oder anderen Form die Lebenswissenschaften in das Bild des Universums einführt.
Es ist gleichzeitig seltsam, daß die Merkmale des Lebens, denen die Biologen heute wenig Beachtung schenken, unter den Lebensphänomenen ganz vorne rangieren.
Mir scheint, daß der tiefe und zunehmende Wandel, der sich in den Lebenswissenschaften unter dem Einfluß der Krise in der Physik abspielt, hierdurch deutlich wird.
Bevor ich mit dem Problem der Grundvorstellungen des Lebens fortfahre, welches jetzt im Zusammenhang mit der Krise im historischen Fortschritt der Physik Aufmerksamkeit und Präzisierung verlangt, möchte ich einige Worte über die charakteristischen Merkmale dieser Krise sagen.
VIII. Da ich mich nicht im einzelnen mit den Änderungen in den Grundbegriffen der Physik befassen kann, die sich vor unseren Augen abspielen, möchte ich mich mit einigen Problemen im sich entfaltenden historischen Prozeß beschäftigen, die mir in der weiteren Darstellung notwendig erscheinen.
Das Wichtigste ist die völlige Veränderung unserer Vorstellungen von Raum, Zeit, Schwerkraft, Energie, Materie. Die universelle Schwerkraft, die unmittelbar auf jede denkbare Entfernung wirkt, ist spurlos aus unserem Denken verschwunden. Raum und Zeit sind untrennbar, und um physikalische Phänomene zu verstehen, ist man gezwungen, geometrisch einen Raum von nicht drei, sondern vier Dimensionen zu verwenden. Die Grenze, die Energie von Materie trennt, verschwindet. Energie verbreitet sich in genau festgelegten Sprüngen – Quanten.
Der Umschwung von Meinungen und Darstellungen erfolgte mit großer Schnelligkeit und voller Unstetigkeit. Zu Beginn dieses Jahrhunderts dachten die Physiker noch ganz anders als wir heute. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor über 20 Jahren mit P. N. Lebedew, dem hervorragenden russischen Physiker, führte, der mir sagte, daß er nur über den Äther mit Sicherheit sprechen könne. Das war zu der Zeit, als der Begriff des Elektrons in die Physik eingeführt wurde. Gegenwärtig versuchen die Physiker, noch nicht einmal mehr über den Äther zu sprechen, und einige zweifeln seine Existenz selbst an.
Derzeit, zu Beginn des Jahrhunderts, scheinen neben dem Äther dynamische Darstellungen von Materie und Energie in Blüte zu stehen. Bestimmte Wissenschaftler von großer Gelehrsamkeit, die auch philosophisch belesen sind, wie zum Beispiel W. Ostwald sen., betrachteten die atomistische Darstellung von Materie als endgültig begraben. Es wurde auch versucht, die Chemie davon zu befreien (Wald).4 Es zeigt sich, daß die Zeitgenossen den Prozeß wissenschaftlichen Denkens, der mit ihrer Beteiligung entstanden ist, nicht verstanden haben.
In zwei, drei Jahren erzielte die atomistische Darstellung einen beispiellosen Erfolg und wurde vorherrschend. Von da an waren es nur ein oder zwei Jahre, bis man häufig behaupten hörte, daß nunmehr die Existenz des Atoms wirklich bewiesen und daß die Atomtheorie der Materie keine Theorie mehr, sondern ein Naturphänomen sei, das man wahrnehmen könnte. Die Bohr-Rutherfordsche Atomtheorie schien für immer vorherrschend zu sein. Nun aber kam diese Vorherrschaft an ihr Ende. Heute beginnt das Atom aus unserem Denken zu verschwinden, man spricht von der Wellentheorie der Materie einerseits und andererseits von der Unmöglichkeit, in Bereichen der Physik, die sich mit der Physik des Atoms oder noch kleinerer Teilchen beschäftigt, Phänomene auf Bewegungszustände von Punkten zu reduzieren. Je genauer man die Bewegungsgeschwindigkeit von Teilchen bestimmen kann, desto ungenauer wird die Bestimmung von deren geometrischer Position. Die Gesetze der Mechanik für die Bewegung von Punkten lassen sich auf diese Phänomene nicht mit genügender Genauigkeit anwenden.
Die alten dynamischen Darstellungen leben in neuer Form wieder auf, welche der alten so fremd ist wie die Atomphysik des 20. Jahrhunderts zu der von Gassendi.
Die Veränderung in den Meinungen kam sehr abrupt; es gibt keine allgemein anerkannte Beständigkeit mehr, und wir werden wahrscheinlich sehr lange mit der Gärung von Ideen leben, welche den derzeitigen Zustand der Physik kennzeichnet. Genau diese Gärung wird die angrenzenden Wissenschaften beeinflussen.
In physikalisch-chemischen Phänomenen, wie sie die Wissenschaftstheorie nach dem Newtonschen Weltbild annimmt, welches zu Beginn dieses Jahrhunderts vorherrschte, gab es keinen Platz für irreversible Prozesse. Alle natürlichen Prozesse in diesem Zusammenhang galten praktisch als reversibel. Dieses Prinzip bildete die Grundlage der wissenschaftlichen Darstellung des Kosmos im 19. Jahrhundert. Im Fall, wo ihr Effekt irreversibel zu sein schien, nahm man nur eine scheinbare Irreversibilität an und ging von der Idee eines absurd langsam ablaufenden reversiblen Prozesses aus, wodurch man sich gewöhnlich mehr oder weniger gut aus allen Schwierigkeiten herausziehen konnte, die sich durch Experiment oder Beobachtung ergaben. Heute spielen irreversible Prozesse eine andere Rolle in der Physik – eine wahrscheinlich sehr wichtige Rolle. Diese Annahme ist für die Probleme, mit denen wir uns beschäftigen, von großer Bedeutung. Alle Schlüsse sind noch nicht gezogen worden. Es ist möglich, daß irreversible Prozesse im Universum vorherrschend sind, da sie das Wesen der Phänomene in der Molekularphysik, in der Physik mikroskopischer Phänomene, bei den Phänomenen von Wärme und Strahlungsenergie sowie des Lichtes auszumachen scheinen.
Nicht weniger wichtig ist die Unterscheidung der Statistikgesetze und der Gesetze, die die Elemente physikalischer Prozesse selbst behandeln. Ich habe bereits die Atome erwähnt, die diesen entsprechen, und die Besonderheiten, die Gesetze der Punktbewegung auf diese anzuwenden.
Das ist ein Phänomen, das allen – nach der heutigen Ausdrucksweise molekularen oder mikroskopischen – Prozessen in der inneren Struktur des Universums gemein ist, und zwar für Regionen, in die die hypothetische universelle Schwerkraft noch nie vordringen konnte. In diesem Fall scheint das Kausalitätsgesetz im üblichen Sinn nicht mehr anwendbar zu sein oder nicht wirklich zu gelten. Das Kausalitätsgesetz ist aber das A und O des Newtonschen Weltbildes. Die Idee, auf der es basiert, wurde von Laplace verdeutlicht, indem er die Möglichkeit einräumte, daß sich das Universum in eine einzige Formel fassen ließe, deren Lösung die Berechnung der Planetenbewegungen, der Entwicklung des Denkens, der Bewegung von Schilfrohren und der Zustandsänderung von Spiralnebeln erlaube.5 In der modernen Physik verschwand ein solcher Determinismus für eine bestimmte Kategorie physikalischer Phänomene. Nicht von ungefähr sind einige Physiker der Auffassung, daß dies nicht nur eine Analogie zum biologischen Individuum, sondern ein Phänomen der gleichen logischen Kategorie ist. Im besten Fall werden die unvorhersehbaren Koeffizienten aus quantitativer Sicht Teil der klassischen Laplaceschen Formel.
In der Natur gibt es nichts Großes und nichts Kleines. Wenn man eine Abweichung in der Kausalitätswirkung zuläßt – beispielsweise die Unmöglichkeit, alles mit den Bewegungsgesetzen auszudrücken –, ist man unweigerlich gezwungen, auch in anderen Fällen das gleiche Zugeständnis zu machen.
Die Analogien zwischen dem unendlich Kleinen der molekularen Welt und den riesigen Körpern und Räumen der Sternenwelt sind zahlreich und real. Man muß diese Richtigstellung immer im Blick haben.
Durch Vermittlung ihrer zahlreichen Repräsentanten beginnt die Neue Physik heute das Prinzip zu übernehmen, welches die Sicht eines unendlichen Kosmos, die Bruno in das heutige Verständnis des Universums hat eingehen lassen, direkt an der Wurzel zerstört. Die Idee einer möglichen Begrenzung des Kosmos, der Endlichkeit seines Raumes, beginnt in neuem Gewand in wis- senschaftliche Darstellun- gen aufgenommen zu wer- den. Die Dimensionen des Kosmos sind gewiß riesengroß. Sein Volumen hat einen Radius von nicht weniger als 1017–1018 km, d. h. von Trillionen Kilometern, doch die Bedeutung hiervon liegt nicht in den Dimensionen, sondern darin, daß das Volumen der Welt Grenzen hat, begrenzt ist. Darin liegt ihre immense Bedeutung. Wir sind dadurch dem Mittelalter Dantes mit seinem begrenzten Universum sehr viel näher als dem unendlichen Raum der Wissenschaftler des 16. bis 19. Jahrhunderts.6
Die Veränderung geht noch weiter. Wir nähern uns deutlich dem Unterschied zwischen physikalischem und geometrischem Raum. Das Symmetrieprinzip beginnt in die Physik einzuziehen. Man kann beispielsweise nicht anders das Problem verstehen, das sich kürzlich bei der experimentellen Untersuchung über die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes stellte: Ist sie in beiden Richtungen der gleichen Strecke identisch?7
Sicher werden nicht alle diese neuen Erkenntnisse und Wagnisse in der Wissenschaft weiterbestehen; wichtig dabei ist, daß die alte Newtonsche Darstellung des Universums einen Riß bekommen hat, seine wissenschaftliche Gewißheit ist erschüttert und eine durch diesen Riß ausgelöste endlose und ständig wachsende Menge neuer Darstellungen wird zu einer noch schnelleren Öffnung führen.
Die wissenschaftliche Darstellung des Universums, die auf universeller Gravitation und den physikalisch- chemischen Phänomenen gründet, über die wir gesprochen haben und über die seit etwa drei Jahrhunderten nachgedacht wird – muß in sich zusammenstürzen.
Das wissenschaftliche Weltbild, das auf universeller Gravitation und auf der Möglichkeit basiert, alle Teilchenbewegungen durch reversible Prozesse, durch einen strengen vorausberechneten Determinismus wissenschaftlich auszudrücken, dieses Bild wandelt sich und entspricht nicht mehr den Tatsachen. Das Individuum beginnt in die Welt der physikalischen Phänomene einzudringen.
Die Elemente des Kosmos, die seine Existenz ausmachen, haben im mikroskopischen Querschnitt betrachtet möglicherweise weitgehende Analogien mit Lebewesen und Individuen.
Die Naturordnung ist anders, als man geglaubt hat. Die gesamte Umwelt auf schon Gedachtes zu reduzieren, erweist sich letztlich als zu vereinfacht und vage.
IX. Diese radikale Veränderung grundlegender physikalischer Darstellungen muß zwangsläufig eine deutliche Wirkung auf die Stellung lebender Phänomene im Gebäude des wissenschaftlichen Universums
Wernadskij verweist auf Dante, der schon sehr früh die Idee eines begrenzten Universums vertrat. haben, denn eine Vielzahl von Arbeiten in der neuen Physik sind keineswegs mit soviel Klarheit ausgedrückt wie in den Lebensphänomenen. Ein Beispiel hierfür ist der zeitlich irreversible Charakter physikalisch-chemischer Prozesse, die man in lebenden Organismen beobachtet. Der irreversible zeitliche Zyklus der Phänomene kennzeichnet Leben in einer Weise, die in der uns umgebenden anorganischen Natur unbekannt ist. Irreversibilität kennzeichnet das individuelle Leben und drückt sich für uns eindeutig in seinem Tod aus. Irreversibilität drückt sich nicht weniger deutlich bei der Artenevolution im Verlauf der geologischen Zeit aus; und der irreversible Evolutionsprozeß, dessen Richtung auf die gleiche, besondere Weise bestimmt ist, läßt sich seit dem Algonkum8 bis heute verfolgen.
Das war sicherlich seit langem bekannt, aber man maß ihm nicht viel Bedeutung bei, auch wenn man diese Widersprüchlichkeit so begriff, daß es möglich sei, Lebensphänomene auf physikalisch-chemische Prozesse zu reduzieren, die im Newtonschen Universum zulässig seien. Daran zeigt sich sehr deutlich die mangelnde Tiefe unserer logischen Analyse im wissenschaftlichen Denken; was aber angesichts der Komplexität des Kosmos und der Unzulänglichkeit der wissenschaftlichen Instrumente, die uns beim Vordringen ins Unbekannte dienen, vielleicht unvermeidlich ist.
Die Phänomene des Lebens, der Radioaktivität und die Prozesse im Inneren der Sterne sind wahrscheinlich der deutlichste Ausdruck irreversibler Prozesse in unserer Umwelt. Am deutlichsten äußert sich diese Art Prozeß aber in den Lebensphänomenen.
Allerdings ist dieser so deutliche Ausdruck physikalischer Naturerscheinungen in Lebensprozessen, der absolut kosmisch ist, weder zufällig noch einzigartig.
Den gleichen Umstand beobachtet man in den Eigenschaften des Raumes; er läßt sich auch in energetischen Prozessen, in den Eigenschaften der Materie, aus der lebende Materie besteht, feststellen.
Diese Rückwirkung des Lebens auf die Grundbegriffe der Weltordnung zwingt uns, die Phänomene des Lebens in das Universum der neuen Physik einzuführen.
Angesichts der Einheit alles Lebenden, des Lebens, kann man nicht wissen, bis wohin die Phänomene des Lebens in den wissenschaftlich aufgebauten Kosmos vordringen. Diesbezüglich wird die Zukunft noch voll großer Überraschungen sein.
Allerdings muß man diesen Prozeß, dessen Fortschreiten mir unumgänglich erscheint, auf Grundlage wissenschaftlicher Konzepte des Lebens angehen.
Es ist wichtig, auf die Phänomene des Lebens zu achten, deren Einzug in das Wissenschaftsgebäude des Universums bereits wahrscheinlich zu werden beginnt.
Wir nähern uns einer sehr verantwortungsvollen Zeit – mit radikalen Veränderungen in unserer Konzeption des wissenschaftlichen Universums.
Diese Veränderung wird in ihren Folgen wahrscheinlich nicht weniger bedeutsam sein als jene zur Zeit der Entstehung des von Materie und Energie durchdrungenen Kosmos, basierend auf universeller Gravitation, unendlicher Zeit und unendlichem Raum.
Diese Veränderung wird uns den Widerspruch überwinden lassen, der zwischen Leben und wissenschaftlicher Schöpfung einerseits und dem wissenschaftlich aufgebauten Kosmos andererseits besteht, ein Widerspruch, der sich gerade im 16. bis 19. Jahrhundert zeigte, der Zeit, als das Konzept des Newtonschen Universums geschaffen und entwickelt wurde. Das war im übrigen das Newtonsche Weltbild ohne Newton, in dem die Korrekturen eines gläubigen Christen vorgenommen wurden.9
Heute scheint sich uns die Möglichkeit zu eröffnen, den Widerspruch ausschließlich in den Grenzen der Wissenschaft zu bewältigen.
X. Es besteht kein Zweifel, daß uns Leben im wissenschaftlichen Weltbild in unerwarteter Form erscheint. Alle in der Physik und Chemie untersuchten Phänomene zeigen sich dort in anderer Form, als sie sich unseren Sinnesorganen darstellen.
Befassen wir uns etwas genauer mit einigen Lebensphänomenen, die aufgrund von Veränderungen, die derzeit in der Physik stattfinden, der Aufmerksamkeit bedürfen.
Ich bin kein Biologe und betrachte Lebensphänomene aus einer anderen Sicht, als sie in der Biologie üblich ist – ihrer Wirkung auf das kosmische Umfeld ihres Lebens. Claude Bernard, einer der größten Biologen des vergangenen Jahrhunderts, hat immer diesen Ausdruck – kosmisches Umfeld – benutzt, wenn er von Leben sprach. Er verstand offenbar, daß Leben kein unbedeutendes irdisches Phänomen, sondern ein kosmischer Ausdruck ist.
Eine Vielzahl erwähnenswerter Lebensäußerungen lassen sich in diesem Bereich feststellen, von denen einige einen planetaren Charakter haben, also mit der Erde verbunden sind, während andere offenbar die Grenzen planetaren Seins überschreiten und damit die allgemeinere Situation des Lebens im Kosmos aufzeigen.
Unter den planetaren Lebenseigenschaften sind zu nennen:
- Lebende Materie wird auf unserem Planeten durch die kosmische Energie der Sonne erzeugt und erhalten. Sie bildet dort einen integralen Bestandteil der oberen Geosphäre, der Biosphäre, die ein unauflöslicher Teil ihres Mechanismus ist.
- Die Sonnenenergie wird allmählich über die lebende Materie bis in die tiefsten Teile des Planeten, seine Kruste, transportiert.
- Die Menge von Materie in der Biosphäre, die von Leben durchdrungen ist, ist eine konstante Größe oder nahezu beständig über die geologische Zeit hinweg.10
- Lebende Materie tritt im Laufe der gesamten geologischen Zeit gleichmäßig in die geochemischen Kreisläufe der chemischen Elemente in der Erdkruste ein, und spielt dort eine sehr wichtige Rolle. Auf diese Weise liefert die lebende Materie eine bestimmte geochemische Energie für die Wanderung irdischer chemischer Elemente, Energie, deren Hauptquelle vor allem die Sonne ist.
- Lebende Materie steht in einem ständigen chemischen Austausch mit der sie umgebenden kosmischen Umwelt, wird dort aber nicht spontan erzeugt. Diese lebende Materie bildet während der gesamten geologischen Zeit eine besondere, genetisch verbundene, aber von der kosmischen Umwelt deutlich getrennte Einheit.
- Biogene geochemische Energie strebt in der Biosphäre zu ihrem Höchstwert (erstes biogeochemisches Prinzip).
- Während der Evolution der Arten erhöhen die Organismen durch ihr Leben die biogene geochemische Energie, die weiterlebt (zweites biogeochemisches Prinzip).
- Während der Evolution der Arten bleibt die chemische Zusammensetzung der lebenden Materie konstant, aber die biogene geochemische Energie, die von lebender Materie in der kosmischen Umgebung geliefert wird, nimmt zu.
- Mit dem Erscheinen des Menschen in der Biosphäre hat sich entsprechend dem zweiten biogeochemischen Prinzip die Wirkung des Lebens auf unseren Planeten infolge der menschlichen Intelligenz auf eine Weise geändert und entwickelt, daß man in der Geschichte unseres Planeten von einem besonderen Psychozoikum sprechen kann – entsprechend anderen geologischen Epochen, in denen es auf der Erde zu Änderungen in der belebten Natur kam, so wie beispielsweise während des Kambriums oder des Oligozäns. Mit dem Erscheinen eines mit Intelligenz begabten Lebewesens auf unserem Planeten ist dieser in eine andere Phase seiner Geschichte eingetreten.
Mehr noch, wir gehen hier sichtbar über die Grenzen des Planeten hinaus, denn alles deutet darauf hin, daß wir mit dem Fortgang der geochemischen Wirkung der Intelligenz, des Lebens der zivilisierten Menschheit, die Grenzen des Planeten überschreiten.
Man sieht hierin eine Äußerung des Lebens, die zwar auf unserem Planeten stattfindet, aber auf Eigenschaften von Lebewesen hindeutet, die offenbar nicht von diesem begrenzt sind. Halten wir einige der grundlegendsten Äußerungen des Lebens fest:
- Die menschliche Intelligenz und die von ihr ausgehenden Lebensaktivitäten verändern den Lauf natürlicher Prozesse auf gleiche Weise, wie sich die anderen uns bekannten Ausdrucksformen der Energie ändern, doch die Änderung erfolgt auf eine neue Art.
- Diese Aktivität wird vom zweiten biogeochemischen Prinzip geregelt, d. h. sie neigt zu maximaler Ausdrucksform [biogeochemischer Energie].
- Auf der Erde wurde nie die Bildung eines Lebewesens aus unbelebter Materie ohne die Beteiligung eines anderen Lebewesens beobachtet (das Prinzip von F. Redi – irreversibler Prozeß).
- Lebewesen stellen autonome Systeme dar, die im kosmischen Umfeld ein Volumen (thermodynamische Felder) erzeugen, dessen Temperatur und Druck für sie spezifisch sind, und die sie so von ihrer Umwelt unterscheiden.
- Lebewesen können im Umfeld molekularer Kräfte leben, bei denen die Gravitationsgesetze nicht gelten, wie auch in einer Umwelt, wo diese Gesetze bestimmend sind. Ihre kleinsten Ausmaße erreichen 10-6 cm und dringen damit in den molekularen Bereich vor.
- Je kleiner ein Lebewesen und je intensiver seine geochemische Energie ist, desto schneller erzeugt es neue Organismen. Diese Erzeugungs-(Teilungs-)Geschwindigkeit hat bestimmte Obergrenzen. Ich möchte sie biologisches Zeitelement nennen. Ich werde auf dieses Phänomen wieder zurückkommen.
- Das Leben eines Organismus ist ein irreversibler Prozeß, der früher oder später mit dem Tod endet. Sämtliche lebende Materie, die die Biosphäre durchdringt, ist insgesamt ein irreversibler Prozeß in der geologischen Zeit und in der Generationenfolge; man beobachtet weder einen Anfang noch ein Ende dieses Prozesses, und es kann sein, daß es sie nicht gibt.
- Durch das Leben entsteht in der kosmischen Umgebung keine Abnahme, sondern eine Zunahme freier Energie. In diesem Fall verläuft das Leben dem Entropiegesetz zuwider. Nur wenige andere physikalische Phänomene im Kosmos befinden sich aus dieser Sicht mit dem Leben auf einer Stufe, wie zum Beispiel radioaktive Körper. Aber die Ursache dieses Phänomens ist in lebender Materie eine ganz andere.
- Das thermodynamische Feld des lebenden Organismus besitzt im Gegensatz zu den Eigenschaften des kosmischen Umfelds eine deutliche Dissymmetrie. Wir kennen nichts entsprechendes bei anderen Naturkörpern auf der Erde. Die Dissymmetrie drückt sich hierbei wie bei dem besonderen Symmetriemerkmal des von lebender Materie besetzten Raums aus, worin es deutlich ausgedrückte polare, enantiomorphe Vektoren gibt, aber es fehlt vor allem eine ausgeprägte Konformität, die die rechtshändigen von den linkshändigen Phänomen unterscheidet (Verallgemeinerung von Pasteur).
- Die Aktivität von Lebewesen, zumindest von deren höchstentwickelten Formen, ist kein rein mechanischer Prozeß, der sich berechnen läßt. Diese Aktivität ist individuell und bei unterschiedlichen Einzelwesen voneinander abweichend. Der Grad ihrer Handlungsfreiheit ist nicht klar, aber sie ist in jedem Fall unterschiedlich und läßt sich immer ermitteln.
XI. Diese Liste ist nicht vollständig, aber sie zeigt nachweislich, daß sich Leben im Kosmos in anderen Formen äußert, als gewöhnlich von der Biologie dargestellt.
Wichtig vom Standpunkt des wissenschaftlichen Weltbildes ist, daß die Erforschung des Lebens Merkmale in der Struktur des Kosmos zeigt, die in anderen wissenschaftlich untersuchten Phänomenen völlig fehlen oder nur sehr schwach oder undeutlich ausgedrückt sind. Somit verändert nur die Erforschung des Lebens das wissenschaftliche Weltbild, das ohne dessen Beitrag entstanden war, und deckt neue Züge von ihm auf. Dadurch ändert sich vor allem die Darstellung von Raum, Zeit, Energie und anderer Grundelemente der Struktur der Welt.
Ich möchte mich hier mit zwei Phänomenen befassen, die die wichtige Rolle zu klären erlaubt, welche die Erforschung des Lebens in dem von der neuen Physik geschaffenen wissenschaftlichen Weltbild spielt – besonders mit Blick auf die Dissymmetrie des Raums von Lebewesen und die biologische Zeit.
Im ersten Fall handelt es sich um neue Eigenschaften, die man bei lebenden Organismen beobachtet (ein besonderer Zustand des physikalischen Raums), und im zweiten Fall um neue Eigenschaften der physikalischen Zeit.
Die Dissymmetrie lebender Materie wurde vor über 80 Jahren – 1848 – von einem der größten Wissenschaftler des letzten Jahrhunderts, Louis Pasteur, entdeckt, der die volle Bedeutung hiervon für die Struktur des wissenschaftlichen Universums aufklärte. Pasteur stellte sich Dissymmetrie als ein kosmisches Phänomen vor und zog daraus sehr wichtige Schlüsse für das Verständnis des Lebens. Seinen Arbeiten muß die Neue Physik heute größte Aufmerksamkeit widmen. Er griff diese Ideen mehrmals auf und vertiefte sie immer mehr. Letztmalig kehrte er 1883, vor 46 Jahren, in entwickelterer Form zu ihnen zurück und bedauerte, experimentell nicht tiefer eindringen zu können; er betrachtete diese Entdeckung als die wichtigste Arbeit seines Lebens, als sein tiefstes geistiges Eindringen in die Probleme der Wissenschaft.
Seine Ideen hatten ein merkwürdiges Schicksal; die Hauptidee, die Pasteur aufzeigte, ist bis heute nicht in das wissenschaftliche Denken eingedrungen. Chemiker haben sie in der Öffentlichkeit grundsätzlich angezweifelt.
Meiner Ansicht nach beruht dies auf dem Umstand, daß der Begriff der Dissymmetrie, auf den sich Pasteur stützte, in der Chemie nie in ganzem Umfang berücksichtigt wurde, und daß seine Zeitgenossen diesen Begriff nicht richtig verstanden haben.
Er wurde 1894 von einem anderen brillanten Franzosen, Pierre Curie, einer gründlichen Analyse unterzogen. P. Curie hat seine Ideen außerordentlich genau formuliert, was sie abstrakt erscheinen lassen könnte, aber sein Hauptlehrsatz – über Dissymmetrie – läßt keinen Zweifel aufkommen und ist für den Naturforscher in seiner konkreten Bedeutung eindeutig. Er lautet: „Die Elemente der Symmetrie der Ursachen müssen in den Wirkungen gefunden werden, und die Elemente der Dissymmetrie der Wirkungen müssen in den Ursachen gefunden werden.”
Curies Prinzip entscheidet diese Auseinandersetzung unwiderruflich zugunsten von Pasteur, als er forderte, daß die die Ursachen der Dissymmetrie von Naturkörpern in den Lebensphänomenen erforscht werden müßten.
Das Schicksal von Curies Arbeit entsprach in diesem Bereich dem von Pasteur. Durch die Entdeckung der Radioaktivität an der Weiterarbeit gehindert, kehrte er erst vor 23 Jahren, kurz vor seinem Tod 1906, zu seiner Arbeit über Symmetrie zurück. Nach seinen Tagebucheinträgen zu urteilen, war er in diesem Bereich zu großen Verallgemeinerungen gelangt. Nach seinem Tod – er wurde auf einer Pariser Straße von einer Droschke überfahren – nahm niemand den von ihm hinterlassenen Faden auf, so daß die weitere physikalische Analyse des Symmetrieprinzips unterblieb, eine Analyse, die uns heute besonders beschäftigt.
Das Kraut der Vergessenheit überwucherte den von Pasteur und Curie eingeschlagenen Weg. Mir scheint, daß die heutige wissenschaftliche Arbeit genau auf diesem Weg fortgesetzt werden muß.
Es ist jetzt sechs Jahre her, als der hervorragende holländische Chemiker F. Jaeger, der sich tief in das Phänomen der Symmetrie hineingearbeitet hat, die Chemiker aufgefordert hatte, zu den Ideen Pasteurs zurückzukehren. Sein Aufruf stieß nur auf schwachen Widerhall.
Seither ist es aufgrund der wissenschaftliche Entwicklung jedoch noch dringlicher geworden, diesen Weg weiterzuverfolgen und zu Pasteur und P. Curie zurückzukehren, der dessen Ideen vertieft hat.
XII. Die Phänomene der Symmetrie sind vom philosophischen und wissenschaftlichen Denken bisher nicht ausreichend erfaßt worden. Sie ist zweifellos der profundeste und zentrale Begriff, der unbewußt unsere gesamte Vorstellung des Universums durchzieht.
Die Revolution, die in der Physik stattfindet, und die zwangsläufig damit verbundene Entwicklung bio-logischer Ideen stellt meines Erachtens das Gebot der Stunde dar, um das Symmetrieprinzip zu vertiefen und zu klären.
Der ernsthafteste, jedoch nicht ganz zuende geführte Versuch, Symmetrie zu studieren, wurde von P. Curie unternommen, der Symmetrie im Grunde als Zustand des Raumes, das heißt als Struktur des physikalischen Raumes betrachtete. Diese Feststellung muß im Augenblick auch für die Analyse der physikalischen Zeit herangezogen werden, denn in Naturprozessen sind „Raum und Zeit” untrennbar.
Man könnte die philosophische und mathematische Analyse der Symmetrielehre gründlicher fortsetzen, doch für unser Problem und wenn man im empirischen Universum des Naturforschers bleibt, ist dieses breite und reale Symmetriekonzept ausreichend.
Die Phänomene der Symmetrie generell haben erst im 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Physiker auf sich gezogen, als die enorme Bedeutung der Kristallographie mit allen ihren Zweigen im Bereich der Naturwissenschaften abschließend geklärt wurde.
Über die Kristallographie und Mineralogie ist die Symmetrielehre in die Physik eingezogen. Selbst die sehr mathematischen Teile dieser Lehre wurden von Mineralogen mit großer Genauigkeit und Tiefe erarbeitet, wobei sie immer zuerst ihre eigenen Probleme, die Probleme der Kristallographie, betrachteten. Ihre Erkenntnisse waren offenbar für die Physik unzureichend, wie Curie bewiesen hat.
Sie sind in ihrer jetzigen Form auch für die Phänomene des Lebens unzureichend, die historisch den Begriff der Symmetrie erst haben entstehen lassen. Denn dieser Begriff hat seinen Ursprung in der Arbeit von Bildhauern, die lebende Objekte gestalteten. Die alten Griechen schrieben die erste Formulierung des Symmetriebegriffs im Zusammenhang mit der Darstellung des menschlichen Körpers dem Bildhauer Pythagoras von Rhegium zu, der vor über 2400 Jahren lebte. Später machte einer der Begründer der mineralogischen Symmetrielehre, der sonderliche französische Forscher A. Bravais, die Pflanzensymmetrie zum Ausgangspunkt seiner Arbeiten und schuf eine Symmetrielehre basierend auf Pflanzen, Mineralien und geometrischen Polyedern.
Doch während die Erforschung natürlicher Kristalle im Lichte der Symmetrielehre aufblühte, blieb die Anwendung der Symmetrie auf lebende Objekte, denen sie ihren Ursprung verdankte, und auf physikalische Phänomene stets sporadisch und abgehoben.
Das wirkte sich auf die Stellung der Symmetrielehre in der gegenwärtigen Wissenschaftsorganisation aus. Die Symmetrielehre ist in der Regel mit der Mineralogie und deren Nachbarwissenschaften verbunden und nimmt weder in der Physik noch in der Biologie den Platz ein, der ihr gebührt.
Dies zeigt sich an der mangelnden Darstellungsgenauigkeit der Symmetrie, die weder für die Kristallographie noch für die Mineralogie besonders wichtig ist, und vor allem am Begriff der Dissymmetrie, deren Bedeutung für die Biologie von L. Pasteur und für die Physik von P. Curie festgestellt wurde.
XIII. Der Begriff Dissymmetrie bezeichnet unterschiedliche Phänomene. Bei lebenden Körpern beispielsweise lassen sich zwei derartige Phänomene aufzeigen, die dort gleichzeitig auftreten und doch unabhängig sind. Eines dieser Phänomene steht im Zusammenhang mit der Symmetrielehre, das andere keineswegs, kann aber nur auf deren Grundlage untersucht werden.
Bei der Entwicklung seiner umfangreichen empirischen Verallgemeinerung stellte Pasteur im Raumzustand lebender Organismen beide Phänomene gleichzeitig fest.
Zu seiner Zeit entsprach sogar der Symmetriebegriff selbst nicht der heutigen Lehre.
J. Hessel11 hatte zwar schon 15 Jahre vor Pasteur in allgemeiner Form das Problem der Symmetrie für Kristalle gelöst, doch seine Arbeit erfuhr nicht viel Aufmerksamkeit, und er befaßte sich erst 30 Jahre später, weit nach den Entdeckungen Pasteurs, mit Fragen des Lebens. Pasteur hatte Holoedrie noch nicht mit Hemiedrie in Verbindung gebracht, wie wir es heute tun.12 Ihm war noch nicht bewußt, daß die optischen Eigenschaften und die kristallinen Eigenschaften stets unterschiedliche Ausdrucksformen des gleichen Phänomens – des Phänomens der Symmetrie – sind, wovon wir heute ausgehen.13 Er fand diesen Zusammenhang in einem besonderen Fall und entwickelte auf dieser Grundlage seine Terminologie, die nicht in den späteren Sprachgebrauch übernommen wurde und selbst in seinem eigenen Land – Frankreich – nur selten verwendet wird. Man findet die gleiche Terminologie in allgemeinerer Form bei Curie genauer bezeichnet, die er aber nicht benennt.
Bei seiner Untersuchung der kristallinen Formen organischer Verbindungen, die sich in Lebewesen finden oder von ihnen freigesetzt werden, bemerkte Pasteur eine Abnahme ihrer Symmetrie und das Erscheinen von linken und rechten Formen, wenn die racemische Lösung in ihre linken und rechten Antipoden aufgeteilt wurde. Er nannte dieses Phänomen Dissymmetrie, d. h. eine Verletzung der Symmetrie, denn in bezug auf die Polyeder racemischer Verbindungen drückte sich die Verletzung der Symmetrie als regelmäßiges Fehlen rechter bzw. linker Flächen der Antipoden aus. Er stellte fest, daß die so gebildeten Polyeder ihre Symmetriezentren und -ebenen verlieren, wohingegen die Ausgangspolyeder der racemischen Lösung, durch deren Trennung die rechten und linken Antipoden entstanden, Symmetriezentren und -ebenen besaßen.
Gleichzeitig bewies er, daß, während die racemischen Polyeder in der Lösung optisch inert waren, die Lösung ihrer Antipoden die Polarisationsebenen drehten – die rechten nach rechts, die linken nach links.
Er betrachtete diese beiden Phänomene als Ausdruck des Phänomens der Dissymmetrie, und da dieser Ausdruck im flüssigen Zustand bestehen blieb, nannte er sie molekulare Dissymmetrie, da er eine Erklärung des Phänomens in der Struktur der chemischen Moleküle suchte.
Ich kann hier nicht das heutige Verständnis des von Pasteur entdeckten Phänomens darstellen. Es ist jedoch wichtig, dabei ein wenig zu verweilen.
Wir wissen heute, daß unter den 32 Klassen von Kristallen 13 der Dissymmetrie Pasteurs angehören, das heißt, daß sie keine Symmetriezentren oder -ebenen besitzen, aber mit einer einzigen Ausnahme Symmetrieachsen haben, die in festgelegten Vektoren die Polarisationsebenen nach rechts oder links drehen und die im ersten Fall rechte Polyeder und im zweiten linke ergeben.
Außerdem wissen wir, daß sich diese Kristalleigenschaften in einer schraubenartigen Verteilung ihrer Atome – links und rechts – ausdrückt, wie es die molekulare Dissymmetrie Pasteurs verlangt. Diese Dissymmetrie zeigt sich aber nur in Lösungen, in solchen Flüssigkeiten, in denen man in der chemischen Struktur Stoffe findet, die Pasteur bekannt waren, den sogenannten asymmetrischen Kohlenstoffen, deren sämtliche Bindungen mit unterschiedlichen Atomen oder Atomgruppen gebildet werden. In den Formeln der Chemiker kann dem asymmetrischen Kohlenstoff sogar ein Symmetrieelement im Raum fehlen, d. h. wirklich asymmetrisch sein. Doch der gesamte Raum des Moleküls, in dem es sich befindet, ist dissymmetrisch, d. h. es besitzt mehrere14 Symmetrieachsen.
Es sind weitere Entwicklungen im Bereich der Symmetriephänomene zu erwarten. Aber gleichzeitig entdeckte Pasteur bei der Untersuchung dissymmetrischer Phänomene in Verbindung mit lebender Materie ein neues Phänomen, das auch mit einer Abnahme von Symmetrie zu tun hat, das heißt eine Dissymmetrie, die zwar außerhalb des Bereichs der Symmetriephänomene liegt, aber durch sie weder erklärt noch vorhergesagt werden kann.
Er entdeckte, daß in bestimmten Fällen statt zwei rechten und linken Antipoden, die entsprechend den Symmetriegesetzen gleichzeitig und in gleicher Zahl vorkommen, nur einer der beiden Antipoden in Erscheinung tritt oder einer gegenüber dem anderen deutlich überwiegt.
Da Pasteur im allgemeinen nicht bekannt war, daß ein Teil der Symmetrieverletzung – die er Dissymmetrie nannte – tatsächlich aus den Symmetriegesetzen abgeleitet werden konnte, unterschied er diesen Dissymmetrietyp nicht von anderen Typen, die er entdeckt hatte, sondern behandelte sie als Phänomene des gleichen Typs; er stellte jedoch fest, daß letzteres Phänomen ausschließlich mit dem Leben verbunden war, während ersteres davon unabhängig sein konnte.
Aus Sicht der Physik besteht zwischen diesen zwei dissymmetrisch genannten Phänomenen ein grundlegender Unterschied. Das erste ist verbunden mit der Verteilung von Gegenständen im Raum, was mit der Symmetrielehre untersucht wird. Das zweite ist nicht mit Symmetrie verbunden und stellt eine wirkliche Verletzung von ihr dar, welche nicht auf der Grundlage von Symmetrie vorhergesagt werden kann.15
Curies Prinzip, wonach jedes Phänomen, das Dissymmetrie besitzt, von einer Ursache abstammen muß,
welche die gleiche Dissymmetrie besitzt, ist so allgemein, daß sie beide Phänomene umfaßt.
XIV. Bevor wir die Errungenschaften Pasteurs darstellen, wollen wir uns näher mit den Eigenschaften des Raums befassen, der sich aus Symmetrie ergibt, im Unterschied zu unserem Raum der Physik und Geometrie. Es ist genau dieser spezifische Raum, den wir entsprechend der Entdeckung Pasteurs und dem Prinzip von Curie überall im Inneren von Lebewesen beobachten – im Inneren von Bakterien genauso wie von Elefanten beispielsweise. Bestimmte Eigenschaften eines solchen – man kann sagen – enantiomorphen Raums (rechts oder links) müssen sich auch in der Umgebung außerhalb der Organismen während ihres Lebens zeigen.
Der Unterschied eines solchen Raums vom gewöhnlichen Raum läßt sich besonders durch die Untersuchung der physikalischen Eigenschaften von Vektoren verdeutlichen, die man dort findet: d. h. durch die Untersuchung der Richtungen.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß Lebensphänomene zeitlich irreversibel sind, das heißt, sie schreiten im Laufe der Zeit in eine Richtung voran, ohne rückwärts zu gehen. Der Organismus wächst, altert und endet im Tod. Es gibt keine reversiblen Phänomene, auch wenn der Mensch sich diese in Märchen und in seiner Phantasie vorgestellt hat und wenn in bestimmten Fällen Anzeichen reversibler Prozesse beobachtet werden können, wie der bekannte russische Zoologe Schmidt16 und kürzlich C. Davidoff gezeigt haben. Aber es sind nicht diese besonderen Phänomene, die das individuelle Leben und die Artenevolution kennzeichnen.
Geometrisch läßt sich die Zeit eines solchen Prozesses in Form eines Vektors AB ausdrücken, der nicht identisch ist mit BA (–). Der Zeit eines solchen Prozesses fehlt zumindest ein Symmetriezentrum (die Physiker bezeichnen dies manchmal unkorrekt als asymmetrische Zeit). Für reversible Prozesse gilt hingegen AB = BA. Beide Vektoren sind identisch.
Man kann dieses Phänomen ausdrücken, indem man den ersten Vektor polar und den zweiten isotrop nennt. Geometrisch drückt sich Zeit in Lebensphänomenen durch polare Vektoren und in gewöhnlichen Phänomenen durch isotrope Vektoren aus.
Raum und Zeit sind in der neuen Physik wie auch in der realen Welt des Naturforschers untrennbar. Die Ideen Einsteins sind in diesem Sinne den wissenschaftlichen Vorstellungen des Naturforschers näher als die Ideen Newtons, bei denen in der Gravitationskraft keine Zeit erscheint.
Das erklärt die Schwierigkeit, die die Newtonsche Theorie erfahren hat, um sich in der Wissenschaftswelt durchzusetzen, nachdem sie 2–3 Generationen brauchte, um akzeptiert zu werden, und die Schnelligkeit, in der sie heute aus unserem Gesichtsfeld verschwunden ist.17 *
Die für die Zeit charakteristischen polaren Vektoren müssen deshalb auch den Raum kennzeichnen, d. h. das Volumen, das die Körper der Lebewesen einnehmen.
Die Phänomene der Dissymmetrie, die nach Pasteur für diese Körper charakteristisch sind, bestätigen nicht nur diese Tatsache, sondern zeigen erneut, daß die polaren Vektoren enantiomorph sein müssen.
Die Richtung AB unterscheidet sich von der Richtung BA, doch gleichzeitig kann die Bewegung nach rechts und links um den Vektor in sein Umfeld physikalisch unterschiedlich sein. Man unterscheidet rechte und linke Vektoren entsprechend der spiralförmigen Richtung von Objekten oder Bewegungen im Verhältnis zum gegebenen Vektor. Man unterscheidet so 4 Vektoren auf einer Linie:
AB (+) …… rechts und links
BA (–) …… rechts und links
In dem Fall, wo bestimmte einzelne Vektoren – rechts oder links – im Raum vorherrschen, unterscheidet man zwischen zwei bestimmten Räumen, rechts und links. Das hatte Pasteur für die Lebensphänomene entdeckt.
Man kann und muß noch weiter gehen.
Die Symmetrielehre enthält ein grundlegendes Prinzip, das anzeigt, daß die reale Struktur des Raumes, in dem diese Struktur erscheint, von der minimalen Symmetrie dort beobachteter Phänomene gekennzeichnet ist. Daraus folgt, daß es im von der Physik untersuchten kosmischen Raum kein Symmetriezentrum geben kann, denn ansonsten hätte man keine polaren Vektoren in einem seiner Phänomene beobachtet; dieser Raum läßt sich aber auch nicht durch Symmetrieebenen kennzeichnen, denn dann gäbe es keine enantiomorphen Vektoren in seinem anderen Phänomen, dem Bereich des Lebens.
Raum wie auch Zeit der alten Physik waren isotrop: Die Vektoren dort entsprachen in ihren Eigenschaften einfachen Linien.
Der Raum der Neuen Physik ist anisotrop. Nur im Extremfall können in ihm Symmetrieachsen enthalten sein. Es ist möglich, daß dieser Raum völlig asymmetrisch ist, das heißt, daß er überhaupt keine Symmetrieachsen besitzt. In diesem Fall lassen sich seine Eigenschaften, sämtliche Eigenschaften, nicht nach der Symmetrielehre voraussagen: Alle Vektoren sind polar, enantiomorph und unterschiedlich in ihrer numerischen Größe.
Die Untersuchung der physikalisch-chemischen Eigenschaften des Lebensfeldes liefert uns von diesem Standpunkt die genauesten und grundlegendsten Angaben, wie bei keinem anderen Phänomen des physikalischen Kosmos.
XV. Beschäftigen wir uns nun mit dem Zustand des mit Leben erfüllten Raumes, wie er sich nach Pasteurs Entdeckungen darstellt, die bis heute die Grundlage unseres Wissens auf diesem Gebiet sind.
Es gibt eine Vielzahl biologischer Beobachtungen, die sich auf diesen Bereich beziehen und Pasteurs Verallgemeinerungen bestätigen, aber sie sind verstreut, nicht systematisiert und nicht auf das Gesamtdenken abgestimmt. Ich werde darauf zurückkommen und werfe nun einen Blick auf Pasteurs Entdeckungen.
Für alle wichtigen von Lebewesen produzierten Verbindungen und ihre Produkte hat Pasteur unbestritten die dissymmetrische Struktur – das Fehlen eines Symmetriezentrums und von Symmetrieebenen – etabliert. Die Erfahrungen von mehr als einem halben Jahrhundert der Biochemie bestätigen diesen Umstand absolut.
Er nannte diese Dissymmetrie molekular, da sie sich nicht nur in Kristallen, sondern auch in der flüssigen Phase und in Lösungen zeigt. Sie steht in Verbindung zu der spiralförmigen Verteilung der Atome im Raum entsprechend den Symmetriegesetzen von Kristallen. Die Albumine, Fette, Kohlenhydrate, die Alkaloide, die Kohlenwasserstoffe, die Zucker usw. sind alle dissymmetrisch. Alle chemischen Körper, aus denen Getreide und Eier bestehen, sind ausnahmslos eindeutig dissymmetrisch.
Natürliche anorganische Verbindungen, anorganische Mineralien zeigen keinerlei molekulare Dissymmetrie, das heißt, ihnen fehlt die Eigenschaft, die Polarisationsebene des Lichts im flüssigen Zustand oder in Lösungen zu drehen.
Pasteurs Schlußfolgerung, daß molekulare Dissymmetrie das Kennzeichen lebender Materie ist und daß man sie nicht im kosmischen Umfeld des Lebens findet, bleibt unerschütterlich. In diesem Umfeld kennen wir nur das Erdöl, das molekulare Dissymmetrie besitzt, und bestimmte Mineralien mit einer spiralförmigen Verteilung der Atome im Raum (zum Beispiel Quartzkristalle). Aber die Zahl von Antipoden unter den anorganischen Naturkörpern ist nie ungleich. In der gleichen Lagerstätte findet man rechts- und linkshändige Quartzkristalle gleicher Zahl. Das Gegenteil stellt man bei den Verbindungen von Lebewesen fest.
Zunächst hatte Pasteur überlegt, daß sich Lebensphänomene von anorganischen Phänomenen durch ihre molekulare Dissymmetrie unterscheiden: Durch ihre Beziehung zur Verteilung der Moleküle (bzw. Atome) im Raum. Diese Unterscheidung ist für uns heute verschwunden; die Dissymmetrie von Quartz ist ebenso mit der Verteilung der Silizium- und Sauerstoffatome im Raum verbunden.
Später und bis heute erklärt man sich das Wesen der von Pasteur entdeckten Dissymmetrie durch die spezifische Asymmetrie des Kohlenstoffatoms in den Molekülen von Verbindungen, die von Le Bel und Van Hoff beschrieben wurden. Aber man entdeckt derzeit in Molekülen noch andere asymmetrische Atome wie Al, N usw.
Das Phänomen ist wahrscheinlich mit der Stabilität von Symmetrieklassen in Festkörpern ohne Symmetriezentren und -flächen verbunden, da die Moleküle asymmetrische Atomfelder haben. Das beobachtet man in der Natur nur in lebenden Organismen.
Pasteur schloß daraus mit gutem Grund, daß ein so deutlicher Unterschied zwischen der Materie von Lebewesen und unbelebter Materie eng mit den Grundeigenschaften des Lebens verbunden sein müsse, und daß zwangsläufig bestimmte kosmische Kräfte erforderlich seien, unter deren Wirkung sich Leben äußert. Er sagte: „Wenn die unmittelbaren Prinzipien des Lebens dissymmetrisch sind, dann deswegen, weil in ihrer Entwicklung dissymmetrische kosmische Kräfte vorherrschen; hier liegt, so meine ich, eine der Verbindungen zwischen Leben auf der Erdoberfläche und dem Kosmos, d. h. der Gesamtheit der im Universum verteilten Kräfte.”*1 Und weiter: „Ich sehe überall im Universum Dissymmetrie.” „Denn wir haben bereits gesehen, daß es nur einen einzigen Fall gegeben hat, wo sich die rechten Moleküle von den linken unterschieden haben, jenen Fall, wo sie dem Einwirken einer dissymmetrischen Ordnung unterworfen sind. Liegen diese möglicherweise kosmischen Einflüssen ausgesetzten dissymmetrischen Wirkungen im Licht, in der Elektrizität, im Magnetismus oder in der Wärme? Stehen sie in Beziehung mit der Bewegung der Erde, mit den elektrischen Strömen, mit denen die Physiker die irdischen Magnetpole erklären?”*2 „Was könnte die Natur dieser dissymmetrischen Wirkungen sein? Meiner Ansicht nach sind sie von einer kosmischen Ordnung. Das Universum ist ein dissymmetrisches Ganzes, und ich bin davon überzeugt, daß Leben, wie es sich uns darstellt, eine Funktion der Dissymmetrie des Universums oder der sich daraus ergebenden Konsequenzen ist… Die Bewegung des Sonnenlichts ist dissymmetrisch.”*3
Es ist sehr charakteristisch, daß in den mit Leben verbundenen Verbindungen nur ein einziger Antipode vorherrscht oder existiert. Der andere tritt gar nicht oder fast gar nicht auf, obgleich es möglich ist, ihn im Labor herzustellen. Ich stelle fest, daß unsere chemische Synthese gemäß Curies Prinzip durch eine dissymmetrische Ursache ausgelöst wird, die sich in der Intelligenz und dem Willen des Experimentators ausdrückt.
Pasteur meinte, daß nur die rechtshändigen Materieformen in Lebewesen stabil seien, d. h. daß der vom Leben eingenommene Raum nur die Erhaltung dieser molekularen Strukturen bevorzuge. Er dachte, daß man in der wichtigsten Materie von Lebewesen – in Samen und Eiern – nur rechtshändige Antipoden beobachten würde.
Kurz, Pasteurs Verallgemeinerung, die von den Biochemikern leider nicht genügend beachtet wurde, bleibt richtig, auch wenn die rechte oder linke Eigenart der Verbindungen ein komplexeres Phänomen ist, als Pasteur dachte.
Die wichtigste Tatsache ist die Stabilität des einen Antipoden im Lebensfeld und das Verschwinden des anderen. Das Überwiegen des rechten Antipoden findet derzeit keine Erklärung; im übrigen hat die Stabilität eines Antipoden allein und nicht des anderen auch keine Erklärung.
Pasteur hat sich ständig mit diesem Problem beschäftigt. Er sagte: „Um die ausschließliche Bildung von Molekülen einer einzelnen Dissymmetrieordnung zu verstehen, genügt es, anzunehmen, daß die elementaren Atome im Augenblick ihres Zusammenschlusses einem dissymmetrischen Einfluß ausgesetzt sind, und da alle anderen organischen Moleküle, die unter entsprechenden Umständen entstehen, identisch sind, was immer ihr Ursprung und ihre Produktionsstätte sein mag, sollte dieser Einfluß universell sein. Er umfaßt den gesamten Erdball.”*4
Dieses Phänomen zieht eine klare Grenze zwischen den im thermodynamischen Lebensfeld erzeugten enantiomorphen Formen und denen der kosmischen Umwelt, wo man sie auch findet.
Es ist wichtig, festzustellen, daß man in der besonderen Mineraliengruppe, die durch molekulare Dissymmetrie gekennzeichnet ist – im Erdöl –, beobachtet: 1. Seine Entstehung durch die Umwandlung von Überresten lebender Materie und 2. das deutliche Überwiegen der Rechtsdrehung im Erdöl. Linksdrehende Erdöle sind sehr selten.
Zehn Jahre nach dieser Verallgemeinerung ging Pasteur noch weiter und stellte in diesem Bereich eine neue Tatsache fest, die nicht weniger wichtig ist. Das war 1858, vor 71 Jahren. Er entdeckte, daß sich Lebewesen mit rechten Antipoden anders verhalten als solche mit linken. Sie können rechtshändige Antipoden aufnehmen und lassen linkshändige unberührt. Das ist sicherlich eine Tatsache großer Bedeutung. Curies Prinzip entsprechend begründete er auf diesem experimentellen Weg die Dissymmetrie der Lebewesen. Pasteur wies dies für Hefen und einige Schimmelpilze nach; später beobachtete man dies bei Bakterien. Diese Tatsache ist so für zwei Lebensformen gesichert, für das Leben in der Welt molekularer Phänomene und für das Leben in unserer Welt der Schwerkraft.
Auf den ersten Blick scheint dies das deutliche Übergewicht rechter Antipoden bei der Erzeugung von Leben zu erklären.
In Wirklichkeit erklärt dies gar nichts; das Grundproblem bleibt ungelöst – warum nehmen Lebewesen nur einen Antipoden auf?
Warum läßt lebende Materie rechtshändige Antipoden in sich eindringen und nicht linkshändige?18
Ausgehend von der Symmetrie räumte Pasteur die Möglichkeit anderer Lebensformen in einem anderen linkshändigen Raum mit umgekehrten – linken – Antipoden ein.
Wenn das beobachtete Phänomen mit dem vom Leben eingenommenen Raumzustand im Zusammenhang steht, muß der rechtshändige Raum aus uns derzeit unverständlichen Gründen das gesamte Sonnensystem und möglicherweise das galaktische System umfassen.
Sich der immensen Bedeutung seiner Entdeckung vollauf bewußt, bekräftigte Pasteur zurecht, daß er einen unanfechtbaren Beweis dafür gefunden habe, daß „die molekulare Dissymmetrie, bis heute das ausschließliche Vorrecht von unter Einfluß des Lebens entstandenen Produkten, als Umwandler physikalischer und chemischer Phänomene innerhalb des Organismus erscheint.”*5 Pasteurs Ideen blieben unbeantwortet; die von ihm bewiesenen Tatsachen wurden nicht weiterentwickelt.19
Wir sind auf dem von Pasteur vor 80 Jahren beschrittenen Weg keinen Schritt vorangekommen; wir verharren hilflos vor den von ihm beleuchteten Rätseln.
Nichts ist geschehen, obwohl die Bedeutung davon offenbar ist und die Möglichkeit besteht, diese Fragen experimentell zu untersuchen.
Solche Untersuchungen sind nicht nur wichtig, um möglichst vollständige Kenntnisse über das Leben zu erlangen, sondern nicht weniger, um den allgemeinen Zustand des physikalischen Raumes zu untersuchen, denn dieser enthüllt uns neue Eigenschaften, die in keiner anderen physikalischen Form erscheinen.
Allein schon die Fähigkeit lebender Organismen, die chemischen und physikalischen Eigenschaften der Lebensumwelt in ihrer Beziehung zu den enantiomorphen Vektoren zu unterscheiden, ist ein Phänomen ganz besonderer Bedeutung.
Pasteurs empirische Verallgemeinerung wird heute dank der neuen Physik und des neuen Bildes des Kosmos um so interessanter.
Eine Vielzahl der Erfahrung zugänglicher Schlüsse ergeben sich daraus, auf die ich hier jedoch nicht weiter eingehen kann. Es ist wichtig, die zentrale Schlußfolgerung hervorzuheben: Die Phänomene des Lebens erlauben es uns, die Untersuchung des kosmischen Raums voranzutreiben, wie es uns auf keinem anderen Weg möglich wäre. Die kosmische Natur des Lebens äußert sich hierin.
Pasteur hat das sehr klar gesehen.
XVI. Zahlreiche andere damit zusammenhängende Phänomene sind in der Biologie seit langem bekannt, wurden aber leider von der Wissenschaft nicht systematisch zusammengetragen und eingegliedert.
Eines dieser Phänomene hatte bereits Ende des 18. Jahrhunderts das Interesse eines französischen Schriftstellers und Wissenschaftlers erregt, dessen Name damals berühmt war; er hinterließ als Vorläufer der Romantik einen tiefen Eindruck im Gefühl und Denken der Menschen des letzten Jahrhunderts, Bernardin de St. Pierre. Er schrieb in seinen Études de la Nature (Naturstudien): „Es ist zum Beispiel sehr bemerkenswert, daß die Meere voll mit einschaligen Muscheln unendlich vieler unterschiedlicher Arten sind, deren Spiralen alle zur gleichen Seite wachsen, d. h. von links nach rechts, wie die Drehung des Erdballs, wenn man die Öffnung der Muschel nach Norden und zur Erde hält. Es gibt nur eine kleine Zahl von Arten, die davon ausgenommen sind, und diese nennt man deswegen einzigartig. Ihre Formen verlaufen von rechts nach links. Eine so allgemeingültige Richtung und Ausnahmen, die bei den Muscheln so besonders sind, müssen ihre Ursache zweifellos in der Natur haben und aus unbekannten Jahrhunderten stammen, als ihre Keime entstanden.” Bernardin de St. Pierre ist mehr Künstler als Wissenschaftler, und hatte, wie es dabei häufig der Fall ist, entsprechend seinem kosmischen Naturempfinden ein zutreffendes Verständnis der großen Phänomene des Lebens, die der Experimentator Pasteur 50 Jahre nach ihm anpackte.
Wir nähern uns hier einem großen Bereich von Fakten, die noch nicht wissenschaftlich genau behandelt wurden.
Schon jetzt muß allen wichtigen Hinweisen nachgegangen werden, die unsere Neugier erwecken. Ich kann hier nur kurz darauf eingehen. Zuallererst scheint es, daß sich die Richtung der Seemuschelspiralen gleicher Arten im Laufe der geologischen Zeit ändern kann. Zum Beispiel gibt es Hinweise, daß die Schalen aller Fusus antiquus im Buntsandstein Englands (Unterer Perm) linkshändig sind, während die heutigen alle rechtshändig sind. Wenn es keine Ursache – nach Curies Prinzip zwangsläufig eine dissymmetrische – gäbe, die Symmetrie zu stören, hätte man eine gleiche Anzahl rechts- und linkshändiger Spiralen. Die Ursache, die dieses Phänomen bedingt, hat sich somit im Laufe der geologischen Zeit geändert. An der fraglichen Stelle während des Perms waren sie enantiomorph links, und in unserer Zeit sind sie enantiomorph rechts. Der Umstand, daß Molluskenembryos in einigen Fällen linkshändige Spiralen aufweisen, während die erwachsenen Formen rechtshändige Spiralen aufweisen, scheint die Möglichkeit einer solchen Veränderung des Lebensumfeldes anzuzeigen.
Wir halten hier in unwissender Erwartung auf eine Erklärung dieses Phänomens inne. Es ist vor allem wichtig, es zu untersuchen und zu bestätigen. Das Phänomen ist sicherlich sehr komplex. Es gibt jedenfalls heute auch Molluskenarten mit linkshändigen Spiralen, wenn auch in verschwindend kleiner Zahl, wenn man sie in ihrer Gesamtheit untersucht.
Zusätzlich wird über geographische Unterschiede berichtet: Die Lanistes [Afrikanische Apfelschnecke] vom Tanganjikasee ist linksgewunden, und die gleiche Gattung, die im nahe gelegenen Njassa- und Viktoriasee lebt, hat rechtshändige Spiralen. Was ist die Ursache dieses Phänomens?
Zahllose Beobachtungen gleicher Art, die über andere Spiralen bei Pflanzen und Tieren gesammelt wurden, sind in der wissenschaftlichen Literatur verstreut – über Formen von Körnern, Blumen usw. Wir befinden uns damit offenbar im Bereich dissymmetrischer Phänomene, die eng mit den von Pasteur behandelten Problemen verbunden sind, aber von theoretischen Überlegungen überhaupt nicht berührt wurden.
Es ist nicht unmöglich, durch weitere Untersuchungen spezifische Raumeigenschaften, die mit Leben oder unbekannten dissymmetrischen Formen verbundenen sind, herauszufinden.
Jetzt und in naher Zukunft müssen wir in unserer Arbeit den Wegen folgen, die sich uns eröffnen.
XVII. Es erscheint möglich, durch die Erforschung lebender Phänomene nicht minder tiefgehend auch die physikalische Zeit zu studieren.
Die Zeit des Physikers ist sicherlich nicht die abstrakte Zeit des Mathematikers oder des Philosophen. Zeit drückt sich in so unterschiedlichen Phänomenen und Formen aus, daß wir ihr in unserer empirischen Wissenschaft unterschiedliche Namen geben mußten. So sprechen wir von historischer, geologischer, kosmischer Zeit usw.
Es bietet sich an, biologische Zeit in jenem Rahmen zu definieren, in dem lebende Phänomene in Erscheinung treten.
Man schätzt die biologische Zeit derzeit auf 2–3 ‧ 109 Jahre – auf Milliarden von Jahren, in deren Verlauf die uns im Kosmos bekannten biologischen Prozesse im Archaikum begannen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich diese Milliarden Jahre nur auf die Existenz unserer Planeten und nicht auf den Zeitraum des Lebens im Kosmos beziehen. Heute ist man zu dem Schluß gekommen, daß die Dauer des Bestehens der Himmelskörper im Kosmos ebenfalls begrenzt ist, d. h. wir haben es auch hierbei mit einem irreversiblen Prozeß zu tun. Wir lassen die Dauer von Lebensäußerungen im Kosmos außer Betracht, da unser Wissen über kosmisches Leben im allgemeinen minimal ist. Es ist möglich, daß Milliarden Jahre nur einen sehr kleinen Teil der biologischen Zeit ausmachen.
In den Grenzen dieser Zeit drückt sich dieser irreversible Prozeß für das Leben auf der Erde in der Artenevolution aus.
Aus zeitlicher Sicht äußert sich darin wahrscheinlich Redis Prinzip, das heißt die Abfolge von Generationen, welche als ein Grundphänomen angesehen werden muß.
In dieser Generationenfolge gibt es einige Phänomene, die sich quantitativ untersuchen lassen und eine genaue, mathematische und quantitative Darstellung der Struktur des polaren Vektors ergeben, der geometrisch dem Evolutionsprozeß entspricht.
Leider sind die damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Fakten verstreut und nicht immer genau. Man kann heute die Konstanten biologischer Zeit nur durch die Grenzwerte der Zahlen und nicht durch die Zahlen selbst abschätzen. Aber der Wandel in unseren Vorstellungen über die Stellung des Lebens im Kosmos erfordert dringend die Einleitung systematischer experimenteller Untersuchungen in diese Richtung.
Unbestreitbar gibt es eine Untergrenze für die Dauer der Generationenfolge. Diese Grenze zeigt die erforderliche Mindestzeit für die Bildung einer bestimmten Zahl von Lebewesen an, das heißt nicht nur zur Bildung ihrer [biologischen] Mechanismen, sondern für alle ihre hochkomplexen chemischen Strukturen – Albumine usw. Dieses Phänomen unterliegt eindeutig bestimmten Gesetzen.
Ich habe an anderer Stelle darzustellen versucht, daß diese Grenze der durchschnittlichen Mindestdauer der Teilung eines Einzellers entspricht und mit einer Intensität erfolgt, die die Grenze des physisch Möglichen erreicht.
Die Grenze ergibt sich dabei nicht durch die kurze Dauer der Generationenfolge, die für die Bildung zahlloser komplexer, für das Leben erforderlicher chemischer Verbindungen nicht ausreicht, sondern ist durch die physikalischen Umweltbedingungen und vor allem durch die Eigenschaften der Gase, durch die Atmung der Organismen, bedingt. Das Lebewesen muß seinen Gasaustausch in einer Weise vornehmen, daß seine Lebensumwelt dadurch nicht zerstört wird. Deshalb darf die Ausbreitungsgeschwindigkeit seiner geochemischen Energie durch Reproduktion (bzw. Generationenfolge) die Geschwindigkeit der Schallwelle in einem gasförmigen Medium, in dem das Lebewesen atmet, nicht übersteigen.
Der Umstand, daß das Leben diese Grenze tatsächlich erreichen kann, beweist die extreme Intensität des Lebensprozesses, der offenkundig, aber nicht nur mit den Eigenschaften des materiellen Mediums verbunden ist.
Die Erforschung dieser Grenze ist das Gebot der Stunde. Soweit man beurteilen kann, beträgt die Mindestdauer einer Generationenfolge zwischen 16 und 20 Minuten – näher an 20 Minuten, wie es scheint. Diese Dauer erfordert eine genaue Bestimmung. Sie ist eine wichtige biologische Konstante. Sie kann beim Studium der biologischen Zeit die Rolle einer natürlichen Einheit spielen. Man kann sie als Maß der biologischen Zeit betrachten. Ihre Bestimmung scheint keine experimentellen Schwierigkeiten zu bieten.
Offenbar gibt es auch eine Obergrenze für die Generationenfolge. Bei einigen pflanzlichen Organismen beobachtet man, daß diese mehreren hundert Jahren entspricht, d. h. 107 vielleicht 108 Minuten. Ihre Bestimmung ist auch eine Frage der Zeit.
Die Schwankungsbreite der Generationenfolge ist somit ganz erheblich und kann das Millionen- oder Zigmillionenfache betragen.
Die Veränderung der Generationendauer im Evolutionsprozeß (im Verlauf der geologischen Zeit) ist für die biologische Zeit sehr charakteristisch. Man wird sich von diesem Prozeß und seiner Eigenart keine Vorstellung machen können, bis eine genügende Zahl von Fakten vorliegt. Im Evolutionsprozeß scheint die Dauer einer Generation für den Menschen im Laufe der Zeit zuzunehmen.
Das Phänomen muß auf Grundlage der neuen Physik im Kontext der „Raum-Zeit” studiert werden. Der Raum des Lebens hat, wie wir gesehen haben, einen besonderen, in der Natur einzigartigen symmetrischen Zustand. Die ihm entsprechende Zeit hat nicht nur den Charakter polarer Vektoren, sondern einen besonderen, ihr eigenen Parameter, eine besondere mit dem Leben verbundene Maßeinheit.
Ich kann nicht weiter auf diese Phänomene eingehen. Mir ist nur wichtig, ihre Bedeutung bekannt zu machen.
Somit taucht plötzlich eine Vielzahl von Problemen auf, deren quantitative wissenschaftliche Untersuchung aber sicherlich möglich ist.
Erst wenn schon lange bekannte Tatsachen systematisiert sind oder neue Tatsachen zusammengetragen wurden, wird erkennbar sein, was dies zur Untersuchung der biologischen Zeit im Zusammenhang mit der Abfolge lebender Generationen, welche sie charakterisiert, beitragen wird.
XVIII. Vom Standpunkt des uns hier interessierenden Problems – der Bedeutung von Untersuchungen des Lebens für den Aufbau des wissenschaftlichen Weltbildes – ist jedoch deutlich, daß diese Untersuchung für Raum und Zeit des Universums nicht unwesentlich ist. Dabei werden neue Merkmale auftreten, die man bei anderen physikalischen oder chemischen Phänomenen nicht kennt.
Offensichtlich läßt sich Leben nicht vom Kosmos trennen, und seine Untersuchung muß – wahrscheinlich sehr bedeutsame – Auswirkungen auf die wissenschaftliche Darstellung haben. Das betrifft nicht nur Raum und Zeit, sondern auch andere Grundelemente des Kosmos. Ich kann sie hier nur andeuten.
Leben steht somit fast vollständig außerhalb der Energetik des Universums, da es seine Entropie verkleinert und nie vergrößert. Nach Auffassung von Prof. Jäger erzeugt das Leben durch den Evolutionsprozeß Formen, die immer ärmer an Symmetrieelementen sind. Schließlich beginnt sich die menschliche Intelligenz heute immer deutlicher und entscheidender im Prozeß der Biosphäre niederzuschlagen und verändert die bestehenden geologischen Prozesse radikal.
Die neuen Darstellungen des Universums, welche die Neue Physik geschaffen haben, zwingen uns, dem Studium von Lebensphänomenen, deren Charakter nicht nur irdisch, sondern kosmisch ist, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Das ist besonders wichtig, da sich die plötzlich auftauchenden biologischen Probleme durch Zahl und Maß erfassen lassen – der grundlegende Weg, der zum Aufbau des wissenschaftlichen Universums führt.
Für die Biologie eröffnen sich so riesige neue Forschungshorizonte.
Die wissenschaftliche Bestätigung der Tatsache, daß Leben nicht ein planetares, sondern ein kosmisches Phänomen ist, wird für biologische und humanitäre Konzepte immense Konsequenzen haben.
Die Zukunft wird darüber entscheiden, ob dies so sein wird oder nicht. Aber während wir warten, brauchen wir mit der neuen Physik nicht dem Weg ungenügender und unsicherer philosophischer Denkgebäude zu folgen, sondern folgen der exakten, auf Zählen und Messen basierenden wissenschaftlichen Forschung. Der neue Weg, der sich vor uns öffnet, wird uns wahrscheinlich weit von der Biosphäre wegführen, auf die heute die gesamte Arbeit des Biologen und zu geringerem Maß des Geochemikers gerichtet ist.
W. Wernadskij, Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Leningrad, Korrespondent des Institut de France
Übersetzung von Dr. Wolfgang Lillge (Deutsche Erstübersetzung)
* Die brillanten und interessanten Lehren von Herrn Eddington über die Natur der physikalischen Welt (1929) erlauben uns beispielsweise zu beurteilen, wie tief Newtons Konzept des Universums von seiner wissenschaftlichen Seite – der Unabhängigkeit des Raums von der Zeit – in die heutige wissenschaftliche Auffassung eingedrungen ist. In seiner Beschreibung der Grundvorstellung der neuen Physik stützt sich Eddington auf Einsteins Universum, in dem Raum und Zeit untrennbar sind. Und dennoch räumt er ein, daß die Natur und die Rolle der physikalischen Zeit verglichen mit der des physikalischen Raums etwas ganz anderes sei. Während er dem Zeitbegriff in seiner logischen Entstehung eine Doppelnatur zuerkennt – zur Untersuchung der Stimmung und inneren Empfindung von Lebewesen (des Menschen) –, billigte er dem Raum nicht den gleichen Umstand zu, ohne sich bewußt zu machen, daß diese beiden Phänomene gemäß Einsteins Konzept des Universums untrennbar sind und daß beide in den Besonderheiten der „Raumzeit“ von Lebewesen gleichermaßen enthalten sind. Unverständlicherweise berücksichtigte er nicht Pasteurs Entdeckung vom besonderen Zustand des Raums alles Lebenden.
*1 Werke, I, S. 373
*2 Werke, I, S. 361 (1874)
*3 Werke, I, S. 341 (1860)
*4 Werke, I, S. 241
*5 Werke, II, 1922, S. 622 (1858)
Fußnote(n)
- Bruno, von der römischen Inquisition 1593 wegen Ketzerei angeklagt, hatte postuliert, daß Sterne Sonnen mit eignen Exoplaneten seien und potentiell Leben enthalten könnten. Wernadskij verweist hier insbesondere auf Brunos Behauptung, das Universum sei unendlich und habe keinen Körper als Mittelpunkt. Um Bruno zu zitieren: „Das Universum ist dann eines, unendlich, unbeweglich… Es kann nicht begriffen werden und ist deshalb endlos und unbegrenzt und in diesem Maße unendlich und unbestimmbar und deshalb unbeweglich.“[↩]
- Es sei hier erwähnt, daß der Verweis auf Nikolaus von Kues nicht in der Ausgabe von Wernadskijs Schrift von der Russischen Akademie der Wissenschaften erscheint.[↩]
- Die Familie Struve war über fünf Generationen vom 18.-20. Jahrhundert eine Astronomendynastie in Deutschland und Rußland, insbesondere Friedrich Georg Wilhelm von Struve, der sich mit dem Problem von Doppelsternen beschäftigte, und Otto Wilhelm von Struve, der das Pulkowo-Observatorium leitete, sowie deren Nachfahren Ludwig von Struve, Georg Otto Hermann von Struve und Otto von Struve.[↩]
- Wernadskij verweist hier wahrscheinlich auf Franz Wald: http://www.hyle.org/journal/issues/131/bio_ruthenberg.pdf[↩]
- Auch als „Laplacescher Dämon“ bekannt. Direkt von der Quelle: „Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.“[↩]
- Dieses Konzept kommt am besten in Dantes Göttlicher Komödie zum Ausdruck, worin poetisch neun Himmelssphären beschrieben werden.[↩]
- Experimente, wie sie Michelson-Morley angestellt hatten, wurden bis in die 1920er Jahre und später weitergeführt, um diese Art Phänomen zu prüfen. Siehe auch Maurice Allais, „Die Experimente von Dayton C. Miller (1925–1926) und die Relativitätstheorie“, in FUSION 1/1998. [↩]
- Heute besser als Präkambrium bekannt.[↩]
- Diese Äußerung Wernadskijs läßt sich nicht klar deuten, allerdings ist in Wernadskijs Verweis auf Newton als gläubigen Christen ein gewisser Sarkasmus erkennbar. Es sei darauf hingewiesen, daß sich in der Person Newtons eine Mischung aus totem Reduktionismus und wilder „religiöser“ Spekulation findet. Newton vertrat bekanntermaßen die Vorstellung, Gott müsse immer wieder eingreifen und das Universum wie ein Uhrwerk aufziehen, damit es nicht abläuft. Um diese Frage drehte sich auch die Debatte zwischen Newtons Mittelsmann Samuel Clarke und Gottfried Wilhelm Leibniz: „Ihrer Meinung nach ist Gott gezwungen, seine Uhr von Zeit zu Zeit aufzuziehen, andernfalls würde sie stehenbleiben. Er besaß nicht genügend Einsicht, um ihr eine immerwährende Bewegung zu verleihen.“ – Zitat aus dem Briefwechsel Leibniz-Clarke.[↩]
- Wernadskij scheint seine Ansicht später geändert zu haben, denn 1938 schreibt er in Probleme der Biogeochemie II: Die Masse lebender Materie in der Biosphäre ist grenzwertig und nach Maßgabe der historischen Zeit ein relativ konstanter Wert. Sie bestimmt sich vor allem durch die Strahlungsenergie der Sonne, die auf die Biosphäre fällt, und durch die biogeochemische Energie bei der Besiedlung des Planeten. Offenbar nimmt die Masse lebender Materie im Verlauf der geologischen Zeit zu, und der Besiedlungsprozeß der Erdkruste durch lebende Materie ist noch nicht abgeschlossen.“[↩]
- Johann Friedrich Christian Hessel, Professor für Mineraloge in Marburg.[↩]
- Holoedrie und Hemiedrie beziehen sich auf die Symmetrie von Kristallflächen. Bei der Hemiedrie gibt es ganz allgemein gesagt weniger Symmetrie, wie zum Beispiel bei den unregelmäßigen Formen von Weinsäurekristallen, die Pasteur untersuchte. Diese Flächen nennt man hemiedrisch.[↩]
- Rechtshändige Weinsäure soll das Licht drehen und ist „hemiedrisch“ in die gleiche Richtung; ihre Ecken sind abgestumpft. Siehe auch das Bild zweier Weinsäurekristalle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/24/TartrateCrystal.svg[↩]
- „Mehrere“ ist hier der Klarheit wegen ergänzt. Der Unterschied ist, daß etwas Asymmetrisches keine Symmetrieachsen hat, wohingegen etwas Dissymmetrisches mehrere Symmetrieachsen wie auch Dissymmetrieachsen besitzt.[↩]
- Wernadskij spricht hier im ersten Fall offenbar über die Struktur von Kristallen und zweitens von der optischen Drehung in Lösungen. Es gibt linksdrehende Kristalle wie Quartz, sie zeigen aber nicht die Drehung polarisierten Lichts, wie es Lösungen aus organischen Verbindungen tun.[↩]
- Petr Schmidt war Zoologe in St. Petersburg und bekleidete wahrscheinlich weitere Positionen.[↩]
- Auf Grundlage einer noch nicht abgeschlossenen Lektüre des erwähnten Buchs The Nature of the Physical World (1929) verweist Eddington zumindest teilweise auf die von Henri Bergson begonnene Debatte über einen Zeitbegriff, den dieser „la durée“ oder die psychologische Zeitempfindung nennt, die nach Bergson von der Relativitätstheorie nicht berührt wird. In dem genannten Buch äußert Eddington ausdrücklich, daß es keinen solchen psychologischen Raumbegriff gibt: „Wenn ich meine Augen schließe und mich in meinen inneren Geist zurückziehe, habe ich ein bleibendes Gefühl, ich empfinde mich nicht ausgedehnt. Dieses Zeitgefühl, das auf uns einwirkt und nicht nur in den Beziehungen äußerer Ereignisse existiert, ist dafür so besonders charakteristisch; andererseits wird Raum stets als etwas Äußeres wahrgenommen.“ Es ist nicht klar, ob Bergson selbst diese Aussage macht. Wernadskij erwähnt Bergsons Konzept von „durée“ in „Das Problem der Zeit in der heutigen Wissenschaft“. Es gibt eine Besprechung Wernadskijs von Eddingtons Buch auf russisch. Offenbar widerspricht Wernadskij Eddingtons Äußerungen und meint, das Hauptkennzeichen des Raumes sei einfache Ausdehnung.[↩]
- Anmerkung des Übersetzers: Wernadskijs Äußerung scheint hier eine Ansicht wiederzugeben, die Pasteur nicht teilte, daß Leben auf der Erde nämlich einen ausschließlich rechtshändigen Charakter habe. Vielleicht liegt ein Fehler vor, und links und rechts wurden hier im Text unabsichtlich vertauscht, da man heute in allen Äußerungen zur Homochiralität des Lebens das Gegenteil sagen würde, daß Leben auf der Erde wegen der linkshändigen Aminosäuren einen linkshändigen Charakter habe. Wernadskij selbst schreibt in seinem Aufsatz „Über die Zustände des physikalischen Raumes“: „Pasteur behauptete, daß das Sonnensystem in einer frühen Periode der geologischen Geschichte einen linken kosmischen Raum durchlaufen habe; das Leben sei damals entstanden und sei Ausdruck dieses Phänomens.“ Eine Durchsicht mehrerer zitierter Passagen aus Pasteurs Werken verdeutlicht, daß er sehr wohl wußte, daß Aminosäuren, besonders Albumin, linkshändig sind, und daß Zucker wie die Weinsäure, mit der sich Pasteur bekanntermaßen eingehend befaßt hat, rechtshändig ist. Bezöge sich der Text nur auf Zucker wie die Weinsäure, wäre es richtig, zu sagen, das Leben auf der Erde hätte einen ausschließlich rechtshändigen Charakter. Es ist nicht klar, ob Wernadskij hier eine Äußerung Pasteurs etwas aus dem Zusammenhang gerissen hat, um sämtlicher lebender Materie auf der Erde einen rechtshändigen Charakter zu geben, oder ob es sich um einen Fehler handelt.[↩]
- Das folgende Zitat von Louis Pasteur belegt sehr gut Wernadskijs Überzeugung, daß die Untersuchung des Lebens eine neue Physik erfordere: „Materie wird dem Leben vorangestellt, und man schließt daraus, daß Materie seit aller Ewigkeit existierte. Weiß man denn, ob nicht der unaufhörliche wissenschaftliche Fortschritt die Wissenschaftler zu der Überlegung zwingen wird, daß das Leben bereits ewig existiert, und nicht die Materie? Man geht von der Materie zum Leben über, weil sich unser heutiger Verstand die Dinge nicht anders vorstellen kann. Wie will man wissen, ob man es in zehntausend Jahren nicht als wahrscheinlicher ansehen wird, daß Materie aus Leben hervorgegangen ist?“[↩]