Dank des neuen WEST-Rekords: Die internationale Kernfusionsforschung kommt voran

Am 27. Mai 2024 sprach Karel Vereycken von Nouvelle Solidarité mit dem Physiker und Kernfusionsspezialisten Alain Bécoulet. Alain Bécoulet ist ehemaliger Forschungsdirektor der französischen Kommission für alternative Energien und Kernenergie (CEA) und ehemaliger Direktor des IRFM (Institut de recherche sur la fusion par confinement magnétique). Er ist seit Februar 2020 Leiter der Technikabteilung des ITER-Projekts. Der ITER ist ein wissenschaftliches Großexperiment, das die Machbarkeit der Kernfusion als Energiequelle demonstrieren soll und wird zur Zeit in Südfrankreich gebaut. Um diesen bisher größten Fusionsreaktor zu realisieren, bündeln sieben Partner – China, die Europäische Union, Indien, Japan, Korea, Rußland und die Vereinigten Staaten – in einer beispiellosen internationalen Anstrengung ihre finanziellen und wissenschaftlichen Ressourcen.


Herr Bécoulet, guten Morgen, es ist schön, Sie am Telefon zu haben.

Hallo Herr Vereycken, wenn ich Sie richtig verstanden habe, interessieren Sie sich für die Entwicklungen des WEST-Experiments im Zusammenhang mit den Pressemitteilungen, die am 15. Mai erschienen sind.

Das ist richtig. Ich möchte Ihnen meine Sichtweise dazu schildern und Sie können mich bitte korrigieren. Soweit ich weiß, war der Tokamak „Tore Supra“1 in Südfrankreich, der bis 2021 einen Weltrekord von 6 Minuten Laufzeit hielt, so etwas wie Ihr Baby.

Alain Bécoulet
Alain Bécoulet, Leiter der technischen Abteilung des ITER. Bild: ITER

Ich war tatsächlich als Direktor des IRFM2 für Tore Supra zuständig. Wenn man es als „mein Baby“ bezeichnen kann, dann deshalb, weil es unter meiner Leitung radikal verändert und modernisiert und in „WEST“ umbenannt wurde. Vor mir war es das Baby von Robert Aymar.3

Das stimmt. Aber in WEST ist es doch das „W“, das alles ausmacht. Und das „W“ steht für Wolfram, ein sehr hitzebeständiges Material, das weniger absorbiert als Graphit und die Maschine effizienter macht.

Der Tokamak „Tore Supra“
Der Tokamak „Tore Supra“ vor der Umrüstung zum „WEST“. Bild: ITER

Richtig. Die wichtigste Änderung, die wir mit dem WEST vorgenommen haben, besteht darin, daß wir von einer kreisförmigen „Limiter“- auf eine „Divertor“-Maschine umgestiegen sind.4

Im Tore Supra bestand die vertikale Plasmaeinwirkung aus einem Kreis, der auf einem Graphitbegrenzer ruhte, und das Plasma berührte ihn einfach. Seit einigen Jahren haben wir festgestellt, daß die Erzeugung eines Plasmas in Form eines D oder in Form eines Fisches mit einer X-Spitze – genannt „Divertor“ – wesentlich bessere Ergebnisse in Bezug auf den Wärmeeinschluß, Verunreinigungen, Partikeln usw. liefert. Es war also an der Zeit, den Tore Supra in diese Richtung umzurüsten.

Plasmakammer des WEST-Tokamaks
Die Plasmakammer des WEST (Wolfram Environment in Steady-state Tokamak), früher Tore Supra, mit der englischen Bezeichnung der einzelnen Komponenten

Gleichzeitig hat uns Tore Supra gezeigt, daß ITER mit Kohlenstoff nicht weitermachen konnte – was ursprünglich geplant war –, und so wurde auf Wolfram umgestellt. Bei dieser Gelegenheit haben wir im Tore Supra einen gekühlten Wolfram-Divertor eingebaut. Außerdem war es schon immer die Aufgabe von Tore Supra, auch schon vor dem ITER, technologische Lösungen zu entwickeln und zu integrieren, und nicht so sehr die Fusionsleistung als solche.

Divertor
Der Divertor ist die braune Vorrichtung ganz unten mit einer X-Spitze, mit der der Tore Supra umgerüstet wurde. Bild: ITER

Selbst wenn man Tritium im Tore Supra einsetzen würde, wäre die Leistung nicht sehr groß. Er ist zu klein und in keiner Weise leistungsfähig genug, um nennenswerte Fusionsreaktionen auszulösen. Andererseits ist er für alle technologischen Entwicklungen absolut relevant; es sei daran erinnert, daß im Tore Supra der erste erfolgreiche Großversuch mit supraleitenden Spulen durchgeführt wurde, die jetzt in ITER verwendet werden.

Ja, das war damals bekannt geworden.

Der Tore Supra lieferte auch alle Spezifikationen für die aktive Kühlung aller dem Plasma vorgeschalteten Komponenten, einschließlich Diagnostik usw.; nicht zu vergessen die Lösungen für die kontinuierliche Zusatzheizung – kurz, eine Vielzahl von Technologien. Die Idee beim Übergang vom Tore Supra zum WEST war also, den Weg des „aktiv gekühlten Wolfram-Divertors“ weiterzugehen.

Vergleich zwischen Tore Supra und WEST
Vergleich zwischen Tore Supra und WEST | Bild: ITER

Ich glaube, auch die Koreaner hatten mit dem KSTAR bereits Fortschritte gemacht…

Es gibt mehrere supraleitende Maschinen, die gleichwertige Fortschritte gemacht haben – eher nacheinander als gleichzeitig – und die andere inspiriert haben. Bevor ich über KSTAR spreche, nur folgendes: Die Maschine, die WEST am nächsten kommt, sozusagen ihre kleine Schwester – Sie werden lächeln, aber ich habe sie nicht umsonst WEST genannt – ist eine Maschine im chinesischen Hefei, genannt EAST, die anlief, als der Tore Supra bereits in Betrieb war. Wir haben eng damit zusammengearbeitet, sowohl bei den Spulen als auch bei den Plasmakomponenten, usw.

Ich habe den Namen „WEST“ gewählt, weil wir den Tore Supra umtaufen wollten, um die Tatsache zu unterstreichen, daß wir neue Technologien eingebaut haben. Wir haben ihn als eine Art Schwestermaschine zum EAST gesehen, und beide Maschinen arbeiten wirklich gut zusammen. Im EAST wurde jetzt ein Wolfram-Divertor installiert, usw. Sogar einige der Modifikationen, die wir am WEST vorgenommen haben, wurden in Partnerschaft mit der EAST-Maschine, mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt, die uns Komponenten geliefert hat, insbesondere die Stromversorgungen für die Divertor-Spulen, die neuen ICRH-Antennen usw. All das kam von den Chinesen.5

Es ist erstaunlich, daß diese Art der Zusammenarbeit in unserer konfliktgeprägten Welt noch möglich ist.

Das ist es wirklich! Was den KSTAR betrifft, so ist das ein ähnliches Gerät, aber ich würde sagen, es ist nicht so bahnbrechend. Sie sind erst jetzt in dieser Welt angekommen und hinken weit hinterher – ich werfe ihnen das nicht vor, denn ihre Teams sind kleiner, was die Sache schwieriger macht, aber das hindert uns nicht daran, viel mit KSTAR zusammenzuarbeiten. Der einzige wirkliche Unterschied zum WEST liegt in den Spulen, die sich alle in einem einzigen Kryostat [Kühlsystem] befinden – wie beim ITER, während sich beim Tore Supra, als wir ihn bauten, die Spulen jeweils in einem separaten Kryostat befanden.

Zusammenfassend kann man sagen, daß die großen supraleitenden Anlagen, die das ITER-Projekt begleiten, derzeit der WEST, der EAST, der KSTAR und jetzt der neue Tokamak JT60SA sind, der gerade in Japan in Betrieb genommen wurde. Dieser ist so groß wie der JET (im britischen Culham) und supraleitend, aber er hat noch keine Wolfram-Umgebung und wird sie auch in den nächsten Jahren nicht haben; er ist also noch nicht ganz auf der Höhe, aber das wird kommen. Und weil der JT60SA größer ist, wird er dann wahrscheinlich die anderen Maschinen übertreffen.

In der Pressemitteilung wird von einer Steigerung der erzeugten Energie um 15 Prozent berichtet – was immer noch weniger ist als die für die Reaktion aufgewendete Energie – und gleichzeitig wird von einer Verdoppelung der Plasmadichte gesprochen.

Bitte beachten Sie, Maschinen wie WEST, EAST und KSTAR werden aus mindestens zwei guten Gründen keine Fusionsenergie erzeugen: Erstens, sie sind zu klein. Zweitens, sie sind nicht für die Aufnahme von Tritium ausgelegt. In diesen Maschinen kommt es also zu keinen Fusionsreaktionen. Außerdem sollte man sich vor Begriffen wie Energiegewinn und Ähnlichem in Acht nehmen. Es handelt sich dabei um in der Maschine gespeicherte Energiegewinne, aber keineswegs um gelieferte Energie, also durch Fusion erzeugte Energie.

Das ist also noch nicht der „break-even“, wenn die erzeugte Energie die aufgewendete Energie übersteigt.

In der Tat verbessern wir den Einschluß und verlängern die Einschlußzeit. Das verbessert die Möglichkeit der Fusion, aber wir können keine Fusion in diesen Anlagen erzeugen, die dafür zu klein und leistungsschwach sind, insbesondere was das Plasma im Kernbereich betrifft. Wir nutzen sie, weil ihr Randplasma, also das Plasma im Inneren des Plasmas, das mit Strukturen wie Wolfram usw. wechselwirkt, dem von ITER sehr ähnlich ist. Das macht sie so interessant, und da sie sehr langlebige Plasmen erzeugen können, sind die Tests, die in diesen Anlagen durchgeführt werden, relevant für den ITER.

Ich möchte daher auf eine Ihrer Fragen zurückkommen, nämlich wie dies die Aussichten des ITER voranbringt. Der ITER wird gebaut, und es werden Dinge fertig gestellt, aber der ITER hat einen großen Appetit und fragt ständig: „Könnt ihr die Forschung nicht schneller vorantreiben?“

Inspektion von Wolframkomponenten
Inspektion von Wolframkomponenten, die dem Plasma im WEST-Tokamak ausgesetzt sind. Bild: ITER

Wir arbeiten natürlich an Dingen, die wir noch nie getestet haben, und alles, was wir testen können, alles, was uns bei der Fehlersuche helfen kann, ist uns sehr willkommen. Diese Maschinen, insbesondere WEST, EAST usw., helfen uns also, unsere Ergebnisse zu festigen, sowohl was die Konstruktion als auch bauliche Lösungen betrifft – ein Divertor wie der Wolfram-Divertor, der gekühlt eingesetzt wird, funktioniert. Der WEST hat soeben demonstriert – im Vergleich zum letzten Mal, als er mit der Konfiguration des Tore Supra auf einem Carbon-Limiter usw. sehr hohe Leistungen, vor allem in Bezug auf die Dauer, erzielte – all dies hat er unter noch besseren Bedingungen dank eines Wolfram-Divertors erreicht.

Das Ergebnis von WEST war eine Laufzeit von 364 Sekunden, d. h. 6 Minuten und 4 Sekunden, mit einer injizierten Energie von 1,15 Gigajoule, einer stationären Temperatur von 50 Millionen °C (4 keV) und einer Elektronendichte, die doppelt so hoch war wie bei den Entladungen in der vorherigen Tokamak-Konfiguration, also dem Tore Supra.

Wirklich neu und sehr wichtig für ITER ist aber, daß diese Maschinen mit den gleichen plasmazugewandten Komponenten arbeiten wie ITER. Wir haben sehr darauf geachtet, daß der WEST-Divertor genau die gleiche Technologie hat wie der ITER-Divertor. Auf diese Weise testen wir diese Technologie über einen längeren Zeitraum und mit bei diesen Komponenten erreichten Stromflüssen, die sehr relevant sind, weil sie repräsentativ für die Bedingungen auch im ITER sind.

Der ITER ist also ein globales wissenschaftliches Experiment, dezentralisiert und zentralisiert zugleich.

ITER ist der Ort, an dem das gesamte Fusionswissen der Welt gebündelt wird, aber dieser Prozeß hat nicht mit der Vertragsunterzeichnung aufgehört, sondern geht jeden Tag weiter. Wir füttern ITER weiterhin mit wissenschaftlichen und technischen Ergebnissen. Wenn uns zum Beispiel eine Maschine sagt: „Moment mal, ihr habt das so gemacht, aber wir sind nach weiteren Arbeiten zu anderen Ergebnisse gekommen“, dann prüfen wir das sehr genau, um herauszufinden, ob es irgendwelche Auswirkungen gibt oder nicht. Wir stehen in ständigem Kontakt mit all diesen Teams, um herauszufinden, was in den Labors, in den Experimenten und in den Simulationen herauskommt, und um herauszufinden, ob es Auswirkungen auf ITER gibt oder nicht, und wenn ja, können wir die Situation entsprechend korrigieren.

Und diese gemeinsame Nutzung von Daten findet doch unter Bedingungen großen Vertrauens statt.

Wir sind eine wissenschaftliche Gemeinschaft, die wie eine wissenschaftliche Gemeinschaft arbeitet, ohne Vorurteile, ohne Hintergedanken, ohne irgendetwas.

Vielleicht ein bißchen wie die Astronauten auf der internationalen Raumstation?

Auf jeden Fall. Man sagt ja: „Früher war das selbstverständlich“, aber heute ist es schon fast überraschend. Wenn es ein Ergebnis in einer russischen oder chinesischen Maschine gibt, haben wir Zugang dazu; wir versuchen es zu verstehen, wir beschäftigen uns damit, wir diskutieren mit ihnen, es ist wirklich sehr offen.

Das klingt sehr vielversprechend.

Wir führen einen ständigen Kampf gegen die Journalisten, die immer nur fragen, ob es einen Konkurrenzkampf gibt, ob jemand besser ist, oder was auch immer… Darum geht es uns überhaupt nicht, es geht um kooperative Wissenschaftsentwicklung. Natürlich arbeitet jeder in seinem Bereich, aber für alle. So etwas wie „Ich weiß mehr als ihr, ätsch!“ gibt es nicht – das gibt es in der Fusionswelt nicht.

In einem Artikel, den ich vorbereite, werde ich abschließend sagen, daß das große Problem des ITER darin besteht, daß es nur ein Problem gibt.

In gewisser Weise ist das fast richtig, aber es gibt nicht das „große Problem“, höchstens etwas, das die Beschleunigung nicht fördert. Der Wettbewerb fördert die Beschleunigung, da sind wir uns alle einig.

Immerhin betreiben die Chinesen sechs Fusionsreaktoren…

Vorsicht, das sind keine „Reaktoren“, hüten Sie sich vor diesem Vokabular. Es sind Experimente. Tokamaks, Plasmaexperimente usw. sind alle recht klein. Das größte, das ich erwähnt habe, in Japan, ist zehnmal kleiner als ITER. Es gibt zahlreiche Start-ups und andere, die wir hier im CEA-Zentrum [in Cadarache, Frankreich] jeweils für drei Tage aufnehmen. 50 Start-ups hatten sich zum Beispiel hier unten im Amphitheater eingefunden und mit uns diskutiert: Sie waren alle davon überzeugt gewesen, daß sie schon einen Reaktor bauen, aber eigentlich machten sie nur Experimente, berechneten Modelle und schufen experimentelle Prototypen. Selbst ITER ist kein Reaktor. Wohlgemerkt, das Wort „Reaktor“ bedeutet, Strom oder Energie zu erzeugen, und so weit sind wir noch lange nicht.

Wenn jemand meint, Ihnen einen Reaktor anbieten zu können, sollten Sie ihn milde belächeln, denn das kann nicht sein und das wird auch noch lange so bleiben – leider oder zum Glück, das weiß ich nicht. Was die Reaktorphase betrifft, so haben wir mit ITER gerade erst den industriellen Übergang eingeleitet. Wir prüfen in diesen Tagen auch, wie wir das Wissen aus den Labors – und ITER ist das Weltlabor, im wahrsten Sinne des Wortes ein öffentliches Forschungslabor – übertragen können. Wie läßt sich dieses Wissen an die Industrie weitergeben, die die Reaktoren bauen muß? Doch der Zeitplan hierfür ist nicht nächste Woche.

Ist denn Ihr wirklicher Konkurrent nicht die National Ignition Facility (NIF) in den USA?6

Nicht einmal annähernd. Denn bei den Amerikanern ist es in gewisser Weise noch schlimmer, da ihre öffentliche Forschung schlechter entwickelt und noch lange nicht ausgereift ist. Sie haben in ihrer Maschine, die dafür gar nicht ausgelegt war, eine einmalige Demonstration durchgeführt. Wenn man also von der NIF zu einem Reaktor übergehen wollte, müßte man erst den ganzen Rückstand aufholen, der sich seit dem Stand der Magnetfusion mit den großen JET-Experimenten im Jahr 1997 angesammelt hat. Sie sind also noch fast 30 Jahre davon entfernt, den Grad an technologischer Reife, Integration und allgemeiner Kenntnis zu erreichen, der für den Übergang zu einem Reaktor erforderlich ist. Und auch wir sind noch weit davon entfernt, einen Reaktor zu bauen.

Was den Wettbewerb betrifft, so fühlt sich heute niemand mehr als Konkurrent, und das meine ich ernst: Möge der Beste gewinnen. Denn das Problem ist so kompliziert, und es steht so viel auf dem Spiel, daß wir alle demjenigen, der die Lösung findet, Beifall spenden werden. Einen Wettbewerb gibt es da eigentlich gar nicht.

Bei den neuen Start-ups ist zu beobachten, daß oft gesagt wird: „Ja, aber wir bewegen uns in Richtung industrieller Lösungen, also entwickeln wir Patente, die wir natürlich nicht preisgeben und lieber verkaufen wollen.“ Das ist schön und gut. Wenn jemand weiß, wie man einen der „technologischen Bausteine“ entwickelt und dafür ein Patent anmeldet – gut für ihn. Aber das wird uns nicht davon abhalten, miteinander zu reden. Ein angemeldetes Patent ist kein Geheimnis, es ist einfach etwas, das einem gehört und das man der Öffentlichkeit zugänglich machen kann. Wer es benutzt, muß dafür bezahlen, das ist alles. Es geht hierbei also nicht um Krieg oder ähnliches. Das Problem ist wirklich sehr kompliziert, und wir betreten gerade erst die vorindustrielle Phase, die eine sehr spannende Phase ist.

Ich habe meine Karriere vor 35 Jahren als Theoretiker begonnen, und ich kann Ihnen sagen, daß wir damals lediglich mit Taschenrechnern gearbeitet haben und noch nicht einmal mit Computern. Zwei Dinge stehen jetzt an: 1. Eine vollständige Demonstration der Machbarkeit des gesamten Systems mit ITER, was in gewisser Weise das Ziel der öffentlichen Grundlagenforschung wäre. 2. Den Moment erreichen, wo wir sagen: „Hier ist der große Entwurf, jetzt ist es an der Industrie, ihn zu verbessern, ihn wirtschaftlich lebensfähig zu machen.“

Aber ITER muß noch zeigen, daß wir das können, und ich glaube, daß wir es können, auch wenn wir die Maschine immer noch bauen und noch gar kein Plasma erzeugt haben. Auf dem Papier sieht natürlich alles sehr schön aus…

Was sind Ihrer Meinung nach die letzten Hürden? Können die zuständigen Behörden in den verschiedenen Ländern noch etwas dazu tun?

Ich möchte Sie bitten, die Dinge bis Oktober/November im Auge zu behalten, wenn die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) ein Strategiepapier veröffentlicht, an dem wir alle – und ich bin einer der Hauptautoren – mitgearbeitet haben. Es handelt sich um ein globales Strategiedokument zur Entwicklung der Fusionsenergie, also der Energieerzeugung durch Kernfusion.

Es ist ein sehr interessantes Dokument, das auf etwa zwanzig Seiten alle regulatorischen, technologischen, wissenschaftlichen und industriellen Aspekte abdeckt – alles, was man sich vorstellen kann: Es steht alles drin. Es enthält zahlreiche Informationen über die Herausforderungen, denen wir uns als Gemeinschaft gegenübersehen, wobei wir uns derzeit von einer rein öffentlichen Forschungsgemeinschaft zu einer gemischten öffentlich-privaten Gemeinschaft entwickeln, die sich der Industrie annähert. Auch Informationen darüber, was von dieser Gemeinschaft noch zu tun ist, in Bezug auf die nuklearen Vorschriften, die Industrialisierung, die Arbeit an der Gesamteffizienz aller Teilsysteme und die Verfügbarkeit. Ein Reaktor kann nicht nur drei Minuten pro Tag laufen, er muß 40 Jahre lang rund um die Uhr arbeiten.

Dieses Strategiepapier, das von der IAEA herausgegeben wird, soll allen Akteuren – ich würde fast sagen „Außenstehenden“: Investoren, Presse, Politiker usw. – zu verstehen geben, wo wir mit der Kernfusion stehen und was noch zu tun ist. Es handelt sich also um ein ziemlich ehrgeiziges Dokument mit einem hohen Ziel, das aber betont einfach und leicht lesbar gehalten wurde. Wir haben uns dabei große Mühe gegeben, und ich glaube, es ist uns gelungen. Es ist sehr komprimiert, jeder Absatz beinhaltet gewissermaßen 40 oder 50 Jahre Forschung, aber ich denke, es ist verständlich. Im Moment wird es von der IAEA aufbereitet und im Frühherbst veröffentlicht.

ITER-Komplex
Der ITER-Komplex während der Bauarbeiten im April 2018. Blick von außen auf den zentralen Tokamak-Komplex. Bild: ITER

Okay, wir werden das abverfolgen.

Zum Schluß noch meine Gedanken zu dem, was in der Fusionsforschung noch zu tun ist:

  1. Technologische Bausteine: Es gibt Dinge, die selbst ITER nicht leisten kann, wie z. B. vollständig zu demonstrieren, wie der Tritiumkreislauf geschlossen werden kann – wie man Tritium herstellt und wie man es wirklich im Reaktor verbrennt; wir werden einige Demonstrationen durchführen, aber der komplette Kreislauf ist nicht vorhanden, und wir werden ihn auch mit ITER nicht bekommen.
  2. Werkstoffe: Da die Magnetfusion sehr energiereiche Neutronen erzeugt, und zwar sehr viele, ist eine Maschine wie der ITER darauf ausgelegt, eine bestimmte Zeit lang mit einem bestimmten Plasmarhythmus auszukommen, so daß sie diese Neutronen problemlos verkraftet. Aber wenn der gleiche ITER 40 Jahre lang 24 Stunden am Tag liefe, würde er nicht überleben; seine Materialien würden dem Schock nicht standhalten. Wir brauchen also andere Werkstoffe, und die Materialforschung und -entwicklung muß vorangetrieben werden.
  3. Wartung: Wie kann man in derartige Objekte eingreifen, ohne sie zu sehr zu stören? Können wir mit Robotik und entsprechender Intelligenz arbeiten, um diese extrem komplexen Systeme zu verstehen? Wir müssen also auch Modelle entwickeln; einige Elemente sind sehr schwer herzustellen, also müssen wir darüber nachdenken, wie wir am Design arbeiten können, damit die Hersteller weniger Schwierigkeiten haben, das zu tun, was sie tun sollen, usw. Außerdem gibt es nukleare Vorschriften zu beachten.

Ist die neue Meßvorrichtung, die gerade im WEST verwendet wird, wirklich ein Durchbruch?7

Die ersten, die über diesen Ansatz für WEST sprachen, waren die Amerikaner, was mich überrascht hat – aber gut, warum nicht? Aufgrund eines unglücklichen Satzes zu Beginn ihres Artikels hatten wir den Eindruck, daß es sich beim WEST um eine Maschine aus dem Labor in Princeton handelt.

Wie steht es mit der Zusammenarbeit mit China?

Als ich WEST ins Leben rief, haben wir einen partnerschaftlichen Kooperationsprozeß ins Leben gerufen, der fast noch ehrgeiziger ist als ITER. Wir haben etwa dreißig Laboratorien in der ganzen Welt als Partner gewonnen, um uns beim Bau von WEST zu unterstützen. So wurde WEST zu einer Art internationaler Maschine, die vom CEA zwar betrieben wird, aber eine internationale Maschine ist – genauso wie der ITER. Wir versuchten, etwas umzusetzen, was wir gegenseitige Sachleistungen nennen, wobei ich die Chinesen erwähnen möchte, die uns Anlagen zur Stromversorgung, Heizantennen usw. zur Verfügung stellten, aber es gibt viele wie die Inder, die für uns Dinge hergestellt und uns geliefert haben. In einem anderen Fall hat das Labor in Princeton ein Diagnosegerät entworfen, hergestellt und hier installiert. Was Sie als Meßinstrument bezeichnet haben, ist in Wirklichkeit ein Fortschritt, den wir an der Maschine testen, und die Amerikaner oder die Leute in Princeton können jetzt sagen: „Wir wissen jetzt, wie es dort funktioniert, und hier ist der Beweis: wir haben es dort und dort getestet, usw.“. Man sollte sich diese großen Forschungsanlagen, wie WEST, EAST, insbesondere im Bereich der Fusion, als Prüfstände für alle möglichen Dinge vorstellen.

Haben wir eine Maschine, die tatsächlich Plasma erzeugt? Es ist ein bisschen wie beim CERN [Forschungsanlage in Genf], wo man mit einem Gerät Teilchen beschleunigt: Viele Leute kommen zur Teilchenkollision dahin, um mit diesem Detektor Wissenschaft zu betreiben. Ein Tokamak ist auch ein Prüfstand für die Erprobung von Komponenten mit Plasma, Diagnostik, Heizsystemen und so weiter. Er eignet sich also gut für Partnerschaften, denn man hat eine zentrale Einheit, einen zentralen Betreiber, der den größten Teil der Maschine übernimmt, der die Spulen oder die Gehäuse repariert usw.; und dann können viele Leuten kommen und einen Baustein beitragen, den wir in dieser Maschine nutzen können.

Beim WEST kooperieren wir mit China, mit Korea, mit vielen französischen Labors – CNRS-Labors und Universitäten, die uns einfach Diagnosen oder Simulationen liefern – mit den Vereinigten Staaten, mit Indien und mit vielen anderen Ländern. Es gibt einen Lenkungsausschuß. Bei dieser WEST-Maschine entscheidet nicht nur das CEA über den Versuchsplan: einmal im Jahr kommen Leute aus all diesen Labors zusammen, um zu prüfen, was wir gemacht haben und tragen dazu bei, was mit dieser Maschine weiter geschehen soll. Denken Sie daran, daß es sich dabei immer um Beiträge handelt, die Technik und Physik miteinander verbinden.

Das hört sich großartig an! Ich danke Ihnen für Ihre Antworten, die uns einen globalen, gemeinsamen Prozeß hin zu einer friedlicheren Welt gezeigt haben.

Wir versuchen es… Wir glauben hier an wissenschaftliche Diplomatie. Sie ist nicht einfach, sie ist nicht einfacher als die normale Diplomatie, aber sie existiert. Sie ist ein Aspekt, an den wir glauben und den wir jeden Tag demonstrieren, um effektiv zum Fortschritt des Planeten beizutragen, auch wenn es manchmal schwierig ist… Ich möchte sie mit der Diplomatie beim Sport oder in der Kunst zu vergleichen; die Olympischen Spiele sollten nicht so im Streit enden, wie sie es zur Zeit tun, das macht keinen Sinn.

Danke fürs Gespräch und herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Erfolg, machen Sie weiter so!

Ich danke Ihnen vielmals. Bis bald!

Fußnote(n)

  1. Mit einem Großradius von 2,25 m (Maschinenmitte bis Plasmamitte) und einem Kleinradius von 70 cm ist Tore Supra einer der größten Tokamaks der Welt. Sein Hauptmerkmal sind die supraleitenden Toroidmagnete, die die Erzeugung eines permanenten toroidalen Magnetfelds ermöglichen. Tore Supra ist außerdem der einzige Tokamak, dessen dem Plasma zugewandte Komponenten aktiv gekühlt werden. Diese beiden Merkmale ermöglichen die Untersuchung von Plasmen mit langer Pulsdauer.[]
  2. Institut de recherche sur la fusion par confinement magnétique (Forschungsinstitut für Magneteinschlußfusion).[]
  3. Robert Aymar war fünf Jahre lang Generaldirektor des CERN (2004–2008). 1977 wurde er zum Leiter des Projekts Tore Supra ernannt, das in Cadarache (Frankreich) gebaut werden sollte. 1990 wurde er zum Direktor der Abteilung für Materialwissenschaften der CEA ernannt, wo er eine breite Palette von experimentellen und theoretischen Grundlagenforschungsprogrammen leitete.[]
  4. Der Limiter („Begrenzer“) beim Tore Supra (aus Graphit) war das Element, das den größten Teil der im Plasma enthaltenen Energie in Form eines flachen, kreisförmigen Rings im unteren Teil der Donut-förmigen Maschine entzieht. Im WEST zieht der aktiv gekühlte Divertor („Trenner“) mit 456 Komponenten am Boden des Vakuumgefäßes die bei der Fusionsreaktion entstehende Wärme und Asche ab, minimiert die Plasmakontamination und schützt die umgebenden Wände vor Wärme- und Neutronenbelastung.[]
  5. Der Großteil der industriell gefertigten Teile (u. a. 16.000 Wolframblöcke) wurde von AT&M (China) mit Unterstützung des chinesischen Labors ASIPP im Rahmen der gemeinsamen CEA-China-Zusammenarbeit (SIFFER, SIno French Fusion Energy centeR) hergestellt. Bereits im Jahr 2016 hatte das Institut für Plasmaphysik (ASIPP) der Chinesischen Akademie der Wissenschaften ICRH-Antennen (Ion Cyclotron Resonant Heating) für den Tore Supra geliefert.[]
  6. Im Dezember 2022 wurden in der riesigen Laserfusionsanlage des Lawrence Livermore National Laboratory in Livermore, Kalifornien, bei einem Experiment 2,05 Megajoule Laserenergie verwendet, um 3,15 Megajoule Fusionsenergie zu erzeugen.[]
  7. Um verschiedene Eigenschaften der Plasmastrahlung zu messen, wird ein neuer Ansatz genutzt. Die Forscher verwenden dafür ein speziell zu diesem Zweck modifiziertes Röntgengerät des Schweizer Herstellers DECTRIS.[]