Ihre Wahlniederlage am 27. September hat die christlich-liberale Koalition einer schweren Fehleinschätzung Kanzler Kohls und seiner Berater zu verdanken: Sie wollten einfach nicht wahrhaben, daß der neoliberale Regierungskurs in wichtigen Bereichen wie der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik verheerende Auswirkungen für breite Bevölkerungsteile hatte und ganze Wählerschichten verprellte. Die für den Wahlausgang maßgeblichen Stimmen wurden weniger von der SPD erobert als von der Regierung geliefert.
Programmatisch war der Wahlkampf Gerhard Schröders keineswegs attraktiv, und hier tickt eine Zeitbombe für die neue rot-grüne Regierung, denn die Enttäuschung vieler Wähler über die alte Regierung kann sich ganz schnell auf die neue übertragen, zumal auch eine Mehrheit eben keine rot-grüne Koalition wollte, sondern eine Große Koalition bevorzugt hätte. Alle breiteren Protestbewegungen aus der Bevölkerung sowie den Gewerkschaften werden sich künftig gegen eine SPD-geführte Regierung richten – und die Regierenden werden die Gründe dafür selbst schaffen, weil sich zeigen wird, wie wenig sozial die rot-grüne Allianz ist.
Bei den Sozialdemokraten sind die Grenzen zu den Grünen schon lange fließend. Eindrucksvollstes Beispiel hierfür ist der Werdegang Otto Schilys, des neuen Innenministers, der noch in den 70er Jahren zu den prominentesten Verteidigern der RAF-Terroristen und ihres Umfelds gehörte, dann die Grüne Partei mitbegründete und mit ihr 1983 in den Bundestag einzog. 1989 verließ Schily die Grünen und trat in die SPD ein, für die er seit 1990 im Bundestag sitzt, seit 1994 als stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion. In einem Interview mit der Woche vom 11. September redete Schily sogar von einem künftigen Zusammenschluß der SPD mit den Grünen. „Joschka Fischer könnte auch gut bei uns zu Hause sein, gar keine Frage. Ich kann mir sogar vorstellen, daß wir eines Tages zusammengehen. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen zu fusionieren“.
Im selben Interview sagte Schily auch: „Sicherlich hat die Linke lange Zeit Schwierigkeiten mit dem Staatsverständnis gehabt. Aber die 68er Bewegung hat schon einen gewissen Umbruch gebracht. Der lange Marsch durch die Institutionen hat dazu geführt, daß wir heute 68er als Richter und in vielen anderen Positionen im Staatsapparat haben“.
Die Krönung jenes langen Marsches durch die Institutionen, der uns schon einige rot-grüne Landesregierungen beschert hat, ist in der Tat die Bildung einer rot-grünen Bundesregierung. Auf deren Tagesordnung steht Technologiefeindlichkeit in ganz konkreter Form ganz oben: Ausstieg aus der Atomtechnik möglichst sofort, Ökologieprojekte als Arbeitsbeschaffung, Ökologiesteuer auf Energie- und Rohstoffverbrauch und Absage an Raumfahrtforschung und Rüstungsproduktion. Das wäre der Abschied von der klassischen deutschen Industriegesellschaft.
Weiterhin drohen die Abschaffung der Wehrpflicht, Umwandlung von Bundeswehr, Grenzschutz und Polizei in „ökologisch definierte“ Organisationen (Grünhelme). Vor allem droht eine Außenpolitik, die unter dem Motto „Nie wieder Deutschland“ auf die Abschaffung der noch verbliebenen, ohnehin stark eingeschränkten nationalen Souveränität zugunsten übernationaler Strukturen wie EU und UNO zielt.
Und, das darf man nicht vergessen, es droht die Legalisierung von Drogen durch Änderung des aus rot-grüner Sicht „hinderlichen“ geltenden Betäubungsmittelgesetzes. Ausgehend vom dem Antrag, den 1995 bereits die SPD-geführte Landesregierung Hamburgs im Bundesrat einbrachte, würden sich Sozialdemokraten und Grüne auf die Legalisierung von Cannabis und die staatlich kontrollierte Abgabe von Heroin verständigen. Zustände wie in Kolumbien, wo die Drogenmafia eine Symbiose mit dem Staats- und Justizapparat eingegangen ist, drohen dann auch in Deutschland.
Dazu kämen noch ungezählte Projekte für Schwule, Lesben, Punker, und natürlich der Kampf gegen Rechts auf Staatskosten – wobei jeder, der nicht für rot-grün ist, als „rechts“ eingestuft würde. In der Außenpolitik drohten Konflikte mit wichtigen Ländern wie China, weil sich die Grünen, allen voran Antje Vollmer, für den tibetischen Dalai Lama stark machen, und in der Außenwirtschaftspolitik drohte der Einbruch industrieller Exporte durch rot-grüne Exportförderung von Umwelttechnik.
Auf der rot-grünen Tagesordnung stehen weiterhin der Abbau von staatlichen Subventionen im Agrarbereich und im Verkehrswesen dort, wo es um von den Grünen und vielen Sozialdemokraten abgelehnte moderne Technologien wie den Transrapid geht. Hier, beim Thema der Magnetschwebebahn, trat ein wesentlicher Grundsatz der rot-grünen Regierungsarbeit schon bei Unterzeichnung des Koalitionsvertrages deutlich sichtbar zutage: Das endgültige Abwürgen unerwünschter Technologien und öffentlicher Ausgabenposten läuft jetzt unter dem Slogan der „Finanzierbarkeit“. Gleichzeitig legt der Koalitionsvertrag äußerste Betonung auf die „Konsolidierung“ des Haushaltes – es wird also eher weniger als mehr Geld ausgegeben werden. Da gewisse Projekte wie der Transrapid immer wieder verzögert werden, steigen auch die Kosten, und ebendiesen Anstieg der Kosten will die Regierung dann nicht mittragen. Somit droht jedem Projekt, das auch nur geringste Anteile öffentlicher Förderung aufweist, früher oder später das Aus. Gerade was den Transrapid betrifft, so ist die feindselige Haltung der neuen rot-roten Landesregierung von SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern gegen diese Technologie ein weiterer Stolperstein für das Projekt Hamburg-Berlin.
Früher, in den 70er und 80er Jahren, trugen Grüne und ökologische Sozialdemokraten ihre Proteste gegen Kernkraft und andere Technologien massiv und oft genug gewalttätig vor. Heute läuft alles im Rahmen der „neuen Scheinheiligkeit“ – man sagt, man sei nicht gegen Projekte, die schon beschlossen wurden, sondern man sagt, die „finanzielle Machbarkeit“ solle entscheiden, was aus dem betreffenden Projekt wird. Dies ist auch das Muster, nach dem die Rot-Grünen vorgehen werden, um Subventionen für Wirtschaftsbereiche wie Bergbau, Landwirtschaft und Forschung sowie staatliche Leistungen im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich drastisch zu kürzen. Neben diesem direkten Weg der Streichungen, der allerdings sehr unpopulär ist, bietet sich den Rot-Grünen der indirekte: Man wird sagen, es sei nur möglich, Streichungen in den erwähnten Bereichen zu vermeiden, wenn über Ökosteuern die „Gegenfinanzierung“ gesichert würde.
Pläne wie die des neuen Finanzministers Lafontaine zur Umstellung der Arbeitslosengeldzahlungen auf Steuerbasis werden schnell dafür sorgen, breiten Bevölkerungsschichten klar zu machen, daß die rot-grüne Finanz- und Haushaltspolitik nur die Fortsetzung der Politik der früheren, abgewählten Regierung ist. Wegen der weiter sinkenden Wirtschaftstätigkeit und weiter steigenden Arbeitslosenzahlen werden die Steuereinnahmen abfallen und die Ausgabenposten ansteigen. Zur Ankurbelung der produktiven Wirtschaft sind die Rot-Grünen ja nicht bereit, und die Pläne für Ökosteuern stellen eine weitere Belastung für industrielle Investitionen dar. Ähnlich wie im atomwirtschaftlichen Bereich, wo die rot-grünen Ausstiegspläne direkt 40.000 hochqualifizierte Arbeitsplätze vernichten könnten, sind auch die chemische und metallurgische Industrie, die eben einen hohen Energie- und Rohstoffverbrauch haben, bedroht. Der von den Rot-Grünen bevorzugte Dienstleistungssektor – aus dem ja auch die meisten ihrer Mandatsträger und Amtsinhaber kommen – schafft keine Werte, sondern sorgt nur für weitere „tote“ Kosten und vor allem für neue staatliche Subventionen. Überdies hat sich gerade in den letzten Monaten gezeigt, daß auch in den Dienstleistungsberufen ein sichtbarer Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen ist. Das Festhalten der SPD und der Grünen an den Kernelementen der Europäischen Währungsunion wird außerdem mit sich bringen, daß bis zu 150.000 weitere Arbeitsplätze im Bank- und Versicherungswesen allein in Deutschland verloren gehen.
Um die Hunderttausende Arbeitsplätze, die von rot-grüner Politik vor allem in der Industrie und im Handwerk, aber durch Haushaltskürzungen auch im Rest der Wirtschaft vernichtet würden, durch „ökologische“ zu ersetzen, bräuchte Deutschland wesentlich mehr Geld, als es hat. Die deutsche Wirtschaft würde dort, wo sie nicht schon durch Ökologie blockiert wurde, von den Unsummen ruiniert, die immer wieder in unproduktive, weil nichts produzierende Öko-Projekte gepumpt werden müßten.
„Sanfter Ausstieg“?
In diesem Zusammenhang ist der Abbau des Wirtschaftsministeriums durch die rot-grüne Koalition durchaus symbolträchtig: Wirtschaft im klassischen Sinne interessiert die neue Regierung nicht. Die Ernennung des neuen Rumpfwirtschaftsministers Müller ist ebenso symbolhaft, denn der sieht nun seine Hauptaufgabe darin, den „sanften Ausstieg aus der Kernkraft“ zu organisieren.
Von der Überzeugung geleitet, der Bürger möge zwar für Kernkraft sein, aber die sei eben (angeblich) nicht durchsetzbar, hat Müller seit Ende der 70er Jahre an maßgeblicher Stelle, wenn auch nicht so sehr wie mancher Grüne im Licht der Öffentlichkeit stehend, tatkräftig mitgeholfen, der Kerntechnik in Deutschland den Weg zu verbauen. 1978 machte Müller sich in einem Buch mit dem Titel „Entkopplung“ für die seltsame These stark, Wachstum der Wirtschaft sei ohne Wachstum der Energieerzeugung möglich. Da dies ganz nach dem Geschmack des damaligen Vorstandsvorsitzenden der VEBA, Rudolf von Bennigsen-Foerder, war, machte ihn dieser zu seinem energiepolitischen Chefberater, und damit begann der andere Teil der grünen Erfolgsgeschichte, der ohne Kollaboration Gleichdenkender im Establishment nicht denkbar gewesen wäre. Grüne Schlagworte wie Energieerzeugung durch Einsparen und erneuerbare Energien sind weniger bei den Grünen selbst als bei jenen linguistisch versierten Vordenkern in der Beraterzirkeln des Establishments entstanden. Müller, der übrigens Linguist von seiner Ausbildung her ist, kann, wenn er will, sogar für sich in Anspruch nehmen, bereits in dem erwähnten Buch von 1978 Grundlagen für das spätere grüne Konzept einer Ökosteuer entworfen zu haben. Auch der jetzt im Rahmen der frischgebildeten rot-grünen Koalition gebrauchte Begriff des „sanften Ausstiegs aus der Kernkraft“ geht auf die linguistische Vorarbeit Müllers zurück.
Dies alles lief bei Müller und seinem 1989 verstorbenen Chef Bennigsen-Foerder, die während der großen Auseinandersetzungen um die Kernenergie ab Ende der 70er Jahre stets darauf achteten, als „Vertreter der Energiewirtschaft“ und nicht der Grünen aufzutreten, unter dem opportunistischen Motto ab: Was vernünftig wäre, ist hierzulande nicht machbar. Konsequenterweise halfen Müller und sein Chef maßgeblich mit, mit dem abrupten Ausstieg der VEBA aus Kalkar und Wackersdorf diese beiden Schlüsselprojekte der deutschen Kerntechnik zu Fall zu bringen. Ähnlich hatten es zuvor ein gewisser Lothar Späth im badischen Wyhl und ein gewisser Ernst Albrecht im niedersächsischen Gorleben gemacht, auch hier mit der faulen Ausrede, Kernkraft sei eben politisch nicht machbar.
Große Teile der Energiewirtschaft wollten trotz alledem am nationalen Entsorgungskonzept und an der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf festhalten, wodurch auch die wankelmütigen Bonner Regierungspolitiker gezwungen wurden, die Förderung der Kerntechnik selbst gegen bürgerkriegsähnliche Attacken der grün-radikalen Bewegung weiterhin zu verteidigen. Im Falle Wackersdorf hielt zumal die bayerische Landesregierung fünf Jahre lang, teils unter Einsatz starker Kräfte der Bereitschaftspolizei und des Bundesgrenzschutzes, stand. Aber im Februar 1989 beschloß die VEBA auszusteigen, und im April kam dann das abrupte Aus für Wackersdorf, weil auch der Rest der Energiewirtschaft und der Bonner Politik sich aus dem Konzept verabschiedete.
Das endgültige Aus für den Schnellen Brüter in Kalkar und den HTR in Hamm waren weitere, von der VEBA eingeleitete Einschnitte in den Bestand der deutschen Kerntechnik – und Müller war immer dabei. Jetzt ist er Chef des ohnehin zugunsten des neuen Finanzsuperministers Lafontaine abgespeckten Wirtschaftsministeriums, und da sieht er seine Hauptaufgabe, wie er selbst sagte, darin, den „sanften Ausstieg aus der Kernkraft zu organisieren“.
Im neuen Umweltminister Trittin von den Grünen hat er einen tatkräftigen Mitstreiter. Im übrigen stellt der rot-grüne Koalitionsvertrag der Atomwirtschaft ein Ultimatum mit einjähriger Laufzeit, entweder freiwillig den „sanften“ Ausstieg in Absprache mit der Regierung einzuleiten oder nach Scheitern dieser „Freiwilligkeitslösung“ mit einer rot-grünen Änderung des Atomgesetzes konfrontiert zu werden. Hierbei soll der Zweck des Gesetzes von der bisherigen Förderung der Kerntechnik in das Gegenteil, nämlich den Ausstieg, umformuliert werden. Der ganze Vorgang liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie wenig die Rot-Grünen auf die Wirtschaft geben.
Und die anhaltende weltwirtschaftliche Systemkrise, wie würde eine rot-grüne Regierung darauf reagieren? Es ist kein Geheimnis, daß Radikalökologen den Zusammenbruch der Industrie und des Verkehrs im Gefolge eines Super-Crashs geradezu begrüßen würden. Sie werden also nichts zur Stützung der Wirtschaft unternehmen, und das wird die Krise nur noch verschärfen. Die medienwirksam inszenierten Polemiken Lafontaines gegen die Geldpolitik der Bundesbank und andere derartige Vorstöße können nicht verdecken, daß der Hauptaspekt dieser neuen Regierung die Drangsalierung der Bevölkerung mit allen möglichen Öko- und Einsparappellen sein wird. Was der etwas hölzerne Waigel nicht zustandebrachte, wird der demagogisch flexiblere Lafontaine durchzusetzen versuchen. Da es jetzt, nach Jahren christlich-liberal betriebener Einsparpilotprojekte, aber an die Substanz des Sozial- und Wohlfahrtsstaates geht, agiert Lafontaine auf einem Pulverfaß. Beim nächsten Marsch von Arbeitern auf die Bundeshauptstadt, ins Regierungsviertel hinein, wird es ihm als verantwortlichem Minister der Finanzen nicht mehr so leicht fallen, protestierende Arbeiter in den Arm zu nehmen, wie er das als Oppositionspolitiker in Bonn im März 1997 noch tun konnte.
Das öffentliche Geschrei über Lafontaines neueste Äußerungen zur Bundesbank, zu den Zinssätzen und zu den Wechselkursen geht an dem Kern der rot-grünen Finanz- und Währungspolitik vorbei, und der sieht die volle Beibehaltung sowohl der Maastrichter EWU-Kriterien wie auch der internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank vor. Auch hat Lafontaine immer wieder betont, er wolle keineswegs ein neues System fester Wechselkurse im Stile des alten Systems von Bretton Woods, und er hat auch stets alle Vorschläge zu staatlichen Eingriffen in den „freien“ Kapitalfluß, wie Strafsteuern gegen Spekulanten, entschieden abgelehnt. Lafontaine ist ebenso Monetarist wie Waigel oder Tietmeyer, nur seine Sprache ist eine etwas andere.
Rot-Grün ins 21. Jahrhundert? Falls sich Deutschland nicht vorher eine andere Regierung sucht, hat es mit diesen Politikern von SPD und Grünen wenig Aussicht, im nächsten Jahrhundert seine Stellung als führende Industrienation und als vorbildhafter Sozialstaat zu halten.