China und sein Deutschlandbild

Als der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Juni China besuchte, wurde er von den Chinesen mit einer Wärme und Herzlichkeit empfangen, die bisher kaum ein anderer jetziger oder ehemaliger Staatsmann erfahren hat. Warum? Sicherlich, Kohl hatte sich in seiner Amtszeit stets für eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China eingesetzt, und diesmal bemühte er sich mit deutlichen Bekenntnissen zur „Politik des einen China“ die durch separatistische Aussagen des taiwanesischen Präsidenten Lee Tenghui aufgeheizten Gemüter in Beijing zu beruhigen. Für den ungewöhnlich freundlichen Empfang gab es aber weit gewichtigere Gründe als die persönlichen Verdienste eines deutschen Politikers.

Wer China heute kennt, weiß, daß kein Land der Welt dort so hoch angesehen ist wie Deutschland. Woher kommt das außerordentlich positive Deutschlandbild der Chinesen? Eine wichtige Rolle spielt dabei der Eindruck, daß Deutschland heute ein wirklich friedliches Land ist, das die Lehren der zwei Weltkriege gezogen hat; im chinesischen Bewußtsein ist Deutschland nicht in vergleichbarem Maße wie England, Frankreich, Holland, Japan – und zunehmend auch die USA – von den negativen historischen Erfahrungen Chinas mit der Außenwelt belastet. Doch dies und ähnliches kann allein das hohe Ansehen Deutschlands in China nicht erklären.

Der Hauptgrund liegt wohl einerseits in dem außerordentlich guten Ruf der deutschen Industrie, vor allem im Bereich des Maschinen- und Anlagenbaus, wo „Made in Germany“ als fast gleichbedeutend mit durchdachtem Design, Zuverlässigkeit, Langlebigkeit und vor allem Qualität gilt; und andererseits in der im chinesischen Bewußtsein noch fest verankerten Vorstellung, daß Deutschland wie kein anderes Land in der Vergangenheit eine „Nation der Dichter und Denker“ gewesen ist. So kommt es, daß ein Helmut Kohl, der zwar gutwillig, aber nicht gerade ein geistiger Riese ist, gewissermaßen als Stellvertreter von Leibniz, Schiller, Humboldt, Gauß usw. die außerordentliche Hochachtung der Chinesen genießt.

Vor allem dieser letzte Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit, da das mit vielen Erwartungen verknüpfte Deutschlandbild der Chinesen mit dem wirklichen Deutschland von heute nur noch am Rande etwas zu tun hat und manchmal sogar zur Peinlichkeit entartet.

Seit einiger Zeit findet nämlich in den Parteien und Institutionen eine Debatte über die „Modernisierung Deutschlands“ statt, die an selbstzerstörerischer Dummheit kaum noch zu überbieten ist. Denn das, was im Namen der „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ und „Anpassung an die Globalisierung“ an forschungs-, erziehungs- und wirtschaftspolitischen Reformen diskutiert wird, ist das genaue Gegenteil dessen, was Deutschland in den Augen Chinas und anderer Entwicklungsländer, die ja den eigentlichen Markt der Zukunft darstellen, so außerordentlich wertvoll und einzigartig gemacht hat. Um hier Klarheit zu verschaffen, muß man das historische Blickfeld etwas erweitern.

Das schöpferische Element

Von der Konsolidierung des römischen Imperiums bis zur Zeit der europäischen Renaissance waren die Chinesen in Hinblick auf Technik, Wirtschaft und den allgemeinen Zivilisationsstand Europa in vielen Hinsichten überlegen. Mit der goldenen Renaissance wurde allerdings ein einmaliges schöpferisches Element der europäischen Kultur wieder aktiviert, das auf das antike Griechenland von Homer, Aischylos und Platon zurückgeht und dessen Kern in die platonische Strömung des Christentums aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Auf dieser Grundlage kam es seit der Renaissance zu einer gewaltigen Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik, welche das Menschenleben auf dem ganzen Planeten vollkommen neu gestaltete.

Während der letzten 500 Jahre haben China und die anderen nichteuropäischen Kulturen fast keine einzige neue technische Erfindung oder naturwissenschaftliche Entdeckung von größerer Bedeutung hervorgebracht (die USA gehören natürlich zum europäischen Kulturgebiet), und beinahe die Gesamtheit der Technologien, die China heute für seine industrielle und infrastrukturelle Entwicklung verwendet, sind die Früchte der europäischen Kultur und darunter nicht zuletzt der naturwissenschaftlichen Hochblüte Deutschlands, die sich im 19. Jahrhundert entfaltete.

Was in China fehlt, sind nicht in erster Linie einzelne Technologien; die Chinesen können sich solche sehr leicht aneignen. Was ihnen fehlt, ist die in Europa über fünf Jahrhunderte entwickelte kulturelle Fähigkeit, aus den schöpferischen Beiträgen von Individuen immer weitere grundlegende wissenschaftliche Revolutionen hervorzubringen und diese in neue produktive Technologiesysteme umzuwandeln. Dazu gehört auch die technisch-unternehmerische Kultur des gerade in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern einmalig hochentwickelten produktiven Mittelstands. Genau dies müßte sich China jetzt schnell aneignen, um die hohen reellen Wachstumsraten aufrechtzuhalten, die für seine wirtschaftliche und soziale Stabilität erforderlich sind.

Wenn wir hier einen kulturellen Mangel festzustellen, bedeutet dies keineswegs, die chinesische oder andere Kulturen als „unkreativ“ abzutun. Der große Leibniz sah in der klassischen chinesischen Kultur und insbesondere der Tradition, die auf Konfuzius und Menzius zurückgeht, ein wirkliches Gegenstück zur christlichen Kultur Europas. Er glaubte, daß die gegenseitige Befruchtung beider eines Tages ein goldenes Zeitalter für die Menschheit hervorbringen könnte. Einerseits hätten die Chinesen mit ihrer hochentwickelten moralischen und sittlichen Kultur den rauhen und heuchlerischen Europäern etwas beizubringen. Andererseits bestand die größte Aufgabe Europas darin, jene schöpferischen Grundideen, aus welchen der gewaltige Aufschwung der Naturwissenschaften und Technik seit der Renaissance hervorgegangen sind, an die Chinesen und andere Kulturen weiterzugeben, damit diese zum Gemeinbesitz der Menschheit werden können.

Heute, 300 Jahre nach Leibniz, ist diese große Aufgabe in keiner Weise erreicht. Schlimmer, wir sind im Westen dabei, die letzten Reste der unschätzbaren Renaissancekultur im eigenen Haus zu vernichten. Die heutigen Debatten um die „Modernisierung“ des deutschen Erziehungssystems – das von den angeblichen „Altlasten“ des einmalig erfolgreichen Humboldtschen Erziehungskonzepts endgültig „befreit“ werden soll – verkörpern die ganze Misere.

Denn das Geheimnis des ganzen wissenschaftlichen Aufschwungs seit der europäischen Renaissance, einschließlich der Hochblüte in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, liegt in der untrennbaren Einheit von klassischer Kultur und Naturwissenschaft. Ohne den Einfluß von Lessing und Moses Mendelssohn, ohne die „Weimarer Klassik“ von Schiller, Goethe und ihrer Freunde und vor allem ohne die Bemühungen Wilhelm von Humboldts, Schillers „Ästhetische Erziehung des Menschen“ in einem allgemeinen Bildungssystem zu realisieren, wäre Deutschland nie zum weltweiten Mittelpunkt der revolutionärsten Entwicklungen in der Physik, Chemie und anderen Naturwissenschaften geworden. Das Potential, ein Genie zu werden, ist in allen Menschen gleichermaßen angelegt; doch dieses Potential möglichst weitgehend und in möglichst vielen Individuen zu Geltung zu bringen, ist der Erfolg einer Renaissancekultur, deren mächtigstes Mittel in den klassischen Prinzipien von Poesie, Drama, Musik und bildender Kunst zu finden ist. Sie fordert den Geist heraus, wahre Ideen zu erfassen, zu schaffen und in anderen Menschen hervorzurufen.

Eben diese Tradition Deutschlands und Europas wird von den Chinesen und anderen, meistens ohne sie wirklich zu kennen, sehr geschätzt, von manchen Deutschen aber, die sie eigentlich bestens kennen sollten, leider als „überholt“ betrachtet. Ist die Zeit nicht längst gekommen, sich in dieser verarmten Welt auf den wahren Reichtum zurückzubesinnen?