In FUSION 2/1999 eröffneten wir eine neue Kategorie, der wir damals den Arbeitstitel „Das A-Klasse-Syndrom der deutschen Wirtschaft“ gaben. Wir wollten aufzeigen, wie mit neuen Management- und Benchmarking-Methoden, durch die „Globalisierung“ und den Einzug des „Informationszeitalters“ altbewährte Methoden der industriellen Entwicklung einem sinnlosen finanzideologischen Fanatismus geopfert werden. Seitdem sind die Folgen dieses Denkens in neoliberalen Kategorien der „schlanken Wirtschaft“ und der „Shareholder Value“ noch viel dramatischer geworden. Man kann ohne Übertreibung sagen: Neoliberalismus tötet!
Wir haben es mit einem gefährlichen, manchmal tödlichen Virus zu tun, der die Grundlagen unserer Wirtschaft von der Infrastruktur und dem Bildungswesen bis hin zu Wissenschaft und Produktion zu zerstören droht. Die apokalyptischen Schreckensszenarien, die auf das sogenannte „Jahr-2000-Problem“ geschoben werden, entsprechen genau den Symptomen dieses Virus, der sich seit einiger Zeit ungehindert ausbreitet.
Als Teil der Privatisierungsorgie im Infrastrukturbereich von Verkehrsbetrieben bis zur Wasser- und Energieversorgung werden Sicherheitsvorschriften entweder aufgehoben oder im Rennen um Wettbewerbsvorteile einfach ignoriert. Kürzungen bei öffentlichen Infrastrukturinvestitionen sowie bei den Gesundheits- und Bildungsausgaben, wie sie von den Befürwortern des Neoliberalismus immer wieder gefordert werden, erhöhen den Schaden weiter.
In der Industrie werden Fachkräfte zunehmend durch „Informationsmanager“ ersetzt, die neue Produkte nicht mehr in realen Versuchsreihen erproben, sondern den Forschungs- und Entwicklungsprozeß der „virtuellen Realität“ digitalisierter Computersimulationen überlassen. Menschliche Erkenntnisfähigkeit, die eigentliche Quelle für Gewinne in jeder erfolgreichen Volkswirtschaft, wird so aus Kostengründen „wegrationalisiert“. Unerwartete Ergebnisse in Experimenten, die den bestehenden Wissensrahmen sprengen und damit zum Ausgangspunkt für weitere technische und wissenschaftliche Neuerungen werden könnten, sind nicht länger erwünscht – und kommen auch gar nicht mehr vor, wenn keine wirklichen Versuche mehr stattfinden.
Nachdem viele Länder in der Dritten Welt und in Osteuropa durch „Schocktherapie“ und deregulierte Finanzmärkte zugrunde gerichtet wurden, bedroht die Seuche des Neoliberalismus, wenn sie nicht energisch bekämpft wird, nun die gesamte industrialisierte Welt.
Die noch etwas gebremste neoliberale Politik der Regierung Kohl wird nun von der rot-grünen Koalition unter dem Etikett des Blairschen „Dritten Weges“ geradezu fanatisch fortgesetzt. Genau diese neoliberale Orientierung hat den Sozialdemokraten bei den letzten Wahlen Schlappe um Schlappe beschert, und es mehren sich die Zweifel, ob sich Kanzler Schröder und seine Regierung überhaupt bis ins Jahr 2000 werden halten können.
Auf den folgenden Seiten wollen wir einige weitere Schlaglichter auf die jüngsten Auswüchse des Neoliberalismus werfen.
- Der schwere Unfall in dem japanischen Brennelementewerk von Tokaimura war die zwangsläufige Folge eines rigorosen Sparkurses und der daraus resultierenden fahrlässigen Umgehung bestehender Sicherheitsstandards.
- Das schwere Eisenbahnunglück bei London am 5. Oktober geht eindeutig auf das Konto der radikalen Privatisierungspolitik, in deren Zuge es „zu teuer“ wurde, wichtige Investitionen in die Bahninfrastruktur zu finanzieren.
- Die großen deutschen Automobilkonzerne, die bisherigen Garanten für solide Produktionen, samt ihren Tausenden hochspezialisierten Zulieferern und Maschinenbauunternehmen, präsentieren derzeit ein Automodell nach dem anderen mit erheblichen technischen Mängeln: zuerst Mercedes mit seiner A-Klasse, dann der „Smart“ und jetzt der Audi TT, der sich bei hohen Geschwindigkeiten als aerodynamisch instabil erweist. Noch vor wenigen Jahren wären solche „Pannen“ undenkbar gewesen.
- Von der „Fusionitis“ im industriellen Bereich wollen wir nur die Elefantenhochzeit zwischen Hoechst und Rhone-Poulenc Anfang 1999 herausgreifen, bei der in der Person des neuen Aventis-Chefs Dormann das fatale Denken in reinen Finanz- und Rentabilitätskategorien am klarsten zum Ausdruck kommt.
Auf die Pannenserie in der amerikanischen Raumfahrt im Zuge abgespeckter Billig-Missionen sind wir bereits in FUSION 2/1999 eingegangen. Besonders peinlich war in der Zwischenzeit der Verlust des Mars Climate Orbiter, der auf eine falsche Umlaufbahn um den Mars gelenkt wurde, weil bei der Programmierung des Leitsystems metrische und amerikanische Maßeinheiten vermischt worden waren. Überdies verlor das Infrarot-Teleskop der NASA WIRE sein Kühlmittel und begann wild zu rotieren, und der deutsche Satellit Abrixas ging im Weltraum verloren, nachdem seine Energieversorgung ausfiel. Pannen bei Weltraummissionen können zwar nie ganz ausgeschlossen werden, aber die jüngste Reihe von Fehlschlägen sprengt den normalen Rahmen bei weitem.