Dr. sc. nat. Walter Rüegg ist Kernphysiker mit einem starken Interesse an der Strahlenbiologie. Er war 20 Jahre lang an der ETH Zürich und am Schweizerischen Institut für Nuklearphysik (SIN), heute Paul-Scherrer-Institut (PSI), in der Grundlagenforschung tätig und arbeitete später im Bereich Elektronik und Messtechnik der Asea Brown Boveri (ABB). Als langjähriger Chefphysiker der Schweizer Armee hat er sich intensiv mit der Radioaktivität und ihren Wirkungen auf Mensch und Umwelt befasst. Heute ist er selbständiger Berater und Entwickler elektronischer Systeme für die Energietechnik, unter anderem auch für Windenergieanlagen.
Die Radioaktivität ruft bei den meisten Menschen große Ängste hervor. Einer der Gründe dafür ist, daß man Radioaktivität mit der Atombombe verbindet. Kein Zweifel, solche Bomben können grauenhafte Zerstörung und grenzenloses Leid verursachen. Im krassen Gegensatz zur allgemeinen Meinung spielt dabei aber die Radioaktivität nur eine Nebenrolle. In Hiroshima waren Hitzestrahlung, Druckwelle und Feuersturm die Ursache von 90–95 % aller Opfer (inklusive aller Langzeitopfer). Die extrem starke, etwa eine Sekunde lang dauernde Hitzestrahlung führte zu fürchterlichen Verbrennungen. Sie hatte eine tödliche Reichweite von etwa 2 km (ungeschützte Personen im Freien). In einem Umkreis von ebenfalls etwa 2 km kollabierten alle der damals üblichen Holzhäuser, die meisten Bewohner wurden von den Trümmern erschlagen oder verbrannten im kurz darauf entstandenen Feuersturm. Die intensive nukleare Strahlung hatte eine tödliche Reichweite von 1 km (ungeschützt) und dauerte etwa eine Sekunde, danach erfolgte praktisch keine weitere Bestrahlung. Der Grund: Ein nennenswerter Fallout fand nicht statt. Die Bombe wurde so hoch gezündet, daß die gasförmigen, radioaktiven Bombenreste den Boden bei weitem nicht erreichten und mit dem Feuerball in die höheren Schichten der Atmosphäre aufstiegen. Und der schwarze Regen? Er verdankte seine Farbe den Rußteilchen des Feuersturms. Die Radioaktivität war, wie viele wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder von neuem bestätigen, vernachlässigbar.
Unser Wissen über die Folgen einer radioaktiven Bestrahlung beruht vor allem auf zwei Quellen: Den äußerst gründlichen Untersuchungen der Überlebenden und ihrer Nachkommen von Hiroshima und Nagasaki (kurze externe Bestrahlung) und den ebenfalls sehr gründlichen Studien der Radiummalerinnen (kontinuierliche interne Bestrahlung). Dazu kommen Tausende von Humanstudien über gewollte und ungewollte Bestrahlungen mit sehr widersprüchlichen Resultaten (meist kleine Dosen, viele Fehlerquellen). Tierversuche und mikrobiologische Studien ergeben in der Regel eindeutige Resultate, die Übertragbarkeit auf den Menschen ist aber umstritten.
Die Radiummalerinnen der 1920er Jahre mußten radioaktive Leuchtfarbe auf die Ziffern von Uhren malen. Dabei spitzten sie die Pinsel mit ihren Lippen, wodurch beachtliche Mengen hochradioaktiven Radiums in den Körper gelangten und dort jahrelang wirkten. Das Resultat: Hunderte von Strahlenkranken und über 100 Todesfälle. Die gesamte Strahlenbelastung, inklusive der aller Uhrenträger, überstieg diejenige von Tschernobyl. Die nachfolgenden Studien zeigten, daß der Körper bei zeitlich verteilter Bestrahlung erstaunlich hohe Dosen ohne negative Folgen tolerieren kann. Erst ab einer relativ hohen Strahlenintensität kommen die Reparaturmechanismen nicht mehr nach, die Krebswahrscheinlichkeit macht einen Sprung nach oben. Dieser betrug bei den Radiummalerinnen etwa 30%, die entsprechende akkumulierte Dosis lag bei über 100 Sv (ein Mehrfaches der tödlichen „Hiroshima“-Schockdosis von etwa 5 Sv). Mit Sievert (Sv) mißt man heute die erhaltene biologisch relevante Strahlendosis.
Ein noch erstaunlicheres Resultat: Unterhalb der Schwellendosis zeigten sich weniger Krebsfälle als erwartet, eine Bestrahlung kann also auch krebsunterdrückend wirken. Diese Resultate wurden durch viele Tierversuche bestätigt.
Im Gegensatz zur Stufencharakteristik bei einer verteilten Bestrahlung zeigten die Studien bei den Atombombenopfern einen linearen Zusammenhang zwischen der einmaligen schockartigen Strahlendosis und Krebs (doppelte Dosis = doppeltes Risiko). Bei einer sehr hohen (aber nicht tödlichen) Schockdosis muß man mit etwa dem doppelten Krebsrisiko gegenüber dem „normalen“ Krebsrisiko rechnen. Unterhalb 0,1 Sv, etwa 2% der tödlichen Schockdosis, konnten keine negativen Effekte gefunden werden.
Aufgrund des Vorsorgeprinzips nehmen heute alle Strahlenschutzbehörden vorsichtshalber an, daß trotzdem ein kleines Risiko besteht, selbst bei einer verteilten Bestrahlung weit unter der Schwellendosis. Dies führt zur oft gehörten Aussage, daß auch die winzigste Dosis schädlich sei. Dabei wird übersehen, daß ein allfälliges Risiko ebenfalls winzig wäre, viel kleiner als praktisch alle anderen „normalen“ Alltagsrisiken.
Und so kommt es, daß man sich heute vor jedem einzelnen Strahlenteilchen fürchtet. Man vergißt dabei völlig, daß wir von der natürlichen Radioaktivität aus unserem eigenen Körper, aus dem Boden, der Luft und dem All ununterbrochen heftig bestrahlt werden. Jede Sekunde werden wir von etwa 20.000 Strahlenteilchen getroffen. Je nach Zusammensetzung des Untergrundes können es auch weit über 100.000 sein. Doch selbst dann zeigen sich keine negativen Effekte, ganz im Gegenteil. So ist es wohl kein Zufall, daß viele der bekanntesten Kurorte ausgerechnet an solchen Stellen entstanden. Diese natürliche Radioaktivität verdanken wir unter anderem dem Uran in unseren Böden (im Durchschnitt etwa 5 Gramm pro Kubikmeter!) sowie den kosmischen Strahlen. Gewiß ist die Radioaktivität unheimlich: Weder sieht, hört noch fühlt man sie. Aber dasselbe gilt auch für viele andere Giftstoffe, die zudem oft wesentlich stärker wirken.
Gesundheitliche Risiken von kleinen und von mittleren (verteilten) Dosen sind, nach bestem Wissen und Gewissen, nicht vorhanden. Aber selbst bei übervorsichtigen, pessimistischen Annahmen wären sie verschwindend klein gegenüber anderen Alltagsrisiken und Umwelteinflüssen. Es wäre angezeigt, daß Gesundheitsbehörden, Politiker und Medien diese Zusammenhänge transparent machen und sachliche Risikovergleiche anstellen.