Der Epigraphiker Barry Fell – Biographie eines Renaissance-Menschen

Die Erinnerungen eines Sohnes an einen bemerkenswerten Vater, der viele zuvor unbekannte Schriften entzifferte und so die wahre Geschichte Polynesiens und der antiken Erforscher der Neuen Welt entdeckte.


Wenn man Barry Fell beschreiben will, muß man am besten den Begriff „Akademiker“ verwenden, denn er läßt sich nicht als Autorität einer bestimmten Disziplin einordnen; seine Leistungen erstrecken sich auf mehrere Bereiche. Barry war ein innovativer und kreativer Forscher und Denker. Es gelang ihm, Verbindungen zu entdecken, wo andere sie nicht einmal vermutet hätten.

Howard Barraclough (Barry) Fell (1917-1994). Eingerahmt ist die Plakette mit Schriftzügen von den Osterinseln, die Fell 1988 entzifferte.

In jedem seiner weiten Forschungsfelder modifizierte er weitgehend die zu seiner Zeit vorherrschenden Konventionen und anerkannten Theorien oder stieß sie vollständig um. Er erzeugte viele Kontroversen und intellektuelle Debatten. Seine Erkenntnisse und Schlüsse wurden von einigen begrüßt und von anderen respektiert, aber er wurde auch bekämpft und von den Gralshütern des Status quo verdammt, wenn seine „Häresien“ die Fundamente der akademischen Lehrmeinung untergruben, auf denen ihre Karriere und Reputation beruhten.

Das Forschungsgebiet, dem er sich in seinen letzten 25 Lebensjahren widmete, war die Epigraphik – die Entschlüsselung, Analyse und Übersetzung antiker Schriften. Neben ihrer sprachlichen Komponente hat die Epigraphik noch eine weitere Eigenschaft: Sie verwandelt unbekannte Geschichte oder Vorgeschichte in Geschichte. Vor allem dieser letzte Aspekt ärgerte die Historiker und Archäologen. Wenn ein kulturelles Fundstück eine Geschichte erzählen kann, so kann dies auch eine Inschrift – und das in noch viel stärkerem Maße, denn oft ergeben sich daraus Hinweise auf kulturelle Querverbindungen, die ein materielles Fundstück nicht geben kann.

Archäologen, Historiker und Linguisten, die über ihre intellektuellen Monopole wachten, sahen sich plötzlich von Außenstehenden überflügelt, denen Barry Fell den Weg wies. Die herkömmlichen Archäologen fragten: „Welche Qualifikation kann ein Meeresbiologe – selbst wenn er Professor in Harvard war – schon haben, wenn es darum geht, die Verbreitung antiker Sprachen und ihre daraus abzuleitenden prähistorischen Wanderungen zu untersuchen?“

Für jene, die Barry Fell kannten, stellte sich diese Frage überhaupt nicht. Die Idee, daß er gleichermaßen Epigraphiker und Biologe sein konnte, war selbstverständlich; und er hatte nicht nur diese, sondern noch viele andere Fähigkeiten. Barrys herausragendes Kennzeichen war die innovative und multidisziplinäre Natur seiner fachlichen wie technischen Kenntnisse. Im Nachhinein zeigen später entdeckte Daten, daß er sich wohl in manchen Details irrte, aber Quantensprünge in die richtige Richtung machte. Seine Kritiker bemängeln Kleinigkeiten, ohne seine Thesen widerlegen zu können.

Barry war nach formalen akademischen Maßstäben Zoologe und Ozeanologe. Er war aber auch Anthropologe, Linguist und Epigraphiker, und er trug noch eine Reihe weiterer akademischer Hüte. Er war Radaringenieur. Er kannte sich in Kultur und Literatur der alten Griechen aus. Er kannte große Teile von Homers Werken auswendig, und er las gerne Platon, Sokrates und andere alte Griechen in ihrer Originalsprache. Er hatte eine natürliche Sprachbegabung. Er war ein Lehrer und Mentor, manchmal freundlich, geduldig und unterstützend, manchmal aber auch scharf und streng. Er war arbeitssüchtig. Er konnte lange Zeit rund um die Uhr arbeiten, und machte oft nur ein Nickerchen über seiner Schreibmaschine. Er hatte eine enorme Konzentrationsspanne und konnte unter fast allen Bedingungen arbeiten – außer bei heißen Wetter.

Barry konnte ein fertiges Manuskript aus dem Kopf herunterschreiben. Er hatte ein enzyklopädisches Gedächtnis. Er las und verarbeitete gewaltige Informationsmengen und hatte ein erstaunliches Erinnerungsvermögen. Er war ein fabelhafter Dozent, der komplizierte Gegenstände klar und einfach darstellen konnte, und er schmückte seine Vorträge mit zahlreichen interessanten Streiflichtern aus. Er war unverwüstlich in seinen Debatten, wobei ihm seine Fähigkeit, Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen und zu artikulieren, zugute kam. Er war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften und übte darin mehrere Funktionen aus. Er wurde mit vielen akademischen Medaillen, Preisen und Ehrenmitgliedschaften ausgezeichnet – unter anderem mit der Ehrenbürgerschaft des Stammes der Cherokee und der Rapa Nui. Als er zur Veröffentlichung und Diskussion seiner Ideen über Epigraphik, Linguistik und Kultur im breiteren und interkulturellen Zusammenhang kein Forum und Sprachrohr fand, gründete er zu diesem Zweck eine eigene akademische Gesellschaft.

Er liebte klassische Musik, vor allem J.S. Bach und dessen Kantaten, Händel, gregorianische Gesänge, Mozart und Strawinski. Er spielte Flöte, Blockflöte und Klarinette, und er baute sich sein eigenes Cello, als er keines fand, das er hätte kaufen können. Er schrieb geistreiche und humoristische Gedichte und machte gerne Wortspiele, oft zwischen verschiedenen Sprachen. Er war auch Bildhauer, Künstler und Holzschnitzer. Er interessierte sich für Eisenbahnen und Schiffe, aber er haßte Flugzeuge und das Fliegen, Autos und das Autofahren. Er liebte es, im Garten zu arbeiten, und war ein fanatischer Tomatenzüchter. Er liebte Katzen und nahm die größten Unannehmlichkeiten seiner samtpfotigen Mitarbeiter hin, die unbedingt seine Schreibtische und Stühle mit ihm teilen wollten. Er war auch Astronom. Er sammelte Bücher, Teleskope, Muscheln, Bücher, Meteoriten, Fossilien, zoologische und anthropologische Artefakte, Bücher, Mineralien, Münzen, Briefmarken und noch einmal Bücher.

Eine polynesische Detektivgeschichte

Barry Fell betrachtete seine polynesischen Studien als sein epigraphisches Hauptwerk. In unterschiedlicher Form durchzogen diese Studien sein gesamtes Leben, und sie waren die Synthese zahlreicher Elemente, die zusammenpaßten wie die Teile eines Puzzlespiels. Es war eine Detektivgeschichte, in der die Beweise Stück für Stück durch Entdeckungen, die Umstände des Vorkommens, Ableitung und Hypothesen aufgedeckt wurden. Diese Detektivgeschichte ist eigentlich Barry Fells Biographie, denn vieles, was nötig war, um dieses Endergebnis zu erreichen, ergab sich aus Ereignissen in seinem Leben.

Barry Fell betrieb praktisch sein Leben lang Sprachstudien, die ihn schließlich 1970 zur Epigraphik führten. Er hatte zwei Forschungsgebiete: Zunächst und vor allem waren das Maori und andere polynesische Dialekte und deren Herkunft. Später kamen die Überreste alter Sprachen in den Amerikas und Europa hinzu. Vor allem die nordamerikanischen Studien wurden zum Anlaß von Kontroversen, Lob und Verdammung, obwohl sie seiner Ansicht nach nur ein Nebenaspekt seiner polynesischen Studien waren. Was seine amerikanischen Studien angeht, so war er der Meinung, daß auch andere früher oder später zu den gleichen Resultaten gekommen wären, hätte nicht er als erster das Ziel erreicht.

Zu seinen Erfolgen trugen innere Faktoren bei, aber auch Umstände und Gelegenheiten, die sich ihm in seinem Leben boten; glückliches Zusammentreffen mit geeigneten Lehrern und Mentoren (die zum Teil brillant waren) und schieres, unglaubliches Glück.