1996 jährt sich zum 400. Mal die Veröffentlichung von Keplers grundlegendem Werk Mysterium Cosmographicum. Dieses besondere Ereignis ist uns Anlaß, eine ganze Ausgabe von FUSION dem Werk dieses genialen Naturforschers zu widmen. Wir haben uns dazu nicht entschlossen, weil auch andere in diesen Tagen Kepler ihre (oft nicht sehr glaubwürdige) Reverenz erweisen; das Werk und vor allem die Denkweise Keplers ist seit Gründung des Magazins FUSION vor 16 Jahren eine der Säulen unserer wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit.
Nachdem wir bereits im letzten Jahr Auszüge aus Keplers Mysterium Cosmographicum samt einiger begleitender Anmerkungen veröffentlicht haben (Nr. 2/1995), enthält diese Ausgabe eine umfangreiche Auseinandersetzung Keplers mit Aristoteles. Und zwar drucken wir die von Kepler selbst angefertigte Übersetzung „Aus dem zweiten Buch des Aristoteles von der oberen Welt“ mit Keplers teilweise sehr ausführlichen Anmerkungen ab, um dem Leser ein Verständnis davon zu geben, wie tiefgehend Kepler mit erkenntnistheoretischen Fragen vertraut war. Der „große“ Aristoteles erscheint aus der Sicht Keplers als ausgesprochen borniert, und das nicht nur in bezug auf einzelne fehlerhafte Argumente, sondern in seiner ganzen Denkweise.
Der Begründer des Fusions-Energie-Forums Lyndon LaRouche stellt in seinem Beitrag über den „Betrug der algebraischen Kausalität“ diesen grundlegenden Streit in der Wissenschaft aus der Perspektive der mathematischen Physik dar, so wie ihn auch Leonardo da Vinci, Nikolaus von Kues, Bernhard Riemann und andere in dieser Denktradition verstanden haben. Es ist ein Zeichen für die heutige empiristische Verflachung der Wissenschaft, daß dieser Streit um die Erkenntnismethode, um diesen axiomatisch unüberbrückbaren ontologischen Unterschied zwischen Newtons „Kausalursache“ und Keplers „Vernunftgrund“ oftmals gar nicht mehr wahrgenommen wird. LaRouche bezieht in dieser Frage eine eindeutige Position: „Der Ursprung dieser Auseinandersetzung liegt darin, daß alle modernen Aristoteliker und andere philosophischen Materialisten entweder die Existenz der Kreativität gänzlich leugnen oder dieser – wie René Descartes oder Immanuel Kant – nur eine Existenz in der dem Verstand unzugänglichen Domäne des Aberglaubens einräumen: Entweder als Kantscher Intuitionismus oder ganz extrem im Gefolge des Orphischen Kults als gnostischer deus ex machina.“
Ganz praktische Bedeutung hat diese Feststellung darin, daß große Teile selbst der „Naturwissenschaft“ heute als Umweltideologie daherkommen, und es nur noch eine Anschauungsfrage ist, ob man an das „Ozonloch“, den „Treibhauseffekt“ oder ähnliches glaubt.
Im Gegensatz dazu bedeutet Vernunftgrund, wie Platon, Nikolaus von Kues, Leonardo da Vinci, Kepler oder Leibniz diesen Begriff verwenden, die „strenge Anwendung jeder Fähigkeit zur Entdeckung gültiger Prinzipien, die dem entsprechen, was wir als ,Hypothesen‘ bezeichnen“, schreibt LaRouche.
Im Kepler-Jahr wollen wir aber nicht nur den Blick zurück richten, sondern auch den Versuch unternehmen, die heutige Astronomie mit den Augen Keplers zu betrachten. Lothar Komp regt in seinem Artikel über das „Periodensystem der Monde und Planeten“ an, einmal Computersimulationen und Modellrechnungen mit modernsten Rechenmaschinen ein Weilchen ruhen lassen und vorurteilsfrei die charakteristischen Ordnungsmerkmale des Sonnensystems samt ihrer Entdeckungsgeschichte in Augenschein zu nehmen. Denn die Simulation des Sonnensystems sei inzwischen zum Tummelplatz von „Chaosforschern“ geworden, die nicht viel Aufhellendes beitragen können, außer den Absatz hochauflösender Farbbildschirme zu fördern.
Mit vielen Beispielen aus neuesten astronomischen Beobachtungen veranschaulicht Komp Keplers zentrale Hypothese von harmonischen Prinzipien, welche der Komposition des Sonnensystems zugrundeliegen – im krassem Gegensatz zu den entropischen Vorstellungen moderner physikalischer Theorien.
Nicht zuletzt aufgrund der vielen neuen Erkenntnisse, die uns das Hubble-Weltraumteleskop geliefert hat, ist insbesondere die Astronomie in eine Umbruchphase eingetreten. Viele „eherne Gesetze“ geraten ins Wanken, und neue Hypothesen über den Aufbau des Universums sind dringend erforderlich. Soviel wir auch die heutige Krise der Wissenschaft beklagen, sie bietet auch eine Chance, vielen angesammelten Ballast der Vergangenheit abzuwerfen und eine wissenschaftliche und kulturelle Renaissance einzuleiten, die der Keplerschen Denkmethode wieder zum Durchbruch verhilft.