Afghanistans Transformation durch regionale Konnektivität

Stephan Ossenkopp, stellvertretender Vorsitzender der BüSo, hat den folgenden Vortrag am 16. Februar auf einem Online-Seminar der BüSo mit dem Titel „Frieden durch Entwicklung in Afghanistan und im Nahen Osten“ gehalten. Als Teil einer Delegation des Schiller-Instituts bei einer von der Ibn-e-Sina Research and Development Organization ausgerichteten Konferenz in Kabul, Afghanistan, vom 6. bis 8. November 2023 hatte er bereits dazu gesprochen. Der folgende Text ist eine bearbeitete Abschrift seines Vortrags vom 16. Februar.


Meine Beobachtung ist, dass Afghanistan in der deutschen Politik thematisch nur eine marginale Rolle spielt – höchstens als sicherheitspolitisches Thema, wenn überhaupt. Angesichts der Tatsache, dass die Bundeswehr 20 Jahre lang im Rahmen von NATO-Einsätzen dort eingesetzt war, verdient Afghanistan einen viel grösseren Platz im deutschen politischen Diskurs. Deutschland hat für diesen Einsatz Milliarden von Euro ausgegeben und versprochen, das Land irgendwie so zu entwickeln, dass es hinterher besser dasteht als vorher. Aber nach dem überstürzten Abzug kann davon heute keine Rede mehr sein. Anstatt produktiv mit diesem Thema umzugehen, wird Afghanistan mit einem Bann belegt, mit einem absoluten Tabu, und jeder Kontakt mit den dortigen Regierungsstellen ist nicht erwünscht.

Stephan Ossenkopp in Afghanistan | Bild: Schiller-Institut
Stephan Ossenkopp in Afghanistan | Bild: Schiller-Institut

Das kann nicht so bleiben. Hier in Deutschland leben viele Tausend Deutsch-Afghanen, und einige von ihnen werden auch heute hier sprechen; sie sind gut integriert und weltweit vernetzt. Und sie alle wollen, dass ihr Land aufgebaut wird. Da liegt also ein unglaubliches Potential, das wir ausschöpfen sollten, anstatt jetzt im Rahmen der Diskussion über Sicherheit, Flüchtlinge und Abschiebungen usw. alles in einen Topf zu werfen.

Die viel bessere Diskussion in diesem Zusammenhang wäre eine über die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans als einzig funktionierende und menschlich vertretbare Form der Verhinderung weiterer Flüchtlingsbewegungen. Das wäre auch eine angemessenere Aufarbeitung unserer 20 Jahre währenden Besatzung Afghanistans. Und deshalb haben wir von der BüSo entschieden, Afghanistan-Experten einzuladen, um über das Land zu informieren, Optionen aufzuzeigen, wie man anders über eine Lösung nachdenken kann.

Ich möchte vor allem über das Thema „Konnektivität und Afghanistan“ sprechen. Mit Konnektivität ist der Aufbau von Infrastruktur als Gerüst für jeden weiteren Schritt der Industrialisierung und jeder mechanisierten Landwirtschaft gemeint. Dabei geht es um Straßen, Bahnstrecken, städtische Infrastruktur, Wasserwege, Pipelines, Stromleitungen und vieles mehr. Ich möchte mich hier aber auf die nationale und überregionale Verkehrsinfrastruktur konzentrieren, insbesondere auf Eisenbahnprojekte. Denn diese werden die Anbindung Afghanistans an die regionalen Nachbarländer beschleunigen und damit den Im- und Export von Gütern deutlich verbessern. Gleichzeitig entstehen dadurch im Landesinneren potentielle Sonderwirtschaftszonen, regionale Landwirtschaftszentren und immer mehr Ausbildungsplätze für Facharbeiter in Landwirtschaft und Industrie, was natürlich für die Gewinnung von neuen Ingenieuren, Facharbeitern und Bauarbeitern enorm wichtig ist.

Dies muss die Grundlage sein, um hochwertige Produkte sowohl für den Verbrauch der Haushalte in Afghanistan als auch für den internationalen Handel zu produzieren.

Die Transafghanische Eisenbahn

Das erste und, wie ich finde, sogar das wichtigste große Eisenbahnprojekt für Afghanistan ist die sogenannte Transafghanische Eisenbahn. Sie ist zwar schon lange im Gespräch, aber es gab jetzt gerade am Ende des letzen Jahres eine große Expertenrunde in der usbekischen Hauptstadt Taschkent, und dort hat man eben auch über die Wirtschaftszusammenarbeit mit den Nachbarstaaten diskutiert.

Der usbekische Verkehrsminister Machkamow sagte, dass er das Projekt eines Transafghanischen Eisenbahnkorridors vorantreiben will, so dass im kommenden Jahr – also in diesem Jahr – schon der erste Spatenstich getan werden kann. Es geht um fünf Jahre Bauzeit.

Abbildung 1. Das volle Plenum der Ibn-e-Sina-Konferenz in Kabul im November 2023, an der Experten, auch vom Schiller-Institut, teilnahmen. Bild: Schiller-Institut/Stephan Ossenkopp
Abbildung 1. Das volle Plenum der Ibn-e-Sina-Konferenz in Kabul im November 2023, an der Experten, auch vom Schiller-Institut, teilnahmen. Bild: Schiller-Institut/Stephan Ossenkopp

Ich möchte Ihnen ein Bild von der Ibn-Sina-Konferenz im November 2023 zeigen (Abbildung 1), an der viele Fachleute, Leute von NGOs, von Bildungseinrichtungen usw. teil­genommen haben – auch Experten des Schiller-Instituts, von denen einige hier in der ersten Reihe zu sehen sind. Es gab Roundtable-Diskussionen über Verkehrs- und Infrastrukturprojekte, über Landwirtschaft, Gesundheit, Rohstoffe, Kultur. Ich will damit nur belegen, dass unser Ibn-Sina-Projekt schon längere Zeit läuft.

Hier (Abbildung 2) sehen wir ganz im Norden an der Grenze zu Usbekistan die Stadt Termiz, wo eine Eisenbahnstrecke beginnt, die von dort über Masar-i-Scharif nach Kabul und weiter nach Peschawar in Pakistan führt. Das ist der sogenannte Transafghanische Eisenbahnkorridor. Auf dieser Strecke können in Zukunft Güter von Usbekistan über afghanisches Territorium bis nach Pakistan transportiert werden, wobei sich die Transportzeit von derzeit 35 Tagen auf 3 bis 5 Tage verkürzen könnte. Das bedeutet natürlich, dass die Kosten für Standardcontainer massiv sinken und das Frachtvolumen massiv steigen kann, geschätzt auf über 10 Millionen Tonnen pro Jahr.

Abbildung 2. Karte des Transafghanischen Eisenbahnkorridors | Bild: Railcop.pk (Instagram)
Abbildung 2. Karte des Transafghanischen Eisenbahnkorridors | Bild: Railcop.pk (Instagram)

Dabei handelt es sich um ein 650 km langes Eisenbahnprojekt, das von Termiz über Masar-i-Scharif bis zur pakistanischen Grenze führt und dann in Pakistan an eines der Prestigeprojekte der Belt and Road Initiative (BRI), den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor, angeschlossen werden kann. Über diesen gelangt man dann an die Küste im Süden Pakistans, so dass Güter aus dem landeingeschlossenen Afghanistan, aus Usbekistan oder auch aus Kasachstan, das ja auch landeingeschlossen ist, zu den Häfen am Arabischen Meer transportiert werden können. Auf jeden Fall wird diese transafghanische Eisenbahn zu völlig neuen Beziehungen zwischen Zentralasien, Afghanistan, Pakistan, aber auch Iran und China führen – Iran im Westen Afghanistans und China im Osten Afghanistans.

Der Iran verfolgt beispielsweise schon seit 20 Jahren eine Strategie, die sich „Blick nach Osten“ nennt. Damit will man auch die Zusammenarbeit mit Afghanistan vorantreiben und zum Beispiel in den Bergbausektor investieren. Aber auch Länder wie Turkmenistan im Nordwesten von Afghanistan haben begonnen als Teil dieser Infrastrukturinitiative Gaspipelines zu bauen.

Der Wachan-Korridor und die Ringbahn

Interessanterweise haben wir erst Ende Januar von einem Projekt erfahren, das gerade vorangetrieben wird (Abbildung 3). Es wurden Feldstudien für einen Wirtschaftskorridor entlang der sogenannten Wachan-Straße angefertigt, das ist dieser 100 km breite und 350 km lange Korridor ganz im Osten Afghanistans. Nach den Feldstudien wird nun mit dem Bau dieser neuen Transitroute begonnen, und auch hier werden die Transitkosten für Güter massiv sinken. In der Presse war zu lesen, dass der Preis für einen Container Pinienkerne – ein Produkt, für das Afghanistan wegen seiner Qualität besonders bekannt ist – beim Export nach China von 65.000 Dollar auf dem Luftweg auf 5.000 Dollar auf dem Landweg sinken wird. Es können über diese Strecke natürlich auch viele andere afghanische Produkte zu wesentlich günstigeren Bedingungen nach China, dem größten Markt der Welt, exportiert werden, auch Waren aus anderen Ländern, die über Afghanistan nach China gelangen und natürlich auch in umgekehrter Richtung über denselben Landkorridor von China nach Afghanistan. Das ist ein sehr wichtiges Projekt.

Abbildung 3. Der Wachan-Korridor im Nordosten Afghanistans | Bild: Wikipedia/Chaccard
Abbildung 3. Der Wachan-Korridor im Nordosten Afghanistans | Bild: Wikipedia/Chaccard

In Abbildung 4 sieht man als blaugrüne Streckenführung die sehr wichtige zentralafghanische Ringstraße Zur Zeit ist es noch eine vierspurige Landstraße. Auf ihr soll das größte inländische Eisenbahnnetz, die Afghanische Ringbahn entstehen, was schon seit einigen Jahren diskutiert wird. Ähnliches trifft auch für viele andere Projekte zu, für den Wachan-Korridor, die Transafghanistan-Eisenbahn, aber eben auch für dieses Ringeisenbahnnetz – doch die Regierung in Kabul forciert derzeit deren Umsetzung. Es ist schon merkwürdig, dass die vom Westen unterstützten Vorgängerregierungen zwar auch zahlreiche Konferenzen abgehalten und viele Arbeitspapiere zu diesen Themen erstellt haben, es aber nie wirklich zu einem Spatenstich, geschweige denn zur Vollendung dieser Projekte gekommen ist.

Abbildung 4. Eisenbahnprojekte für Afghanistan. Bild: Afghanisches Eisenbahnamt
Abbildung 4. Eisenbahnprojekte um und für Afghanistan. Bild: Afghanisches Eisenbahnamt

Das ändert sich jetzt, und darin liegen auch Chancen für die deutsche Industrie, für den deutschen Export, entweder direkt in Afghanistan oder über Drittländer – zum Beispiel China, Usbekistan – an der Entwicklung dieser Projekte mitzuwirken und damit eine Win-Win-Situation, einen gegenseitigen Nutzen zu erzielen.

Von Masar-i-Scharif im Norden verliefe die Afghanische Ringbahn westlich nach Herat, wo eine Anbindung an den Iran erfolgen würde. Dann gäbe es eine südliche Strecke bis Kandahar, wo eine Anbindung an Pakistan möglich ist. Das Projekt soll in zwei Phasen realisiert werden, Phase 1 umfasst 657 Kilometer und Phase 2 etwa 811 Kilometer.

Gerade jetzt, Anfang Februar 2025, war in den regionalen Zeitungen zu lesen, dass eine Machbarkeitsstudie für die Eisenbahnlinie Herat-Kandahar beginnen soll. Der zuständige Minister für öffentliche Arbeiten unterzeichnete fünf Verträge im Wert von 264 Millionen Afghani mit Vertretern von fünf in- und ausländischen Unternehmen, und nach der Detailplanung sollen die Vorbereitungsarbeiten innerhalb von acht Monaten abgeschlossen sein – dann kann der Bau dieser Eisenbahn beginnen. Es wird außerdem berichtet, dass das Islamische Emirat Afghanistan insgesamt den Bau eines großen Schienennetzes anstrebt, um die regionale Erreichbarkeit zu verbessern und den regionalen Transit und Transfer durch das Land zu erhöhen.

Die Tabus durchbrechen

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie das alles verwirklicht werden soll, denn es gibt keine diplomatischen Beziehungen zu den Taliban, und der Westen hat Sanktionen gegen das Land verhängt. Das stimmt alles, und das sind alles Hürden auf dem Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen. Aber die Regierung in Kabul ist keineswegs vollkommen isoliert, sie ist es im Gegenteil immer weniger.

So hat zum Beispiel die Russische Föderation die Taliban von der Liste terroristischer Gruppen gestrichen; Kasachstan hat sich dem angeschlossen. Der Präsident von Kasachstan, Tokajew, sagte, die Taliban-Regierung in Kabul sei nun einmal eine Tatsache, die man nicht hinwegdiskutieren könne, und im Juli 2024 nahm auch erstmals eine afghanische Delegation am Sankt Petersburger Wirtschaftsforum teil, einem riesigen Wirtschaftsforum in Russland.

Im September 2023 wurde bereits ein chinesischer Botschafter in Kabul akkreditiert, und kurz danach, im Oktober 2023, hat eine Delegation aus Kabul an dem Seidenstraßen-Forum in Peking teilgenommen.

Es gibt eigentlich keinen Grund, warum Deutschland nicht auch erste Hürden wegräumen und zumindest erste diplomatische Kontakte mit Kabul aufbauen sollte. Besonders der Ausbau der Straßeninfrastruktur in Afghanistan wäre für Deutschland eine wichtige Exportchance bzw. eine Chance zur Kooperation.

Natürlich ist Afghanistan aufgrund der langjährigen Kriege, der Besatzung und der Sanktionen, der Isolation, eines der ärmsten Länder der Erde, und es ist ohne Zugang zum Meer. Die beschriebene 2200 km lange zweispurige Ringstraße ist eine der Hauptverkehrsadern des Landes. Das restliche Straßennetz muss modernisiert und ausgebaut werden. Es ist sicher ein großes Unterfangen, entlegene Orte und ländliche Gebiete miteinander zu vernetzen, aber das ist extrem wichtig, um entsprechend auch in den Regionen Unternehmen anzusiedeln und landwirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen.

Es haben bereits einige Konferenzen des Westens stattgefunden, die Afghanistan zum Thema hatten; in Doha gab es zum Beispiel einige UNO-Konferenzen, aber die sind eigentlich alle im Sande verlaufen. Erst im Juni 2024 hatte man es geschafft, überhaupt eine Taliban-Delegation hinzuzuziehen, und das wurde dann auch gleich von britischen und amerikanischen NGOs mit großem Geschrei belegt. Das ist natürlich keine Lösung.

Die Grundlage für eine eigenständige nationale Wirtschaft Afghanistans kann jetzt geschaffen werden. Es ist wichtig, dass ausländische Investoren und Technologieunternehmen Industriegüter und ähnliches nach Afghanistan liefern. Das wäre insbesondere für Deutschland, das jetzt schon im dritten Jahr seiner Rezession ist, ein extrem wichtiges Unterfangen. Gerade weil sich Afghanistan in der Region sehr vernetzt, sollte das auch bei uns ein Thema sein.

Wenn man sich mit dem Land einmal jenseits der Nachrichtensperre und Tabus beschäftigt, sind das eigentlich gute Nachrichten, denn es tut sich etwas. Und ich hoffe, dass ich hier ein wenig Licht ins Dunkel habe bringen können.

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