Der einzige Grund, warum es sich lohnt, die hier von dem Journalisten Robertson vorgetragenen Duesbergschen Argumente noch einmal aufzugreifen, liegt darin, an all jene, die sich von derlei modernem Skeptizismus angezogen fühlen, eine Warnung zu richten, die Realitäten hinter dem AIDS-Problem nicht aus den Augen zu verlieren.
In der wissenschaftlichen Welt stehen Duesberg und seine Anhänger seit längerem in jeder Hinsicht auf völlig verlorenem Posten. Durch das seit mindestens 10 Jahren gebetsmühlenartige Abspielen der immer gleichen Argumente läßt sich vielleicht eine Schar unbelehrbarer Jünger beeindrucken, aber keine wissenschaftliche Debatte führen – insbesondere wenn es um eine so überlebenswichtige Frage wie AIDS geht.
Es ist auch keineswegs so, daß Duesberg nur beim sog. „AIDS-Establishment“, das über die Vergabe der Forschungsgelder bestimmt und die jeweils „offizielle“ Meinung in der AIDS-Forschung festlegt, auf Ablehnung stößt. Er hat mehr und mehr gerade jene Virologen und medizinischen AIDS-Forscher verärgert, die auch mit vielen voreiligen dogmatischen Festlegungen des „AIDS-Establishments“ (Gallo & Co, Süßmuth-Linie etc.) nicht einverstanden sind, aber mit sinnvollen wissenschaftlichen Hypothesen der wirklichen Funktionsweise des HI-Virus auf die Spur kommen und vor allem praktikable Therapien gegen die Seuche entwickeln wollen – ein Aspekt, der bei Duesberg stets unter den Tisch zu fallen pflegt.
Robertson/Duesberg sind Meister darin, anderen die Worte im Munde herumzudrehen. Das ist das Kennzeichen all jener, die einen Fundamental-Skeptizismus betreiben und darüber vergessen, daß sich dabei die objektive Realität in einem absoluten Relativismus des permanenten Zweifels verliert. In der Endphase des alten Roms war ein Skeptizismus dieser Art besonders stark verbreitet und repräsentierte damals, wie zu allen Zeiten der kulturellen Degeneration, einen typischen Geisteszustand: Eine völlig impotente Haltung gegenüber der Realität, voller Gleichgültigkeit und Zynismus, die sich von dem innewohnenden Relativismus ableiten.
Wenn man daran zweifelt, daß das sicherlich sehr vielschichtige Krankheitsbild AIDS Folge einer Infektion ist und dabei HIV eine wesentliche Rolle spielt (mögliche Kofaktoren bei der individuellen Ausprägung der Krankheit oder sogar andere, noch nicht identifizierte Viren einmal beiseite gelassen), ist darauf angewiesen, wie manisch nach immer neuen „Faktoren“ der Krankheitsentstehung und einer immer breiteren – und damit praxisfernen – AIDS-Definition zu suchen.
Deswegen werden wir auch nicht den Versuch unternehmen, alle in der Entgegnung von Robertson/Duesberg angesprochenen Punkte zu „widerlegen“. Dies wäre ein aussichtsloses Unterfangen, da die innere Logik ihrer Argumentation immer wieder einen neuen „Faktor“ aus dem Hut zaubern würde, um bestimmte Tatsachenfeststellungen anzuzweifeln – das typische Suchtmerkmal eines Skeptikers.
Eines sollte jedoch besonders betont werden: Vor allem nach den jüngsten Erkenntnissen der AIDS-Forschung immer noch zu behaupten, es gebe keine eindeutige Beziehung zwischen dem HI-Virus und AIDS, der kann für sich keinerlei Ernsthaftigkeit mehr in Anspruch nehmen. Obgleich auch bei vielen anderen Infektionskrankheiten der genaue pathogene Mechanismus (Ätiologie) nur in Ansätzen bekannt ist, zweifelt deswegen doch niemand an der Tatsache, daß es sich dabei um Infektionskrankheiten handelt. Und gerade im Fall von AIDS gab es fast von Anfang an keinen Zweifel daran, daß wir es mit einer Infektionskrankheit, ja einer weltweiten Seuche, einer Pandemie, zu tun haben.1 Wie zu Zeiten von Robert Koch, der Ende letzten Jahrhunderts die ersten Seuchenerreger isolierte, geht es bei AIDS heute darum, die pathogenen Mechanismen einer Seuche aufzudecken, die u.a. in Schwarzafrika ganze Regionen zu entvölkern droht. Angesichts der ungeheuer komplexen Vorgänge im Zusammenhang mit HIV, dem Anfang 1983 entdeckten ersten menschlichen „Lentivirus“, mußten die Wissenschaftler völliges Neuland betreten, und es mußten Hypothesen erarbeitet werden, um zumindest die wichtigsten Mechanismen aufzuspüren, mit denen HIV das menschliche Immunsystem zerstört. In dieser Anfangsphase war es nicht nur zulässig, sondern sogar zwingend geboten, „nach allen Seiten offen“ zu sein, um den Mechanismen hinter der neuen Krankheit „AIDS“ auf die Spur zu kommen. Es mußten Fragen beantwortet werden, wie: Warum brach die Seuche zuerst unter homosexuellen Männern in Amerika aus? Warum verbreitete sich die Krankheit besonders schnell unter Fixern, die ihre Spritzbestecke teilten? Warum waren in Afrika von vorherein Frauen genauso betroffen wie Männer? Gibt es gemeinsame Krankheitsmerkmale, die „AIDS“ als eigenständige Krankheit definierten?
Spätestens als man beobachtete, daß auch Personen außerhalb der sog. „Hochrisikogruppen“ an AIDS erkrankten – Patienten, die HIV-positive Bluttransfusionen erhalten hatten, Bluter, die mit HIV-infizierten Gerinnungsfaktoren behandelt worden waren, Krankenhauspersonal, das mit HIV-kontaminiertem Blut in Kontakt gekommen war, Personen außerhalb der „Risikogruppen“, die sich über Geschlechtsverkehr infizierten – verstärkte sich der Verdacht, daß HIV eine zentrale Rolle im Krankheitsgeschehen von AIDS spielt. Alle anderen vermuteten Übertragungswege wie der „Lebensstil“ Homosexueller, Drogen u.ä. schieden nach und nach aus.2 Entscheidend war, daß der infektiöse Charakter von AIDS unbestreitbar wurde. Bei AIDS handelt es sich um eine Seuche, die sich in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich und auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ausbreitete. Keinen „Erreger“ anzunehmen, bedeutete, sich in einer unüberschaubaren Vielfalt von „Einzelursachen“ zu verlieren, bei denen lediglich eine (unbestreitbare) individuelle Erkrankungsneigung und der „Lebensstil“ eine Rolle spielen, das bereits isolierte und regelmäßig anzutreffende Virus aber lediglich ein „harmloser Begleiter“ wäre.
Neue Behandlungsansätze
In den letzten Jahren haben Mediziner und Pharmakologen gelernt, die verfügbaren antiviralen Substanzen, die teilweise ganz neu entwickelt wurden, auf eine Weise zu kombinieren, daß AIDS-Patienten eine deutlich verlängerte Lebenserwartung haben. Auch wenn niemand behaupten sollte, damit könne man AIDS-Patienten oder HIV-Infizierte „heilen“, so haben sich in vielen Fällen unter dieser Therapie die Krankheitszeichen vollkommen zurückgebildet. Der rein empirische Umstand, daß HIV-positive Patienten länger leben, wenn durch geeignete Therapien die Zahl der HI-Viren im Blut gesenkt bzw. sogar ganz zum Verschwinden gebracht wird, ist der vielleicht „schlagendste“ Hinweis darauf, daß eine unmittelbare Beziehung zwischen HI-Viren und der AIDS-Erkrankung existiert.3 Einfach gesagt: Wenn die HI-Viren aus dem Blut „verschwunden“ sind, verschwinden auch die Symptome der AIDS-Erkrankung.
Die inzwischen praktizierte Kombinationstherapie mit verschiedenen antiviralen Substanzen (zur Vermeidung von Resistenzerscheinungen) bewirkt, daß die Virusvermehrung massiv supprimiert wird, so daß ein Überleben der Patienten möglich wird. Es ist eine inzwischen regelmäßig gemachte Beobachtung, daß, wenn sich das Virus nicht mehr vermehren kann, auch niemand mehr daran stirbt.
Damit hat die AIDS-Forschung, der man sicher nicht zu unrecht Desorientierung und Planlosigkeit vorgeworfen hat, erstmals Wirkstoffe entwickelt, die bei Viruserkrankungen wirksam sind. Man braucht schon eine sehr verdrehte Logik, um nachzuvollziehen, daß Duesberg genau jene Mittel wie AZT und wohl sicher auch die neueren Medikamente (ddI, ddC, d4T, 3TC, F-ddA u.a.) als angebliche Ursache von AIDS hinstellt, wo es doch gerade die Absenkung der HI-Virusbeladung ist, die die beste Aussicht auf Besserung der Krankheitssymptome bietet.
Eine ganz andere Frage ist es, daß die neue AIDS-Therapie so teuer ist, daß sich die absolute Mehrzahl der Infizierten und Kranken vor allem in den Entwicklungsländern eine solche Behandlung nicht leisten können. Deswegen werden diese Fortschritte der AIDS-Forschung wohl solange auf den relativ kleinen Personenkreis von AIDS-Patienten in Nordamerika und Westeuropa beschränkt bleiben, bis ein preisgünstiger Impfstoff oder eine andere Präventionsmöglichkeit gefunden sein wird.
Aber selbst die Anwendung von AZT, das erste gegen AIDS eingesetzte Arzneimittel, das teilweise schwerwiegende Nebenwirkungen hat und als Monotherapie schnell Resistenzen hervorrief, war aufgrund der beobachteten (wenn auch schwachen) Anti-HIV-Wirkung gerechtfertigt. AZT verbieten zu wollen, wie Duesberg es fordert, weil es als Immunsupressivum angeblich die Ursache von AIDS sei, ist unverantwortlich und menschenfeindlich. In wissenschaftlichen Studien wurde festgestellt, daß insbesondere die Kinder von mit AZT behandelten HIV-positiven Müttern weitaus weniger AIDS entwickelt haben, als wenn die Mütter nicht mit AZT behandelt wurden.4 Mit modernen Testverfahren läßt sich inzwischen die Viruslast im Blut selbst bestimmen, und gilt als recht zuverlässige Prognose für den weiteren Verlauf der Krankheit. Hohe Viruslast hat eine schlechte Prognose, niedrige Viruslast hat eine bessere Prognose. Jeder HIV-Infizierte oder AIDS-Kranke, der derzeit eine Kombinationstherapie erhält, weiß das. Eine eindeutigere Korrelation zwischen HIV und AIDS in der Praxis läßt sich kaum vorstellen!
Beispiel Bluter
Nicht ohne Grund ist Duesberg gerade in bezug auf die Bluter, die sich durch HIV-verseuchte Blutgerinnungsprodukte infiziert haben, äußerst ausweichend. Auch in dem Robertson/Duesberg-Papier wird dieser Aspekt nicht erwähnt, an anderen Stellen verweist Duesberg gewöhnlich auf „Verunreinigungen“ der Faktor-VIII-Präparate mit Fremdeiweißen von Blutspendern.5 Je mehr solcher Blutprodukte ein Bluter erhalten habe, desto mehr „immunsuppressive“ Verunreinigungen habe er auch erhalten, die dann AIDS auslösen. HIV sei dabei nur ein „harmloser Mitreisender“, der lediglich als Index für die Zahl der Bluttransfusionen herhalten könne.
In diesem Fall wird die Duesbergsche Suche nach einem HIV-unabhängigen Faktor für AIDS tatsächlich absurd. Nicht nur bleibt relativ unklar, was er überhaupt unter diesen „Verunreinigungen“ versteht, außerdem ist mit einfachen statistischen Methoden in mindestens zwei großen Studien gezeigt worden, daß für die Infektion, spätere Erkrankung und den Tod vieler Bluter HIV und keine „Verunreinigungen“ der Gerinnungsprodukte verantwortlich ist.6
Auch ein Blick auf die Anfänge der AIDS-Ausbreitung ist aufschlußreich. 1982 begannen sich in Amerika und Europa plötzlich Berichte zu häufen, daß zunächst Patienten, die eine Bluttransfusion erhalten hatten, und kurz danach auch Bluterkranke an AIDS erkrankten. Auf einmal war eine Bevölkerungsgruppe von AIDS erfaßt, die keine der Lebensformen aufwies, die in den ursprünglichen Risikogruppen der männlichen Homosexuellen und Fixer vorherrschten. Alle diese Personen hatten nur eines gemeinsam: Sie hatten z.T. schon vor Jahren Bluttransfusionen erhalten oder waren mit Blutprodukten wie Gerinnungsfaktoren behandelt worden. Praktisch in jedem untersuchten Fall gelang es damals, die verabreichte Blutkonserve, die die Krankheit auslöste, zu einem HIV-positiven Spender aus dem Bereich der Risikogruppen zurückzuverfolgen. Sämtliche statistischen Analysen ergaben außerdem zweifelsfrei, daß die Gefahr der Bluter/Transfusionsempfänger, an AIDS zu erkranken, nicht in irgendwelchen Folgen des Lebensstils der Risikogruppen (einschließlich Drogenkonsum) zu suchen war, sondern mit dem Nachweis von HIV-Antikörpern bei den Spendern verbunden war.7
1985 wurde dann mit der systematischen HIV-Antikörper-Testung aller Blutspenden und entsprechender Aufbereitung der Gerinnungsprodukte begonnen. Was dadurch bewirkt wurde, zeigt eine Studie aus Großbritannien, bei der 6278 Bluter zwischen 1977 und 1992 untersucht wurden. Von 1979-86 wurden 1227 von ihnen durch die Therapie mit Blutprodukten mit HIV infiziert. Unter 2448 Blutern mit schwerer Hämophilie aus dieser Gruppe war die Sterberate zwischen 1977 und 1984 mit 8 pro 1000 stabil. Zwischen 1985 und 1992 blieb die Sterberate bei den HIV-seronegativen Personen mit schwerer Hämophilie unverändert, wohingegen die Sterberate unter den HIV-seropositiven steil anstieg und 1991–92 81 pro 1000 erreichte. Unter den übrigen 3830 Blutern dieser Gruppe mit mäßiger oder geringer Hämophilie ergab sich ein ähnliches Bild: Die Sterberate lag bei 4 pro 1000 zwischen 1977 und 1984, und stieg bei den seropositiven Individuen bis aus 85 pro 1000 1991–92.8
In Duesbergs Theorie kommen AIDS-Tote aufgrund infizierter Bluttransfusionen praktisch nicht vor, weil er offenbar noch keinen „Faktor“ gefunden hat, der hier als Auslöser in Frage käme. AIDS-Tote unter infizierten Krankenhausangestellten werden als beiläufig hingestellt, deren Ursache vielleicht doch in nicht entdecktem Drogenkonsum liegen könnte. Als Grund für AIDS bei Frauen, deren Männer sich als Bluter infiziert haben, wird der „normale Alterungsprozeß“ angegeben oder als Fehlklassifikation hingestellt.9
Die Kochschen Postulate
Da Robertson/Duesberg in ihrem Papier auch die Frage der Kochschen Postulate angesprochen haben, die angeblich von HIV nicht erfüllt werden, sei hier auf ein Papier des amerikanischen Instituts für Allergie und Infektionskrankheiten verwiesen, das im September 1995 unter dem Titel „Die Beziehung zwischen dem humanen Immunschwächevirus und dem erworbenen Immunschwächesyndrom“ erschienen ist.10 Dort wird auf der Grundlage neuester Untersuchungen festgestellt, daß Duesberg auch in diesem Punkt Unrecht hat. Robert Koch hatte Ende des letzten Jahrhunderts folgende Bedingungen für Infektionskrankheiten definiert: 1. Der Mikroorganismus muß in allen an ihm Erkrankten nachzuweisen sein. 2. Er muß aus dem Wirtsorganismus isoliert und in Reinkultur gezüchtet werden können. 3. Er muß die ursprüngliche Krankheit erneut auslösen, wenn er auf einen neuen für ihn empfindlichen Wirt übertragen wird. 4. Er muß in dem so infizierten Wirt aufgefunden werden.
Mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) ist die Gegenwart von zellgebundenem wie zellfreien HIV (als RNA oder Provirus-DNA) in praktisch allen Patienten mit AIDS sowie in Personen in früheren Stadien der HIV-Infektion nachgewiesen worden. Auch verbesserte Kultivierungstechniken haben dazu geführt, daß inzwischen in praktisch allen AIDS-Patienten sowie in fast allen seropositiven Personen HIV isoliert werden konnten.11
Außerdem wird die Krankheitsgeschichte von drei Laboranten ohne andere Risikofaktoren genannt, die AIDS bzw. eine schwere Immunsuppression entwickelten, nachdem sie mit einem reinen, molekular geklonten HIV-Stamm (Typ HIVIIIB) in Kontakt gekommen waren. Bei allen betroffenen Laboranten wurden die vier Kochschen Postulate erfüllt. Zwei von ihnen infizierten sich 1985, einer 1991. Alle drei zeigten eine deutliche Minderung der CD4+ T-Zellen, bei zweien sank der Wert auf unter 200/mm3 Blut. In allen drei Fällen wurde HIVIIIB isoliert, sequentiert und als ursprünglicher infektiöser Virusstamm wiedererkannt. Zwei der Infizierten wurden zudem sehr lange nicht mit AZT behandelt, das Duesberg ja als Ursache von AIDS hinstellt, und keiner hatte sonst irgendwelche „Risikofaktoren“.12
Unabhängig von diesen deutlichen Beweisen klingt das Bestehen auf unbedingter Erfüllung der Kochschen Postulate stark nach Fundamentalismus, denn einmal bezog Robert Koch sie nur auf bakterielle Infektionen (Viren, die bis vor kurzem nicht oder nur extrem schwer zu kultivieren waren, waren zu seiner Zeit noch gar nicht bekannt) und zum anderen sind sie auch bei einigen anderen Infektionskrankheiten nicht letztlich erfüllt. Außerdem ist Koch selbst am Ende seines Forscherlebens von seinen eigenen Regeln abgegangen, beispielsweise um der Ursache der Cholera auf die Spur zu kommen.13
Im Zusammenhang mit den Kochschen Postulaten machen Robertson/Duesberg geltend, daß HIV beim Schimpansen kein AIDS auslöse; damit sei das 3. Kochsche Postulat nicht erfüllt und somit könne HIV nicht der Erreger von AIDS sein. Das ist eine insbesonders bösartige Argumentation, denn der Umstand, daß HIV beim Schimpansen keine AIDS-Symptome auslöst, gilt nur für HIV-1, nicht aber für die zweite Grundvariante HIV-2, die vor allem in Westafrika vorkommt und in seiner Struktur von HIV-1 leicht abweicht, dafür aber mit dem Affen-Immunschwächevirus SIV sehr ähnlich ist. HIV-2 erzeugt in Affen aus Asien einen starken, dem menschlichen AIDS außerordentliche ähnlichen Krankheitsverlauf mit allen typischen Merkmalen.14
Ursache oder Marker
Wenn man wie Duesberg HIV als Ursache von AIDS ablehnt, ist man gezwungen, eine Theorie zu entwickeln, die für jeden nachgewiesenen Aspekt der Krankheitsentwicklung immer einen neuen Faktor bereithält. Da AIDS so diverse Bevölkerungsgruppen wie männliche Homosexuelle, Drogenabhängige, Bluter und Transfusionsempfänger befällt, außerdem in Europa/Nordamerika ein ganz anderes Erscheinungsbild hat wie in Afrika, muß man nach dieser Methode für jeden einzelnen Krankheitsumstand eine andere Ursache angeben – ein außergewöhnlich „unnatürliches“ Vorgehen. So wird nach Duesberg in Afrika AIDS durch Unterernährung und Tuberkulose verursacht bzw. ist eine Falschklassifizierung; bei männlichen Homosexuellen in den USA durch den Konsum von Freizeitdrogen wie Nitriten; bei weiblichen IV-Drogenabhängigen und ihren Neugeborenen durch anderen Drogengenuß; bei vielen HIV-Positiven, die keine Drogen nehmen, durch die Einnahme des AIDS-Mittels AZT; bei Blutern u.a. durch Verunreinigungen in den zugeführten Gerinnungsfaktoren usw.15
Es ist ganz sinnlos, den Versuch zu unternehmen, Fall für Fall die Stichhaltigkeit oder Haltlosigkeit dieser Argumente zu überprüfen, denn sollte einer der Faktoren „ausscheiden“, würden die „Skeptiker“ leicht einen neuen finden, so daß dasselbe Spiel von vorne losginge. Allgemein läßt sich sagen, daß natürlich Mangelernährung, Tuberkulose, Drogen usw. das Immunsystem schwächen und auch den Krankheitsverlauf von AIDS beschleunigen, aber der Mechanismus der Immunschwächung ist bei diesen Krankheiten oder Mangelzuständen jedesmal ein anderer, und die Summe davon ergibt noch lange nicht AIDS. Die Duesbergsche Theorie jagt einer „schlechten Unendlichkeit“ nach. Typisch dafür ist auch, daß man dabei immer den Entwicklungen hinterherläuft und nicht in der Lage ist, die weitere Entwicklung vorherzusagen. Denn wenn HIV nur ein Stellvertreterfaktor oder Marker für eine Vielzahl von „Lebensstilen“ oder Praktiken ist, die das Versagen des Immunsystems besser erklären sollen als eine HIV-Infektion, dann müßte man anhand dieser Faktoren die zukünftige Entwicklung von AIDS in heute noch gesunden Menschen genauer prognostizieren können, als dies heute mit Hilfe des HIV-Status möglich ist. Davon kann jedoch überhaupt nicht die Rede sein. Vielmehr hat sich gezeigt, daß in großen Studien erfaßte HIV-positive Personen auf vorhersagbare Weise AIDS entwickelt haben – unabhängig von den Faktoren, die von den HIV-Zweiflern als die eigentlichen kausalen Faktoren hingestellt werden.
Im übrigen: In Biologie oder Medizin zuzugeben, daß man die meisten molekularen Mechanismen hinter den Krankheitsursachen (bzw. Lebensvorgängen) nicht kennt, ist keine Besonderheit, sondern die Regel, und jemand wie Duesberg sollte sich nicht hinstellen und behaupten, er könne mit einigen geschickten Korrelationen ihm günstig erscheinender Faktoren irgendeine Kausalität herstellen. Was wir heute – trotz teilweise enormer finanzieller und wissenschaftlicher Anstrengungen – über Krebs, den Alterungsprozeß, das Gehirn und viele andere Fragen wissen, ist bestenfalls bruchstückhaft. Das Problem dabei ist aber in der Regel die vorherrschende empiristische wissenschaftliche Herangehensweise, die Lebensprozesse letztlich nur als Summe nichtlebender Erscheinungen sieht. Die zu lösenden Probleme sind jedoch so komplex, daß sie zuallerletzt durch eine Aneinanderreihung irgendwelcher statistischer Korrelationen angegangen werden können.
Für ein Apollo-Projekt gegen AIDS
Am empörendsten, aber zugleich auch entlarvendsten für die Duesbergsche Geisteshaltung ist der Angriff auf meine Forderung, wirksame öffentliche Maßnahmen zur Eindämmung der AIDS-Seuche zu ergreifen. Obgleich dieser Punkt in meinem ursprünglichen Artikel nur eine untergeordnete Rolle spielte, ereifern sich Robertson/Duesberg besonders über solche „nicht nur ungerechtfertigten, sondern unverantwortlichen“ Maßnahmen zur Eindämmung der AIDS-Seuche. Offenbar liegt hier ein besonders wunder Punkt in der Duesbergschen Denkweise.
Man muß sich einmal überlegen, was es bedeutet, im Fall von AIDS, einer tödlichen weltweiten Seuche, öffentliche Seuchenbekämpfungsmaßnahmen abzulehnen (oder, was auf das gleiche hinausläuft, solche Maßnahmen erst ergreifen zu wollen, wenn die „Ursache“ von AIDS restlos geklärt wäre). Das bedeutet, freiwillig das einzige Instrument aus der Hand zu geben, das eine Regierung hat, um die Bevölkerung vor Leiden und Tod zu schützen. Natürlich müssen die Maßnahmen der jeweiligen Seuche angepaßt werden, aber daß auch im Fall von AIDS die öffentliche Seuchenbekämpfung ein ganz wesentlicher Aspekt ist, wird nur abstreiten, wer andere Motive als den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung im Auge hat. Selbst wenn man den Erreger nicht kennen würde und auch noch kein Heilmittel gegen die Seuche hätte, haben sich öffentliche Maßnahmen, wie sie im Bundesseuchengesetz festgelegt sind, als wirksam erwiesen. Bei AIDS kennt man aber einen Erreger und hat mittlerweile sogar eine wirksame Behandlungsmöglichkeit, so daß man es nur als menschenverachtend bezeichnen kann, wenn nicht alle bewährten Seuchenbekämpfungsmaßnahmen ergriffen werden, einschließlich der Aufforderung, sich im Verdachtsfall so früh wie möglich auf HIV-Antikörper testen zu lassen.
Anmerkungen
1. Siehe auch Jon Cohen, „The Epidemic in Thailand“, Science, Vol. 266, 9. Dezember 1994. In Thailand begann bereits im Jahre 1985 ein von Bruce Weniger von den amerikanischen Centers for Disease Control dokumentiertes umfassendes HIV-Antikörper-Testprogramm. Ende 1987 lagen 200000 Bluttests aus allen bekannten Risikogruppen vor – mit weniger als 100 HIV-positiven Ergebnissen. Anschließend begann eine rapide Verbreitung des Virus. Ende 1988 fanden sich allein unter den Drogenfixern 1000 HIV-Positive. Nach weiteren Berechnungen und Tests wurde geschätzt, daß Ende 1993 über 700000 Thais HIV-infiziert waren. Entscheidend ist aber der Umstand, daß dem steilen Anstieg der HIV-Infektionen ein entsprechender Anstieg der AIDS-Fälle folgte. Ende 1993 wurden in Thailand über 8000 kumulative AIDS-Fälle gezählt. „Die Daten aus Thailand zeigen zwingend, daß HIV AIDS voranging, und die Zunahme der HIV-Infektionen drückt sich nun in AIDS-Fällen aus“, erklärte Weniger.
2. Schechter, MT, Craib, KJ, Gelman, KA, Montaner, JS u.a., „HIV-1 and the aetiology of AIDS“, in Lancet, Vol. 341, 1993, S. 658–9, und auch Schechter, MT, Craib, KJ, Montaner JS, Lee, TN u.a. „Aetiology of AIDS“, in Lancet, Vol. 341(8854), 1993, S. 1222–3.
3. Darbyshire, JH, „Delta: a randomised double-blind controlled trial comparing combinations of zidovudine plus didanosine or zalcitabine with zidovudine alone in HIV-infected individuals“, Lancet, Vol. 348(9023) 3. August 1996.
4. Connor EM, Sperling RS, Gelber R, u.a., „Reduction of maternal-infant transmission of human immunodeficiency virus type 1 with zidovudine treatment“, in N Engl J Med, 331:1173–1780, 1994. In dem AIDS Clinical Trial Group Protocol 076 (ACTG 076) wurde gezeigt, daß die Gabe von Zidovudin (AZT) an HIV-infizierte Frauen während der Schwangerschaft (100 mg per os 5 mal täglich) und nach Einsetzen der Wehen (2mg/kg Körpergewicht IV während 1 Stunde, dann 1mg/kg/h bis zur Geburt), sowie an das Neugeborene (2mg/kg per os alle 6h für 6 Wochen) die perinatale HIV-Übertragung um zwei Drittel senken konnte. Siehe auch Landsberger, Ellen J., „Critical Issues in Treating HIV During Pregnancy“, in Medscape Women’s Health, 1(6), 1996.
5. Duesberg, P, „AIDS acquired by drug consumption and other noncontagious risk factors“, in Pharmacol Ther, 103(2), 1994, S. 118–27.
6. Um nur eine von vielen Arbeiten zu nennen: Lederman, MM, Jackson, JB, Kroner, BL, White, GC, u.a., „Human immunodeficiency virus (HIV) type 1 infection status and in vitro susceptibility to HIV infection among high-risk HIV-1-seronegative hemophiliacs“, in J Infect Dis, 172(1), 1995, S. 228–31.
7. Eine ausführliche Darstellung in Harris, SB, „The AIDS heresies: a case study of skepticism taken too far“, in Skeptic, 3(2), 1995, S. 42–79.
8. Darby, SC, Ewart, DW, Giangrande, PLF, u.a., „Mortality before and after HIV infection in UK population of haemophiliacs“, in Nature, 377, 1995, S. 79–82.
9. Duesberg, P, a.a.O.
10. „The Relationship between the Human Immunodeficiency Virus and the Acquired Immunodeficiency Syndrom“, The National Institute of Allergy and Infectious Diseases, National Institutes of Health, Bethesda, Maryland, September 1995.
11. Hammer, S., Crumpacker, C., D’Aquila, R., Jackson, B., u.a. „Use of virologic assays for detection of human immunodeficinecy virus in clinical trials: recommendations of the AIDS Clinical Trials Group Virology Committee“, in J Clin Microbiol, 31(10), 1993, S. 2557–64.
12. Blattner, W., Reitz, M., Colclough, G., Weiss, S., „HIV/AIDS in laboratory workers infected with HTLV-IIIB“, IX. Intern. Konf. über AIDS (Abstract n. PO-B01-0876), 6.–11. Juni 1993. Sowie Reitz, M., Hall, L., Robert-Guroff, M., Lautenberger, J., u.a., „Viral variability and serum antibody response in a laboratory worker infected with HIV type 1 (HTLV type IIIB)“, in AIDS Res Hum Retroviruses, 10(9), 1994, S. 1143–55. Siehe auch Cohen, J., „Fulfilling Koch’s postulate“, in Science, 266(5191), 1994, S. 1647.
13. Harris, a.a.O.
14. Int Conf AIDS. 16.-21. Juni 1991; 7(1):27 (Abstract no. M.A.22). Int Conf AIDS. 7.-12. Aug. 1994; 10(1):60 (Abstract no. 193A). Symp Nonhum Primate Models AIDS. 6.–9. Nov. 1991; 9:74 (Abstract no. 53). Siehe auch Int Conf AIDS. 16.-21. Juni 1991; 7(1):154 (Abstract no. M.A.1251).
15. Duesberg a.a.O.