Astronomie und Finanzkrach

Wer vor zwei oder drei Jahren noch selbstsicher gelächelt hatte, als wir in FUSION eindringlich vor einer internationalen Finanzkrise größten Ausmaßes zu warnen anfingen, sollte jetzt angesichts der schweren Erschütterungen auf den internationalen Finanzmärkten der letzten Monate die entsprechenden Artikel und Editorials noch einmal zur Hand nehmen. Waren unsere Prognosen nur Sterndeuterei? Waren sie bloß „Glückstreffer“ (oder besser „Unglückstreffer“), oder hatten wir gute Gründe gehabt, eine solche Entwicklung vorauszusehen?

Auf einer Konferenz in Bonn im September zog der Wirtschaftswissenschaftler Lyndon LaRouche zum Verständnis der globalen Finanzkrise eine überraschende Verbindung zur Astronomie: Wer die einzigartige Natur der heutigen Krise richtig erfassen wolle, behauptete LaRouche, müsse erst wissen, wie der große Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß 1801 die Bahn des ersten Asteroiden Ceres berechnen konnte!

Erinnern wir uns kurz: In den ersten Tagen des Jahres 1801 beobachtete der italienische Astronom Piazzi ein winziges Lichtpünktchen, das im Laufe der Tage gegenüber dem Hintergrund der Fixsterne seine Position allmählich änderte. Piazzi konnte das Objekt insgesamt nur wenige Woche lang beobachten, bis es sich aufgrund der abnehmenden Entfernung zur Sonne am Himmel der Sicht entzog. In dieser Zeit legte das beobachtete Sternenobjekt einen Winkel von nur wenigen Graden auf der Himmelskugel zurück. Piazzis Entdeckung löste eine Sensation aus: Handelte es sich um einen neuen Planeten oder vielleicht nur um einen merkwürdigen Kometen? Nichts konnte entschieden werden, ohne weitere Beobachtungen anzustellen und ohne die Bahn zu kennen, auf der das Objekt sich bewegte. Aber da gab es eine große Schwierigkeit: Ohne Kenntnis der genauen Bahn war die Gefahr sehr groß, das winzige Objekt nie wieder zu finden. Doch nie zuvor hatte man die Bahn eines Himmelskörpers aus nur wenigen kurzzeitigen Beobachtungen bestimmt. Für die genaue Bestimmung der Bahnen der „klassischen“ Planeten konnte man auf sehr lange Beobachtungszeiten während vieler Umläufe zurückgreifen.

Während mehrere Astronomen und Mathematiker unter willkürlichen Annahmen durch einfache Extrapolation Prognosen vom Bahnverlauf zu erarbeiten versuchten, die aber weit von der Wahrheit entfernt lagen und eine Wiederentdeckung des Objekts ganz unmöglich machten, ging der 24jährige Carl Gauß mit einer vollkommen neuen Methode zu Werke. Im Verlauf des Sommers 1801 berechnete er ohne jede willkürlichen Annahmen die Bahnparameter des unbekannten Objekts, das dann Anfang Januar 1802, genau ein Jahr nach Piazzis erster Beobachtung, vom Astronomen Olbers in Bremen wiederaufgefunden und definitiv identifiziert wurde. Das Objekt, das Olbers Ceres nannte, wurde genau in dem Bereich des Himmels aufgefunden, wo es nach Gauß‘ Berechnung zu sehen sein sollte.

Was hat das alles mit dem derzeitigen Zusammenbruch der Finanzmärkte zu tun? Nun, sagte LaRouche, die meisten Experten und Wirtschaftsbeobachter begehen einen fundamentalen Fehler, wenn sie meinen, die heutige Krise sei von der gewöhnlichen zyklischen Art, wie man sie in den Ökonomie-Lehrbüchern nachlesen könne. Sie machen dabei willkürliche Annahmen über das Wesen der Krise und versuchen, auf mechanistische Weise aus der Vergangenheit zu extrapolieren. Aus ganz ähnlichen Gründen lagen Gauß‘ Astronomen-Kollegen bei der Berechnung der Ceres-Bahn vollkommen daneben.

In beiden Fällen haben wir es mit einer falschen Denkmethode zu tun, die in der Sprache der Mathematik als Methode der „Linearisierung im Kleinen“ bezeichnet wird. Danach läßt sich z.B. in der Nähe eines gegebenen Punktes der Verlauf einer Kurve als praktisch identisch mit der Tangente betrachten. Eine solche lineare Annäherungsmethode mag für manche praktische Anwendung nützlich sein; sie führt uns aber zu vollkommen falschen Schlüssen, wenn wir vergessen, daß damit das Wesen eines jeden wirklichen physischen Prozesses vollkommen entstellt wird. Denn für die Natur gilt genau das Gegenteil von „Linearität im Kleinen“; das Universum ist stets „nichtlinear im Kleinen“, und zwar so, daß – entsprechend Leibnizens Konzept der Monade – das Ganze sich in der besonderen „Krümmung“ jedes „beliebig kleinen“ Teils widerspiegelt. Deswegen ist das Wesentliche einer physischen Kurve (wie z.B. einer Planetenbahn) darin zu suchen, wie die Kurve „im Unendlichkleinen“ von der Tangente abweicht.

Leider wird oft im Unterricht dieser wichtige Unterschied der Infinitesimalrechnung nicht klar genug hervorgehoben; manchmal entsteht gar der Eindruck, als ob es bei der Infinitesimalrechnung (entgegen den Ansichten ihres Erfinders Leibniz) um ein Linearisierungsverfahren ginge. Die Folgen dieser Fehlinterpretation sind verheerend, weil die Infinitesimalrechnung praktisch als Grundlage der exakten Wissenschaften gilt, und die Art und Weise, wie dieses mathematische Werkzeug verstanden wird, auf alle Bereiche der Wirklichkeitserfassung, einschließlich der Wirtschaftswissenschaft, einen maßgebenden Einfluß hat. So überträgt sich der Irrtum der „Linearisierung im Kleinen“ vom Bereich der Mathematik auf die Wirtschaftspolitik, wo er letztlich zum Untergang ganzer Nationen führen kann!

Der Kern von Gauß‘ Methode der Bahnbestimmung lag nun darin, genau die „Krümmung im Unendlichkleinen“ in den Mittelpunkt zu stellen, also das, wodurch die Parameter einer ganzen Planetenbahn aus einem jeden beliebig kleinen Stück bestimmt werden können. Da sich diese Art Krümmung nicht mit den Mitteln der gewöhnlichen Mathematik erfassen ließen, konstruierte Gauß eine neue Gattung von „Transzendenten“, also neue mathematischen Funktionen, die sich nicht auf die gewöhnlichen Funktionen zurückführen ließen. So entstanden die sogenannten hypergeometrischen und elliptischen Modulfunktionen, die es ermöglichen, selbst komplizierte geometrische Verhältnisse auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Wo ist nun die „infinitesimale Krümmung“ der globalen Wirtschaftsprozesse zu suchen, woraus sich die Unausweichlichkeit eines allgemeinen Finanzkraches ableiten läßt? Nach LaRouche liegt sie genau in jenem Bereich, der von keiner gängigen Statistik erfaßt und von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern vollkommen ignoriert wird: in der „inneren Geometrie“ des menschlichen Denkprozesses! Insbesondere beruht die Erhaltung und das reelle Wachstum einer Volkswirtschaft unmittelbar auf den schöpferischen geistigen Prozessen ihrer Bevölkerung – sei es der Wissenschaftler oder Techniker, die neue physikalische Prinzipien entdecken und in Technik umsetzen, sei es auf der Ebene der Industriearbeiter, die im täglichen Produktionsprozeß Tausende von kleinen Entscheidungen treffen müssen.

Wenn eine Gesellschaft aufhört, das schöpferische, produktive Potential ihrer Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen und aktiv weiterzuentwickeln, dann kehrt sich die „Krümmung“ des gesamten Wirtschaftsprozesses um und die dadurch veränderte „Bahn“ führt unweigerlich in die Katastrophe. Genau dieser Prozeß hat sich in den für die Weltwirtschaft maßgeblichen westlichen Ländern im Laufe der letzten 30 Jahren durchgesetzt. Länder, in denen noch vor 30 Jahren eine allgemeinen Begeisterung für Industrie, Wissenschaft und Technik, für eine hohe wissenschaftliche, kulturelle und moralische Bildung geherrscht hat, sind heute überwiegend von grünem Kulturpessimismus und Technikfeindlichkeit, Egoismus, Habgier und kulturellem Zerfall geprägt.

Wenn man die tieferen Gründe der heutigen Finanz- und Wirtschaftskrise begreifen will, müßte man sich eigentlich die Frage stellen: Warum wird nicht jedes Schulkind bei uns mit Gauß‘ bahnbrechender Entdeckung bekannt gemacht, womit Gauß aus wenigen Beobachtungen eine ganze Planetenbahn rekonstruieren konnte?