„Seit langem schon weile ich nachsinnend zu Hause, denke nur an Dich, o herrlich glänzender Galileo, und Deinen Brief“, so beginnt Johannes Kepler seine Antwort auf den „Sternenherold“, mit dem Galileo das Auffinden von „vier vorher nicht gekannten Gestirnen“ um den Planeten Jupiter mit Hilfe des „doppellinsigen Fernrohrs“ bekannt gibt. Im Plauderton behandelt Kepler die verschiedenen Aspekte von Galileis Schrift. Er fragt sich, ob die dort berichteten Ergebnisse mit denen in seinem 13 Jahre zuvor veröffentlichtem Mysterium Cosmographicum übereinstimmen, und verteidigt Galileo, dessen Entdeckung allgemein auf Ablehnung stößt, „gegen die griesgrämigen Rückschrittler, die alles Unbekannte als unglaubwürdiges Zeug ausgeben; alles als entweiht und verrucht, was über die ausgetretenen Engpfade des Aristoteles hinausstrebt.“ Gegen diese Ewiggestrigen bietet sich Kepler als „wackerer Schildknappe“ an, damit Galilei um so „wuchtiger“ gegen die rückschrittlichen Aristoteliker „ausfallen“ kann.
Völlig ernst kann Johannes Kepler dieses Bild nicht gemeint haben. Denn ein „Ritter“ im Kampf gegen Aristoteles war Galileo wahrlich nicht. Kepler war nicht entgangen, daß Galilei in seiner De motu von 1590 zwar Aristoteles verbal attackiert, aber völlig in dessen Denkkategorien verbleibt. Galileis Denken ist so sehr in der aristotelischen Bewegungslehre verwurzelt, daß er sie sogar noch 1638 in der nuova scienza – obwohl er Keplers „Neue Astronomie“ kannte – auf die Planetenbewegung anwendete.
Kepler würdigt und verteidigt die wissenschaftliche Bedeutung der Galileischen Beobachtungen, attackiert in seiner „Antwort“ jedoch gleichzeitig die empiristische Denkmethode des Entdeckers scharf. Im Gegensatz zu heutigen Lehrbuchautoren blieb es Keplers Zeitgenossen jedenfalls nicht verborgen, daß „Keplers Methode zu antworten“ dem Galilei nicht gerade „angenehm“ gewesen sein konnte, „weil er ihn geistreich und freundlich auf seine Grundlagen verwiesen habe.“ Der kaiserliche Gesandte Georg Fugger in Venedig sagte sogar, Galilei werde bald merken, daß ihm von Kepler die Maske vom Gesicht gerissen worden sei. Und Keplers Lehrer Mästlin schrieb aus Tübingen an Kepler: „Ganz vortrefflich habt Ihr in Eurem Schriftchen, das ich mit großem Vergnügen las, dem Galilei die Federn gerupft.“
Um völlig zu verstehen, was mit diesem Ausdruck gemeint ist, muß man wissen, daß Mästlin und Kepler im privaten Gespräch Galileo als „Pfau“ bezeichneten – wohl weil sie ihn für eingebildet hielten und seine Vorliebe kannten, sich mit fremden Federn zu schmücken.
Es ist also nicht ganz zufällig, wenn sich Kepler in seiner plaudernden Antwort den ersten Abschnitt von Galileis „Sternenherold“, der über die Herstellung des Fernrohres handelt, vornimmt und ganz nebenbei erwähnt, daß nicht nur er selbst bereits vor sechs Jahren die Theorie des Fernrohres in seiner „Lehre vom Licht“ veröffentlicht hätte, sondern daß diese Herstellungsmethode durch Johannes Baptista Porta „schon vor vielen Jahren bekannt gemacht geworden ist“ und entsprechende Fernrohre „nicht erst kürzlich von Holland hergebracht“ wurden.
Doch nachdem er Galileis Beitrag an der Erfindung des Fernrohres auf das rechte Maß zurechtgestutzt hat, beteuert er: „Das sage ich nicht, um den Ruhm des Erfinders zu schmälern, wer immer es auch gewesen sein mag. Denn ich weiß, wie weit der Weg ist von der Andeutung im Gedanklichen bis zur sinnfälligen Erprobung; wie weit der Weg ist von der Erwähnung der Antipoden bei Ptolemäus bis zu des Columbus Entdeckung einer neuen Welt ist.“
Dieses Lob des Erfinders ist jedoch zugleich der Beginn einer Zurückweisung von Galileis Empirismus, welche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt, denn, so fragt Kepler: „Selbst wenn man den Columbus liest, ist man im Zweifel: soll man den Geist mehr bewundern, der einen neuen Erdteil aus der Richtung der Luftströmungen erschließt, oder den Mut eines Mannes, der unbekannte Gewässer versuchen geht?“ Und als Antwort fügt Kepler folgenden Abschnitt an:
„Wunderbar groß erscheinen mir in dieser ans Herz gewachsenen Frage die Denker Pythagoras, Plato und Euklid. Von der Anwendbarkeit ihrer Denkverfahren geleitet, erklären sie, daß Gott die Welt offenbar nur nach dem Sinn der fünf regelmäßigen Grundgebilde zum lebendigen Ganzen gefügt haben könnte. In der Durchführung des Gedankens haben sie vielleicht Fehler gemacht. Unantastbarer Ruhm bedeckt hingegen den Kopernikus, der mit ungemeinen Geisteskräften das Weltbild sozusagen als vor Augen liegende Einheit gezeichnet hat… Weitab von den älteren Forschern mag Kepler stehen, der sich das Weltbild des Kopernikus in seinem vollen sinnlichen Augenschein zu eigen gemacht hat, und nun von den Erkenntnisgründen aufsteigt zu den natürlichen Ursachen und von ihnen zu den Zweckgedanken der Schöpfung – so wie Plato vor soviel Jahrhunderten aus Begriffen, die der Erfahrung vorhergehen, verkündet hat. Später zeigt Kepler, daß das Verhältnis der fünf platonischen Grundgebilde im Weltengefüge des Kopernikus zum Ausdruck kommt. Es liegt nichts Widersinniges und nichts Feindseliges darin, daß man die alten Denker höher stellt als die neueren. Denn größerer Ruhm gebührt dem Baumeister dieser Welt, als jedem noch so geistreichen Weltbeobachter!… Darum stehen die Denker, die die Ursachen der Dinge im Geiste empfangen, noch ehe sie sinnfällig werden, jenem ersten Baukünstler näher als die anderen, die über die Dinge erst nachzudenken beginnen, wenn sie diese mit Augen geschaut haben. So wirst Du also, Galilei, unseren Vorgängern ihren Ruhm nicht neiden…“
Kepler, der die von ihm geschaffene neue Wissenschaft der Astrophysik gegen den aristotelischen Raumbegriff verteidigen muß, erkennt natürlich, in welche Richtung Galileis empirische Methode führen wird, und widerlegt deswegen explizit das Konzept der Galileisch-Newtonschen Raumzeit, noch bevor dieses überhaupt explizit formuliert wurde. Kepler macht in seiner „Antwort“ die Widersprüchlichkeit des aristotelischen Begriffs der linearen, ins unendliche ausgedehnten Raumzeit in einer Weise deutlich, die Galilei unter die Haut gegangen sein muß. „Wenn es unendlich viele andere Welten gibt, so müssen sie der unserigen… unähnlich sein.“ Wobei er mit dem Universum aus „unendlich vielen anderen Welten“ die relativistische Raumzeit meint. Kepler sagt auf diese Weise, daß die Raumzeit, entsprechend den wirkenden „Kompositionsprinzipien des Baumeisters“ relativistisch gekrümmt sein muß und daß das Konzept des gleichförmig ausgedehnten Raumes und die in der Newtonschen Mechanik später als „Galilei-Transformation“ bezeichnete Gleichsetzung solcher gleichförmig linear gegeneinander bewegter „Räume“ unsinnig ist.
Denn, so fährt Kepler fort: „Erklärst du nämlich alle Welten einander in allem ähnlich, so werden auch alle Geschöpfe ähnlich, und du bekommst ebensoviel Galileis, als es Welten gibt, die neue Sterne auf neuen Welten beobachten.“ Die im „Sternenherold“ verkündete Entdeckung wäre damit samt ihres stolzen Entdeckers beträchtlich relativiert. Galileo müßte dadurch motiviert sein, eine „Abgegrenztheit… ins Größere“ anzuerkennen, und den linear ins Unendliche ausgedehnten Raum abzulehnen.
Leider hat das bei Galilei nichts gefruchtet, und es ist gut, daß Kepler auch einen von Galileis Einmaligkeit ganz unabhängigen Grund angibt. Gott läßt nämlich nichts „umsonst geschehen“ und „die Raumwissenschaft ist einzig und ewig und strahlt wieder aus dem Geiste Gottes. Daß die Menschen an ihr Teil haben dürfen, ist mit einer der Gründe, weshalb der Mensch das Ebenbild Gottes genannt wird.“
Auf andere Weise wird dieser Gedanke nochmals ausgedrückt, als Kepler auf Galileos Vermutung eingeht, daß der Jupiter bewohnt sei. Er antwortet, wenn, dann wird das sicherlich einmal durch Erdenbürger geschehen, denn: „Schaff‘ nur Fahrzeuge oder Segel, die der Himmelsluft angepaßt sind, dann kommen schon Leute, die sich nicht einmal vor jener weiten Öde fürchten werden.“