Auf einer internationalen Zoom-Konferenz des Schiller-Instituts am 7. und 8. Dezember 2024 mit dem Titel „Im Geiste Schillers und Beethovens: Alle Menschen werden Brüder“ erläuterte Theodore Postol, emeritierter Professor für Wissenschaft, Technologie und nationale Sicherheit am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ausführlich die Eigenschaften und Fähigkeiten der neuen russischen Oreschnik-Rakete. Anhand von Abbildungen, die er auch Interessierten gerne zur Verfügung stellt, beschrieb er, was über die Rakete bekannt ist. Seine Einschätzung beruht auf eigenen fundierten Untersuchungen öffentlich zugänglicher Fakten. Das englische Transkript wurde für die deutsche Übersetzung bearbeitet.
Es ist mir eine Freude, hier diesen Vortrag halten zu dürfen. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen, aber ich möchte Ihnen Informationen liefern, die hoffentlich hilfreich sind, um die Bedeutung der neuen Oreschnik-Rakete zu verstehen. Es gibt bereits viele Informationen darüber, sicherlich nicht alle, aber ich denke, daß sich daraus ein allgemeines Bild von den Fähigkeiten dieser Rakete ergibt. Obwohl sich einige Details ändern könnten, glaube ich nicht, daß dies die allgemeinen Schlußfolgerungen über die Fähigkeiten und Eigenschaften dieser Rakete ändern werden. In dieser Hinsicht wissen wir also genug, um das Prinzip dieser neuen Rakete zu verstehen.
Ich möchte Ihnen einige Daten zeigen, die in diesem Zusammenhang hilfreich sind. Insbesondere verfügen wir über von der Ukraine veröffentliche Fotos von einigen Trümmern der Rakete, insbesondere eines (Abbildung 1), das meiner Meinung nach das vordere Ende dieser Rakete zeigt. Es vermittelt einen groben Eindruck von ihrer Größe, wenn man sie mit dem Mann vergleicht, der neben den Trümmern steht. Auf einem weiteren Foto (Abbildung 2) aus einem Video ist in dem großen Kreis rechts das wahrscheinliche Vorderteil eines der Kanister zu sehen.


Lassen Sie mich kurz die Eigenschaften der Rakete beschreiben. Sie enthält sechs Kanister oder Metallbehälter. Jeder dieser Behälter hat seinen eigenen Antrieb, und die sechs Behälter vorne an der Rakete, die ich Ihnen gleich zeigen werde, haben jeweils sechs Submunitionen (Tochtergeschosse). Wir wissen, daß es sechs Behälter gibt, und wir sind sicher, daß es jeweils sechs Submunitionen gibt, weil in Videobildern zu sehen ist, daß die Submunitionsgruppen jeweils zu sechst eintrafen; das ganze dauerte etwa 7 Sekunden.

In einer weiteren Nahaufnahme sieht man das hintere Ende des Behälters (Abbildung 3), der eine kugelförmige Druckkammer enthält, und in dieser Druckkammer befindet sich eine Art Mechanismus zur Erzeugung von Hochdruckgas. Das Gas ist heiß, aber es ist sicherlich nicht annähernd so heiß wie das Gas aus einem Raketentriebwerk, aber das muß es auch nicht sein. Das Gas wird dann durch sechs Austrittsstutzen freigesetzt, von denen jeder eine Düse steuert und speist. In der Abbildung sieht man eine der Düsen oben rechts an dem Austrittsstutzen; die anderen wurden durch den Aufprall abgeschlagen. Die Raketendüse kann dadurch horizontal schwenken. In Kombination mit den anderen fünf Antrieben kann das Fluggerät in eine gewünschte Ausrichtung entlang der Bewegungsrichtung angestoßen werden – ich nenne es bewußt „anstoßen“. Dabei handelt es sich um Strecken von vielleicht einigen hundert Metern, so daß die Submunition nach Wahl des Zielerfassers sehr kleine Korrekturen der Behälter vornehmen kann.

Von dem vorderen Ende der Rakete mit den sechs Behältern habe ich ein Diagramm erstellt, das in zwei Ebenen angeordnet ist (Abbildung 4). Die Abmessungen der Behälter sind grob geschätzt – sie sind jeweils etwa unter einem Meter lang. Man weiß von Aussagen der russischen Seite, daß die erste Stufe dieser Rakete von einer Langstreckenrakete stammt, wahrscheinlich einer RS-26, RS-27 oder RS-25. Der Durchmesser der ersten Stufe dieser Raketen liegt bei etwa 2 Metern. Deswegen habe ich einen Durchmesser von 1,8 Metern für die zweite Stufe angenommen, was auch zu den beobachteten Trümmern der Oreschnik in der Ukraine paßt.
In den Vorderteil der Rakete muß die Submunition platziert sein, und zwar mit dem Gewicht der Schubleistung einer einzelnen Raketenstufe, die sich von einer Interkontinentalrakete ableitet. Das bedeutet nicht, daß es sich um eine Interkontinentalrakete mit drei Stufen handelt. Ich habe den Flug der Rakete berechnet, um zu sehen, ob sie eine bestimmte Entfernung erreichen kann – die Reichweite, die erforderlich ist, um von Kapustin Yar aus das Zielgebiet Dnipro in der Ukraine zu erreichen, das etwa 800 oder 1000 km entfernt liegt. Die Submunition hat in der Tat ungefähr die richtige Größe und das richtige Gewicht. Sie kann, abhängig des benutzten Materials in ihrer Größe variieren. Es ist nicht bekannt, woraus sie besteht. Man kann aber ihr Gewicht vernünftig abschätzen, was wichtig ist, denn das Gewicht und die Aufprallgeschwindigkeit bestimmen die Stärke der Aufschlagsexplosion. Wir wissen, daß die Aufprallgeschwindigkeit bei 12.300 km/h liegt. Wir haben auch eine gute Schätzung der Flugbahn. Wie auf der Karte (Abbildung 5) dargestellt, liegen etwa 800 bis 1000 km zwischen dem Startpunkt Kapustin Yar in Rußland und den Endpunkt Dnipro in der Ukraine.


Hier zeige ich Ihnen den Verlauf der Flugbahn (Abbildung 6). In der Grafik links reicht die vertikale Achse von 100 km Höhe bis null. Man kann erkennen, daß der Raketenmotor nach etwa 60 Sekunden ausbrennt. Das wissen wir aus den allgemeinen Eigenschaften dieser Motoren. Die Ausbrenn-Geschwindigkeit beträgt etwa 3,6 km/s. In der Grafik rechts ist die vertikale Höhenachse zu sehen, die von 1000 km oben bis null km reicht. Ebenso reicht hier die horizontale Achse der Entfernung von null bis 1000 km, um die Eigenschaften der Flugbahn unverzerrt darzustellen. Man sieht, daß die Rakete etwa 15 Minuten für 1000 km benötigt. Und da wir die Geschwindigkeit beim Wiedereintritt und die Reichweite und die dafür benötigte Zeit kennen, wissen wir, wie diese Flugbahn in etwa aussieht. Es handelt sich hierbei um eine Schätzung mit hoher Zuverlässigkeit.
Es ist auszugehen, daß die Rakete den folgenden Flug absolviert: Die Rakete startet in der unteren linken Ecke der Grafik. Der graue Kurvenverlauf zeigt den Antriebsflug an, danach geht die Rakete in den Gleitflug über. Die Rakete gleitet noch etwa 5 Minuten, dann erreicht sie ihren Höhepunkt. Während des Flugs wird sie von Raketenmotoren an der Vorder- und Rückseite des eigentlichen Raketenantriebs langsam gedreht, so daß sie auf das Ziel gerichtet ist. Wenn also die Sprengköpfe separat in Richtung des Ziels abgefeuert werden, sind sie bereits ausgerichtet und können so leichter gesteuert werden, so daß sie in einem berechneten Muster und Verteilung ihr Ziel erreichen.

Diese Fotos (Abbildung 7) sind aus einer stationären Videoauszeichnung vom Aufschlag, wo man sieht, wie die Submunitionen auf ihr Ziel treffen. In der ersten Reihe sieht man die Ankunft der ersten sechs Submunitionen aus dem ersten Cluster; in der nächsten Reihe sieht man die sechs Submunitionen, die im zweiten Cluster ankommen. Vom dritten Cluster zeige ich der Kürze wegen nur ein Bild [Reihe 3]; es ließe sich bei gründlicherer Untersuchung mehr zeigen. Hier sieht man deutlich das Munitions-Cluster. Im vierten Cluster [Reihe 4] sind wieder sechs Submunitionen zu sehen. Im fünften Cluster [5] sind es drei. Hiervon ist Bild Nummer 9 besonders nützlich, da man die sechs Submunitionen gut erkennen kann. Die Munitionskörper sind dabei extrem heiß, denn sie treffen mit einer Geschwindigkeit von fast 13.600 Stundenkilometer auf, so daß vor ihnen eine Stoßwelle mit einer Temperatur von vielleicht 4000 °C entsteht. Die Oberfläche der Submunitionen brennt ab, so daß sehr hell leuchtende Kondensstreifen entstehen. In den Bildern 11 bis 13 [Reihe 6] sieht man dann, wie der sechste Cluster auftrifft. Es gibt also insgesamt 36 Submunitionen.

Der Schaden, der durch diese Rakete pro Submunition am Boden entsteht, ist relativ gering. Jede Submunition hat die Wirkung von etwa 100 bis 200 Pfund Sprengstoff. Das reicht aus, um alles, was getroffen wird, erheblich zu beschädigen. Aber die Schäden sind nicht so stark wie die einer 500-Pfund-Bombe, die jedes Gebäude, auf das sie trifft, vollständig zerstören würde.
Abbildung 8 zeigt ein getroffenes Gebäude, bei dem der obere Teil des Daches beschädigt wurde. Das Rätselhafte an dieser Rakete ist, daß der Schaden am Boden durch die einzelne Submunition begrenzt ist, doch wir wissen noch nicht, wie dicht die Submunition gebündelt werden kann, und daher kennen wir noch nicht ihre vollen Fähigkeiten. Damit möchte ich schließen, vielen Dank.