ESS ja, aber Garching jetzt sofort!

Der neue Forschungsreaktor in Garching hat immer noch seine endgültige Betriebsgenehmigung nicht, da wird bereits eine noch effektivere Neutronenquelle geplant.


Das ideologische Trauerspiel um die dritte und endgültige Teilgenehmigung für den Forschungsreaktor der Technischen Universität München (FRM-2), die momentan weltweit modernste und sicherste Neutronenquelle, zieht sich nun schon anderthalb Jahre hin; einige Forscher reden bereits von einer „Kalkarisierung“ der Forschungsstätte. Die vom Bundesumweltministerium vorgebrachten angeblichen „Sicherheitsbedenken“ werden immer abstruser. So soll die Forschungsanlage nach den Ereignissen des 11. September jetzt auch gegen Flugzeugangriffe sicher sein. Mit dem gleichen „Totschlagsargument“ ließe sich alles stillegen, dann müßten Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Kraftwerke, Fabriken, Schulen geschlossen, alle Hochhäuser evakuiert werden…

Inzwischen scheint die Forschungspolitik schon wieder andere Wege zu gehen. So wurde für den 16.–17. Mai eine große Konferenz der Europäischen Spallationsquelle (ESS) in Bonn inklusive Pressekonferenz mit anschließendem „Dinner auf dem Rhein“ angekündigt, auf der der Plan einer neuen, hochleistungsfähigen Neutronenquelle in Europa vorgestellt werden soll. Das Forschungszentrum Jülich bewirbt sich um den Standort, und auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement macht sich für das Projekt stark.

Endmontage des weltweit einzigartigen Neutronen-Resonanz-Spinecho-Spektrometers im Forschungsreaktor München 2. Foto: FRM-2

Mit EU-Mitteln soll die leistungsfähigste Neutronenquelle der Welt entstehen, wobei die Neutronen jedoch anders erzeugt werden sollen als in dem Garchinger Forschungsreaktor, nämlich durch die Zertrümmerung („Spallation“) von Atomkernen. Der dadurch erzeugte Neutronenstrahl tritt meist gepulst auf – in Garching erhält man einen gleichmäßigen Neutronenfluß –, wodurch noch andersartige Untersuchungen, z. B. zeitaufgelöste Messungen, möglich werden.

Außerdem soll die Spallationsquelle eine Weiterentwicklung und Ergänzung der heute schon völlig überlasteten Neutronenquelle des Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble sein, vor allem weil ihre Leistungsfähigkeit die aller bisherigen Neutronenquellen, insbesondere der existierenden Spallationsquellen, weit übertreffen wird.

Bei der immer weiter wachsenden Nachfrage nach Neutronen in der Forschung ist eine solche Anlage zweifellos äußerst begrüßenswert, doch es kommt die Frage auf: wenn der FRM-2 in Garching nicht in Betrieb gesetzt wird, welche Perspektiven hat dann dieses neue Projekt – vor allem in Jülich? Betrachten wir etwas genauer, worum es im einzelnen geht.

Die Bedeutung von Neutronenquellen

Neutronen, die elektrisch neutralen Bausteine innerhalb des Atomkerns, wurden erst 1932 entdeckt. Seitdem hat man die große Bedeutung von Neutronen für die Erforschung kleinster atomarer Strukturen immer deutlicher erkannt, sei es in Werkstoffen wie Stahl und Beton oder in lebenden Zellen bei biologischen Untersuchungen, sei es zur gezielten Bekämpfung von Oberflächenkrebsen. Allein am alten Garchinger „Atomei“, der Vorgänger-Neutronenquelle des FRM-2, wo man schon 1985 mit der Tumortherapie begann, wurden pro Jahr 60 bis 80 Patienten behandelt, d. h. bis Mitte 1996 konnten ca. 500 Patienten (34 % Kopf-Hals-Tumoren, 26 % Mammakarzinome, 12 % Speicheldrüsenkarzinome, 11 % maligne Melanome und 11% Weichteilsarkome) versorgt werden. Alle diese Patienten befanden sich durchweg in einem fortgeschrittenen Tumorstadium, und durch die Neutronenbestrahlung eröffneten sich teilweise Heilungschancen (bes. der Weichteilsarkome), vor allem aber konnte ein hoher palliativer Effekt (Beschwerdelinderung) erzielt werden. In Garching wurden in Zusammenarbeit mit Chemikern auch zusätzliche Substanzen für die Neutronen-Boreinfangtherapie entwickelt. Allein für den medizinischen Bereich wäre also die Inbetriebnahme der neuen Neutronenquelle längst überfällig.

Auch in der Materialforschung und Biophysik lassen sich mit anderen Methoden nur schwer zugängliche Strukturen und Prozesse auf atomarer und molekularer Ebene viel besser untersuchen, denn Neutronen sind – wie der Name schon andeutet – elektrisch nicht geladen, sie wandern daher ungehindert bis in die innersten Bereiche von Proben und hinterlassen dabei keinerlei Zerstörungen. Dabei wird auch ausgenutzt, daß die sogenannten „thermischen Neutronen“ eine Wellenlänge in der Größenordnung der Atomabstände und gleichzeitig eine kinetische Energie (Schwingungsintensität) in der Größenordnung der Energie der atomaren Schwingungen besitzen.

Da das Neutron auch ein magnetisches Moment aufweist, lassen sich an einer Neutronenquelle außerdem magnetische Strukturen und in der Grundlagenforschung die mikroskopischen Ursachen des Magnetismus untersuchen. Ähnlich wie die Frage nach den atomaren Vorgängen beim Übergang eines Stoffes vom festen zum flüssigen Zustand oder die Frage der Verteilung der elektrischen Ladung innerhalb eines Materials ist dies einer Frage, die in der Naturforschung nach wie vor ungeklärt ist. Sogar die Eigenschaften der Neutronen selbst können besser erforscht werden – also viele faszinierende Fragen für zukünftige Generationen von Wissenschaftlern und Forschern! Diese Erkenntnisse haben direkte Auswirkung auf industrielle Innovationen.

Am FRM-2 in Garching wird auch die weltweit bisher einzige Positronenquelle installiert werden, welche u. a. für die Nutzung eines Positronenmikroskops bestimmt ist. Mit den Positronen, einem Bestandteil der Antimaterie, verfügt die Festkörperphysik über hochsensitive Sondenteilchen zur Untersuchung vieler Stoffgruppen, wie zum Beispiel Metalle, Halbleiter und Polymere auf atomarer Ebene. Zur Untersuchung von Festkörpereigenschaften wie Zugfestigkeit, Elastizität, elektrische Leitfähigkeit usw. muß man Erkenntnisse über die atomare Mikrostruktur haben. Mit der neuen Positronenquelle wird eine Intensität von etwa 1010 e+/s angestrebt. Diese um Größenordnungen höhere Strahlintensität als im Labormaßstab (meist bis 106 e+/s) wird vollkommen neue Meßtechniken ermöglichen. Darüber hinaus werden sich die Meßzeiten erheblich verringern und die Messungen selber viel genauer werden. So wie diese Experimentiereinrichtung an der Positronenquelle wird es 9 weitere Meßplätze geben, die das Prädikat Weltneuheit verdienen.

Verheerende Konsequenzen „grüner“ Verzögerungstaktik

Auf die Inbetriebnahme des Garchinger Forschungsreaktors warten seit anderthalb Jahren über 100 Wissenschaftler, Ingenieure und Facharbeiter, vor allem viele junge Nachwuchswissenschaftler aus allen Teilen Deutschlands und der ganzen Welt. Gerade für junge Forscher ist die Lage unerträglich, da wissenschaftliche Stellen meist auf fünf Jahre begrenzt vergeben werden, wobei generell dreieinhalb Jahre für die Entwicklung eines Instruments, die restliche Zeit für das Experimentieren gedacht sind. Deswegen stehen die meisten jungen Forscher nun nach langer Wartezeit ohne Ergebnis da, „ohne überhaupt ein Neutron gesehen zu haben“, wie es ein Forscher ausdrückte.

Dabei stehen 19 von mittelfristig 30 bis 35 teilweise weltweit einzigartiger Instrumente mit Betriebsbeginn des FRM-2 einsatzbereit zur Verfügung. Durch die grüne Verzögerungstaktik Trittinscher Art ist für viele ihrer Erbauer nach Ablauf der wissenschaftlichen Vorbereitungszeit – Grundvoraussetzung für den weiteren wissenschaftlichen Werdegang – nun die Zeit abgelaufen, und den meisten bleibt nur der Ausweg, in die Industrie zu gehen oder ins Ausland abzuwandern. Die Konsequenzen dieses „brain drain“ hat wohl bei den Verantwortlichen niemand so richtig bedacht. In Zukunft werden sich physikbegeisterte Schüler noch genauer überlegen, ob sie überhaupt eine wissenschaftliche Forschungslaufbahn in Angriff nehmen sollen.

Damit stellt sich zwangsläufig die Frage, wie groß die Chancen für den Bau der neuen europäischen Neutronenquelle mit Standort Jülich überhaupt sind. Wenn Deutschland nicht in der Lage ist, eine hochkarätige, bereits fertige Forschungsstätte in Gang zu setzen, welche Glaubwürdigkeit hat man dann noch in der Welt? Ist der Forschungsstandort Deutschland überhaupt noch verläßlich?

Keine Forschung, aber hohe Kosten

Wie der Direktoriumssprecher des FRM-2, Winfried Petry, erklärte, sind bis zur Verwirklichung der geplanten europäischen Spallationsquelle noch viele technische Probleme zu lösen. Der Hauptgrund dafür liegt darin, daß bei dem Spallationsverfahren der Atomkern – anders als bei der herkömmlichen Kernspaltung – „zerhauen“ wird und sich dadurch nicht nur in zwei, sondern in etwa 20 Teile aufspaltet. Dabei werden ca. 12–30 Neutronen frei, ein deutlich besserer Ertrag an Neutronen als die 1,5 bis 2 pro Kernspaltung im Reaktor. Für dieses „Zerhauen“ ist aber ein sehr starker und zuverlässiger Beschleuniger erforderlich.

Nur ein Beispiel: Die leistungsfähigste gepulste Spallationsquelle der Welt, „ISIS“ am Rutherford Appleton Laboratory nahe Oxford, liefert über die Zeit gemittelt weniger Neutronen als der alte FRM-1 in Garching, das bekannte „Atomei“.

Geschätzt wird, daß es bis zur Fertigstellung und Inbetriebnahme der geplanten Europäischen Spallationsquelle mindestens 10, eventuell 15 Jahre dauern wird. Die ESS soll etwa 1,5 Milliarden Euro kosten, etwa das Dreieinhalbfache des neuen Garchinger Reaktors. Die Kosten für die Nichtinbetriebnahme des FRM-2 belaufen sich mit Personalkosten, Zinszahlungen für die Investitionen und Schadenersatzansprüche auf täglich 125.000 Euro, das sind 3,75 Millionen Euro im Monat.

Die Kostenfrage großer Forschungsprojekte sollte allerdings für ein zukunftsorientiertes Land nie das entscheidende Thema sein, denn das Wissen, die Erfahrungen und die Forschungsergebnisse werden sich mehrfach wieder auszahlen, wenn sie in Wirtschaft, Medizin oder auch bei der Ausbildung angewendet werden. Deshalb muß es heißen: ESS ja, aber Garching jetzt sofort!

Die sofortige Inbetriebnahme des FRM-2 ist für Kanzlerkandidat Stoiber sozusagen die Eignungsprüfung, mit der er beweisen kann, ob er es mit der Zukunft der Forschungsstätte Deutschland und dem Setzen neuer, großer Perspektiven für eine neue Forschergeneration wirklich ernst meint.