Von Anfang an war Einsteins spezielle Relativitätstheorie heftig umstritten. Unter den Wissenschaftlern, die grundsätzlichen Zweifel an ihr äußerten, gehörten u. a. solche bekannten Namen wie A. A. Michelson, Walther Ritz, Frederick Soddy, Joseph Larmor, Sir Oliver Lodge, P. W. Bridgeman und viele andere, deren Widerstand gegen Einsteins Theorie sicherlich nicht – wie im Falle von Johannes Stark und Phillip Lenard – auf politische Motive und Vorurteile zurückzuführen war. Der berühmte Physiker A. A. Michelson, der bis zu seinem Tod ein entschiedener Gegner der Relativitätstheorie war, sagte einmal zu Einstein, er bedauere es, daß sein berühmtes Interferenzexperiment diesem Monster den Weg bereitet habe!
Heute, fast ein Jahrhundert nach der Geburt der speziellen Relativitätstheorie, gilt diese Theorie in der einschlägigen Literatur sowie in den Hörsälen als eiserner Bestandteil des modernen physikalischen Wissens. Man könnte leicht den falschen Eindruck bekommen, als ob der wissenschaftliche Streit über die spezielle Relativitätstheorie (SRT) längst ad acta gelegt worden wäre und ihre prinzipielle Richtigkeit nur noch von Ignoranten oder Spinnern ernsthaft in Frage gestellt werden könnte.
Daß die wirkliche Sachlage nicht ganz so eindeutig ist, wird in dem 1997 erschienenen Buch Requiem für die spezielle Relativität auf eindrucksvolle Weise dokumentiert. Die Autoren – der in Israel ausgebildete Physiker Georg Galeczki und der deutsche Physiker Peter Marquart – haben eine ungewöhnlich vielseitige und umfassende Kritik der theoretischen und experimentellen Grundlage der SRT geliefert, die interessante und teilweise überraschende neue Gesichtspunkte enthält. Das Buch bleibt keineswegs auf die negative Seite begrenzt, sondern weist auf mehrere interessante Problemstellungen hin, die experimentell weiterverfolgt werden müßten.
Der Verfasser dieses Kommentars hat zwar noch keine endgültige Meinung über das Thema „Requiem“ gefaßt. Doch soviel ist auf jeden Fall klar: Das Buch von Galeczki und Marquart stellt eine Fundgrube von Argumenten und Informationen für jeden dar, der sich ein eigenes, selbständiges Urteil über diesen Thema bilden will.
Es geht uns darum, daß es in der Grundlagenforschung wieder vorwärts geht. Wir denken, daß Einstein selbst in diesem Sinne arbeiten wollte, und daß er mit der Relativitätstheorie nur eine mehr oder weniger gut begründete Hypothese, aber keinen Dogma aufbauen wollte. So schrieb Einstein selbst gegen Ende seines Lebens: „Bei der [in der speziellen Relativität – JT] gegebenen physikalischen Interpretation von Koordinaten bedeutet dies [die Lorentz-Transformation – JT] nicht etwa nur einen konventionellen Schritt, sondern involviert bestimmte Hypothesen über das tatsächliche Verhalten bewegter Maßstäbe und Uhren, die durch Experimente bestätigt bzw. widerlegt werden können.“
Entsprechend diesem Bekenntnis zur Methode der Hypothese hat Einstein z. B. 1921 den amerikanischen Physiker Dayton Miller ausdrücklich unterstützt, als dieser den Ursachen der persistierenden „Nicht-Null-Effekte“ bei den Interferenzversuchen nach Michelson und Morley experimentell nachgehen wollte. Was bei den Interferenzversuchen wirklich nachgewiesen wurde, war nämlich kein klarer Null-Effekt, sondern lediglich ein viel kleinerer Effekt, als man aus den einfachsten Annahmen einer Bewegung der Erde im „Äther“ hätte erwarten sollen. Damit wurde eine echte Anomalie geschaffen, doch in Reaktion darauf gingen die Wege auseinander. 1921 war es offenbar noch möglich, über diese Dinge frei und sachlich zu debattieren.
Mit diesem Beispiel wollen wir nur folgendes unterstreichen: Die Naturwissenschaft lebt von einer offenen, kritischen Haltung, die keine Dogmen dulden will. Ist es nicht eben ein Hauptverdienst von Einstein selbst, daß er den naiven, unter den Physikern meistens völlig undurchdachten Begriff der Gleichzeitigkeit von Ereignissen grundsätzlich in Frage stellte und dies zu einer Frage der experimentellen Physik machen wollte. Ob Einstein die richtige Antwort darauf gegeben hat, kann und soll diskutiert werden. Ironischerweise besteht ein wesentlicher Punkt der Kritik von Galeczki und Marquart darin, daß Einstein in seinem Umgang mit physikalischen Begriffen wie „Lichtsignal“ und „Geschwindigkeit“ viel zu unkritisch umgegangen ist; daß er simplistische Annahmen in seine Theorie eingeschleppt hat, welche die physische Realität entfremden und von den Tatsachen nicht unterstützt werden.
Das Buch von Galeczki und Marquart hat bereits hohe Wellen geschlagen. Nach der Veröffentlichung eines Artikels über das Thema in dem Magazin PM wurde das „Requiem für die spezielle Relativität“ in dem Magazin Bild der Wissenschaft heftig angegriffen, und es folgten aufgeregte Leserbriefe. Als ein Beitrag zur Debatte wollen wir Galeczki und Marquart nun selbst zu Wort kommen lassen, zunächst mit einem kurzen Kommentar und schließlich mit der vollständigen Gegendarstellung zu dem Artikel in Bild der Wissenschaft, von der nur kurze Auszüge als „Leserzuschrift“ in Heft 6/1998 abgedruckt wurden.