„Mit einer optimalen Ressourcennutzung allein wird das Niveau der Patientenversorgung in Deutschland nicht zu halten sein.“ In dieser etwas umständlichen Aussage des „Bündnisses Gesundheit 2000“, das 4,2 Mio. direkt und indirekt Beschäftigte im Gesundheitswesen vertritt, steckt mehr Wahrheit, als es seinen Autoren wahrscheinlich selbst bewußt ist. Auf gut deutsch könnte man auch sagen, daß das Gesundheitswesen angesichts der schweren Wirtschaftskrise auch mit noch soviel Sparen nicht wird gerettet werden können. Nicht nur die gescheiterten Reformversuche sämtlicher Bundesregierungen der letzten 15 Jahre, sondern bereits eine einfache volkswirtschaftliche Rechnung beweisen das.
Die Ursache der Finanzkrise in der Gesetzlichen Krankenversicherung ist nicht die immer wieder behauptete „Kostenexplosion“ – der Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttosozialprodukt ist seit 1980 so gut wie konstant geblieben –, sondern die schwere Weltwirtschafts- und -finanzkrise, die auch Deutschland voll erfaßt hat. Durch die immer weiter steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Realeinkommen fließen den Krankenkassen immer weniger Einnahmen zu. Aufgrund der geltenden Berechnungsbestimmungen führt schon eine geringe Zunahme der Arbeitslosigkeit zu erheblichen Einnahmeausfällen.
Der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister Heiner Geißler (CDU) hatte 1974 das Märchen von der „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen erfunden. Seine statistischen Fehlschlüsse wurden zum ideologischen Grundstein für die Kostendämpfungspolitik, mit der das Gesundheitswesen seit über 20 Jahren traktiert wird. Seitdem ist „Gesundheitspolitik“ nur noch GKV-Ausgabendämpfungs-Politik. Über die Defizite des Gesundheitssystems gibt es keine Diskussion mehr, die diesen Namen verdient hätte: Das System sei zu teuer, ineffizient, qualitativ nur mäßig und in erster Linie Profitquelle der Anbieter von Gesundheitsprodukten und -dienstleistungen. Belege für diese Allgemeinplätze werden nicht mehr verlangt. Aus dieser Perspektive ist das Gesundheitswesen ein Faß ohne Boden, in das ständig frisches Geld fließt, was aber nicht den Patienten zugute kommt, sondern den Leistungserbringern.
Alle Bundesregierungen der letzten Zeit haben vor den einfachsten wirtschaftspolitischen Zusammenhängen die Augen verschlossen. Ohne Rücksicht auf Verluste wird nach wie vor an dem utopischen Ziel einer ausgewogenen Einnahme/Ausgaben-Bilanz der GKV festgehalten, obwohl längst unübersehbar ist, daß die Bürger im Lande diese Politik mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben bezahlen müssen.
Wie in einem Brennglas wird am Beispiel des Gesundheitswesens deutlich, welche Konsequenzen heute die Anfang der 70er Jahre in Gang gesetzte falsche Weichenstellung in den gesellschaftlichen Grundparametern hat. Der Paradigmawechsel, der damals die Wende von der Produzenten- zur Konsumentengesellschaft einleitete, bescherte uns nicht nur die heute allgegenwärtige „Spaßgesellschaft“, sondern auch die Spekulationsexzesse an den internationalen Finanzmärkten, deren groteske Überblähung mittlerweile sämtliche produktive Bereiche der Wirtschaft erstickt haben.
Neuen Reichtum schaffen
Auch das „Bündnis Gesundheit 2000“ hat zwar die zentrale Frage nach der Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung gestellt. Doch taugen die in verschiedenen Eckpunkten favorisierten Lösungsvorschläge aus verschiedenen Gründen nichts. So wird eine kollabierende Realwirtschaft mit einem Heer von Arbeitslosen niemals in der Lage sein, den Reichtum zu schaffen, der für den Erhalt und den Ausbau einer modernen leistungsfähigen Medizin für alle Bevölkerungsschichten notwendig ist. Die Forderung, die Einnahmeseite so zu gestalten, „daß sie von der Arbeitsmarktentwicklung weitgehend unabhängig ist“, ist daher völlig illusorisch.
Es ist zwar begrüßenswert, daß die Autoren der Eckpunkte „im bewährten System der solidarischen Gesetzlichen Krankenversicherung“ verbleiben wollen, doch was soll es bringen, lediglich den Leistungskatalog von „fragwürdigen“ und „versicherungsfremden“ Leistungen zu entrümpeln? Insgesamt ließe sich durch solche Maßnahmen vielleicht ein Einspareffekt von einigen Milliarden Euro erzielen – eine Summe, die mit einem geringfügigen Anstieg der Arbeitslosigkeit sofort wieder aufgefressen wäre. Dann ginge die gleiche Debatte wieder los, die sich ohnehin seit Jahren im Kreise dreht. Im gleichen Maße erhielten jene neoliberalen Kräfte immer mehr Gewicht, die eine völlige Privatisierung des Gesundheitswesens samt der Krankenkassen fordern. Die Konsequenzen davon lassen sich an den verheerenden Zuständen der Krankenversorgung in den USA ablesen.
So hat bereits der Vorsitzende der neuen Sozialreformkommission der Bundesregierung Bert Rürup einen Katalog der Schrecklichkeit vorgelegt: Die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung sollen auf das „medizinisch Notwendige“ beschränkt werden, als wenn es nach den bereits erfolgten massiven Einschnitten noch irgendetwas „Überflüssiges“ in den Kassenleistungen gäbe.
Die entscheidende Frage lautet also: Warum sich auf Lösungswege begeben, die sich schon nach kurzer Wegstrecke als Einbahnstraße entpuppen werden?
Das Gesundheitswesen ist essentieller Bestandteil eines jeden funktionierenden Staates, und der Regierung obliegt die Pflicht, für die Sicherstellung der benötigten Finanzmittel zu sorgen. Wenn eine jahrzehntelange falsche Wirtschaftspolitik die Existenzgrundlage der GKV ruiniert hat, dann muß diese falsche Wirtschaftspolitik eben korrigiert werden. Eine radikale Wende ist erforderlich, die wieder Produktion statt sinnloser Spekulation fördert. Die Art der Krise, in der wir stecken, ist auch längst keine konjunkturelle mehr, sondern eine Systemkrise, die ganz andere Maßnahmen zu ihrer Überwindung erfordert als bloße Stimulierungsmaßnahmen, damit die Wirtschaftstätigkeit irgendwann wieder anspringt. Die gigantische, unumkehrbare Verschuldung nicht nur von Bund, Ländern und Gemeinden, sondern der gesamten Weltwirtschaft ist der beste Beleg dafür.
In dieser Ausgabe von FUSION können Sie nachlesen, wie Deutschland seit Ende der sechziger Jahre immer weiter in die Schuldenfalle hineingelaufen ist und dadurch eine immer schnellere realwirtschaftliche Selbstzerstörung in Gang gesetzt wurde.
Um aus dieser selbstgestellten Falle wieder herauszukommen, bedarf es tiefgreifender Veränderungen im Bewußtsein der Bevölkerung und der führenden Institutionen – Veränderungen der Art, die nur unter Bedingungen einer schweren Krise möglich sind. Es bedarf eines neuen Besinnens auf das Prinzip des Gemeinwohls, auf die Kultur des Produzenten statt des Verbrauchers, auf die Kultur des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts und auf die klassische humanistische Bildung im Sinne von Humboldt statt des grünen Kulturpessimismus.
Diese Ziele sind nur mit tiefgreifenden Reformen des krisengeplagten Weltfinanz- und -wirtschaftssystems erreichbar. Solche Reformen sind aber längst überfällig und kaum mehr zu verschieben. Die Richtlinien dafür sind von Lyndon LaRouche in zahlreichen Veröffentlichungen angegeben worden: die Reorganisierung des Weltfinanzsystems nach dem Prinzip des „neuen Bretton Woods“, die Schaffung neuer nationaler und internationaler Institutionen zur langfristigen Finanzierung der agroindustriellen und infrastrukturellen Entwicklung und des weltweiten Technologietransfers – ein neuer „Dialog der Kulturen“.
Im Rahmen einer solchen neuen Aufbruchstimmung, mit der der ganze unproduktive Ballast der letzten Jahrzehnte über Bord geworfen wird, wird auch die Finanzierung des Gesundheitswesens in Deutschland kein Problem mehr sein. Wir müssen nicht Leben und Gesundheit der Menschen aufs Spiel setzen, um mit Problemen fertig zu werden, die gar nicht im engen Rahmen des Gesundheitssystems selbst gelöst werden können.