Seit am 15. September 2013 der Reaktor Ohi-4 für routinemäßige Wartungsarbeiten heruntergefahren wurde, sind in Japan alle 50 Kernreaktoren vom Netz. 30 Prozent des Stroms im Land, der früher aus Kernkraft erzeugt wurde, müssen nun durch importierte Kohle und Erdgas ersetzt werden, was teuer und ist und Umweltrisiken mit sich bringt. Mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne nach der Zerstörung der Reaktoren von Fukushima durch den Tsunami, als alle Reaktoren bis auf zwei aus Sicherheitsgründen abgeschaltet waren, ist Japan damit zum ersten Mal seit 1966 ganz ohne Kernkraft. Den ersten kommerziellen Reaktor, Tokai 1, einen gasgekühlten 160 MWe (Magnox)-Reaktor, importierte Japan damals vom britischen Unternehmen GEC, er war von Juli 1966 bis März 1998 in Betrieb.
Obwohl die Anti-Atomlobby rund um die Welt täglich Propaganda macht und die vorangegangenen Regierungen der Demokratischen Partei (DPJ) eine radikal grüne Politik betrieben, ist unter der jetzigen Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe von einem Atomausstieg wie in Deutschland keine Rede mehr. Handelsminister Toshimitsu Motegi warnte, die Regierung werde nicht zulassen, daß ihr Programm für eine wirtschaftliche Erholung durch einen Ausstieg aus der Bahn geworfen wird. „Wir müssen die Politik der letzten Regierung, die darauf abzielte, in den 2030er Jahren null Kernkraft möglich zu machen, überdenken”, sagte er schon im Frühjahr.
Aber nicht nur Japan selbst würde unter einem „Ausstieg” leiden. Japans hochmoderne Industrie ist unverzichtbar, um den Energiebedarf der Welt für eine industrielle und wirtschaftliche Renaissance zu decken. Wie wir im folgenden ausführen, sind viele Länder auf die Produkte der japanischen kerntechnischen Industrie angewiesen, und wenn die Welt den notwendigen Sprung in die Kernfusionswirtschaft macht, ist Japan dazu prädestiniert, einen ganz wesentlichen Teil dazu beizutragen.
Einige Reaktoren sollen wieder arbeiten
Es ist geplant, mehrere der vom Netz genommenen Kernkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Der größte Lieferant für Japans Kerntechnik, der französische staatliche Areva-Konzern, hat angekündigt, Tokio wolle in diesem Jahr sechs Reaktoren wieder hochfah ren. Areva-Geschäftsführer Luc Oursel sagte bei einer Pressekonferenz im März in Paris: „Es könnten ein halbes Dutzend Reaktoren sein, die bis Jahresende wieder arbeiten.” Nach einem Bericht in Russia Today vom 5. März sagte Oursel, innerhalb einiger Jahre „werden zwei Drittel der Reaktoren wieder laufen, denke ich”.
Allerdings sieht nicht jeder den Zeitplan so. So hieß es zum Beispiel bei der japanischen Presseagentur Kyodo, die Atommeiler im Land würden noch bis Ende 2013 stillstehen. Die Entscheidung liegt bei der Regierung Abe, aber sowohl diese als auch ein beträchtlicher Teil der Japaner setzt auf die Rückkehr zur Kernkraft. Als mit der Wahl im vergangenen Dezember die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) wieder an die Regierung kam, bedeutete das faktisch das Ende der Idee vom Ausstieg, den die letzte Regierung offenbar vorhatte. Abe hatte im Wahlkampf die Bedeutung der Kernkraft für Japans Wirtschaft ausdrücklich betont. Sein Wirtschaftsprogramm sieht nicht nur die Rückkehr zur Atomkraft, sondern auch den Export von Kerntechnik vor.
Der Geschäftsführer der Wirtschaftsanalyse firma Japan Macro Advisors, Takuji Okubo, sagte der Internetseite Oil and Energy Daily am 22. Juli, die Branche könnte zu den Gewinnern der letzten Parlamentswahl gehören. „Eine ist die kerntechnische Industrie, wie Toshiba, Hitachi usw. Ich weiß nicht, wie populär dieser politische Vorstoß für Kernkraft ist, aber es ist die Politik der LDP, die Nuklearindustrie in Japan wiederzubeleben.”
Hinzu kommt, daß schon im September 2011 trotz der gewaltigen Propaganda der Anti-Atomlobby im In- und Ausland bei der Kommunalwahl am Reaktorstandort Kaminoseki der amtierende Bürgermeister und Kernkraftbefürworter Shigemi Kashiwabara gegen einen Konkurrenten, der ein ausdrücklicher Atomkraftgegner war, wiedergewählt wurde. Das war nur wenige Monate nach der Katastrophe von Fukushima, die von den Kernkraftgegnern in den Medien weithin für ihre Zwecke ausgenutzt wurde. Daher kann die Wahl als eine Wasserscheide betrachtet werden, da die Mehrheit der Einwohner den Bürgermeister, der für den Bau eines neuen Reaktors ist, unterstützt hat.
Viel steht auf dem Spiel
Im Augenblick steht fest, daß einige, vielleicht sogar die meisten der nach Fukushima vom Netz genommenen Reaktoren in den nächsten Jahren wieder in Betrieb gehen werden. Jede Verzögerung hierbei kann Japan und auch den Rest der Welt teuer zu stehen kommen. Daher muß die Reguierung unter Ministerpräsi dent Abe nun rasch dafür sorgen, daß die Renaissance der Kernkraftbranche in Japan mit allem, was damit verbunden ist – Stromerzeugung, kerntechnischer Maschinen- und Anlagenbau, Forschung und Entwicklung – nicht ins Straucheln gerät. Sonst könnte sich das für die wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Zukunft Japans verheerend auswirken.
Nach dem Amtsantritt im Dezember hatte Abe deutlich gemacht, daß die Kernkraft für Japan unverzichtbar bliebe, da der Ausbau der grünen „erneuerbaren” Energien den wachsenden Weltbedarf niemals decken werde, und daß die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sich die ständig steigenden Kosten für den Gas- und Kohleimport nicht leisten könne. Jetzt, da alle Reaktoren abgeschaltet sind, wird das für ihn zu einer sehr konkreten Herausforderung.
Abe verkündete bei seinem Amtsantritt, seine Regierung sehe ihre Hauptaufgabe darin, die seit mindestens 15 Jahren dahinsiechende Wirtschaft des Landes wieder in Schwung zu bringen. Dazu kündigte er trotz der hohen Verschuldung des Landes ein umfangreiches Konjunkturprogramm an.
Die Strategie der Regierung bestehe darin, so Abe, verschiedene staatliche Beschränkungen zu lokkern, um mehr private Investitionen anzulocken, u. a. in den Bereichen Medizin, Gesundheit, Kommunikationstechnik, Landwirtschaft, Energie und Infrastruktur. Dies soll durch einen Zusatzhaushalt für neue öffentliche Projekte und durch Reformen zur Erleichterung privater Investitionen finanziert werden.
Abe ernannte Haruhiko Kuroda, der acht Jahre bei der Asiatischen Entwicklungsbank tätig war, um über die Bank von Japan ein ehrgeiziges reflationäres Programm [die Mobilisierung von mehr liquiden Mitteln für die Wirtschaft] umzusetzen.
Steigendes Handelsdefizit, mehr Unsicherheit
Wegen der enormen zusätzlichen täglichen Kosten für die Volkswirtschaft durch die Abschaltung der Kernkraftwerke könnte dieses Programm jedoch ins Leere laufen. Die schlechten Nachrichten sind schon da. Im August verzeichnete Japan sein größtes Handelsdefizit aller Zeiten, obwohl die Ausfuhren ein Dreijahreshoch erreichten, weil die Kosten für Energieimporte so hoch waren.
Die Ausfuhren stiegen im August um 14,7 Prozent auf 5,8 Billiarden Yen (44 Milliarden EUR), weil der schwache Yen die Nachfrage nach japanischen Fahrzeugen ansteigen ließ. Aber dieser Anstieg wurde durch eine Zunahme der Einfuhren um 16 Prozent auf 6,7 Billiarden Yen (50 Milliarden EUR) wegen der Energiekosten mehr als wettgemacht. Die Kohleimporte stiegen im August um 5 Prozent auf 200 Milliarden Yen, Erdgasimporte aus dem Nahen Osten sogar um 19,1 Prozent auf 182 Milliarden Yen. 2012 kaufte Japan als weltgrößter Erdgasimporteur die Rekordmenge von 87,3 Millionen Tonnen. Das waren 11,2 Prozent mehr als im Vorjahr. Im letzten Jahr kostete eine Tonne Flüssiggas durchschnittlich 864 USD, das waren 13,4 Prozent mehr als 2011. Da die Einfuhren weiter zunehmen und der Preis tendenziell steigt, werden die Kosten sich 2013 nach Experteneinschätzungen weiter beträchtlich erhöhen.
Wegen der Abschaltung der Kernkraftwerke ist Japans Abhängigkeit von importiertem Öl und Gas von etwa 60 Prozent auf etwa 85 Prozent des Energiebedarfs angestiegen. 2011 verzeichnete das Land zum erstenmal seit 31 Jahren ein Handelsdefizit, 2012 gab es erneut ein Defizit in Höhe von 8,2 Billiarden Yen (62 Milliarden EUR). Etwa die Hälfte des Anstiegs ist Handelsminister Motegi zufolge auf die höheren Energiekosten zurückzuführen.
Außerdem muß Japan als Ersatz für die Kernreaktoren Gaskraftwerke bauen. Ein Experte, der frühere MIT-Professor Paul Joskow von der Alfred Sloan Foundation, sagte dazu: „In Japan kann der Betrieb von Gaskraftwerken ein Vielfaches des Betriebs von Kernkraftwerken kosten.”
Und natürlich kann es den Japanern nicht entgehen, daß der Nahe Osten, die Hauptquelle für die Gaslieferungen, politisch sehr unruhig ist, was die Stabilität der Öl- und Gaslieferungen in Frage stellt. Sollte es zu Unterbrechungen kommen, bedeutete das den Stillstand der japanischen Industrie, des Rückgrats der Wirtschaft, womit auch das Wohlergehen der Bevölkerung gefährdet wäre.
Der Vorsitzende des japanischen Verbands der Stromversorger, Makoto Yagi, sagte am 13. September zu Reportern in Tokio, ohne Kernkraft werde Japan im Winter möglicherweise keine ausreichende Stromversorgung haben. Die zehn regionalen Versorgungsunternehmen seien noch dabei, die Nachfrage und das Angebot für den Winter zu berechnen.
Die Welt braucht Japans Kerntechnik
Die Abschaltung der japanischen Kernkraftwerke wird aber nicht nur Japan selbst wirtschaftliche und soziale Instabilität bringen, sie könnte auch ein Schock für die Nuklearindustrie weltweit werden. Die ständige Litanei der Medien um die „Fukushima-Katastrophe” als angebliche Gefahr für die ganze Menschheit soll die Menschen in aller Welt bewegen, sich gegen die Kernkraft zu stellen – wobei fast immer unterschlagen wird, daß die „Fukushima-Katastrophe” kein einziges Menschenleben kostete. Die Kosten des Unfalls waren beträchtlich, aber niemand ist daran gestorben. Die eigentliche Katastrophe waren das Tohoku-Erdbeben und der dadurch ausgelöste Tsunami, die rund 20.000 Menschen das Leben kosteten. Aber keiner dieser
Menschen war das Opfer radioaktiver Strahlung.
Hier sind einige der Gründe, warum eine Schwächung der japanischen Atomindustrie die Kernkraftkapazitäten der Welt gefährdet:
➤ Der größte und bekannteste Lieferant schwerer Stahlteile für Reaktoren ist Japan Steel Works (JSW), gegründet 1907 von zwei britischen Firmen und einem japanischen Partner, Hokkaido Steel & Iron Co. JSW produziert Teile für Reaktordruckbehälter, Dampfgeneratoren und Turbinenwellen und hat in dem Bereich einen Weltmarktanteil von bis zu 80 Prozent. Besonders bekannt ist JSW dafür, daß der Konzern die Druckbehälter für die ersten beiden 1650-MW-EPR-Reaktoren von Areva in Finnland und in Frankreich baute. Seit 2008 läuft ein Vertrag mit der Dongfang Electric Corporation (DEC) zur Lieferung von Reaktorbauteilen, u. a. für Druckwasserbehälter an das Schwermaschinen unternehmen DFHM in Dongfang (Guangzhou) in China. Ein Vertrag über Lieferungen von JSW an Areva läuft noch bis mindestens 2016.
Zum Werk von JSW in Muroran gehören hydraulische Schmiedepressen mit 3000–14.000 Tonnen Kapazität, von denen die größte 600 Tonnen schwere Rohstahlblöcke verarbeiten kann, sowie eine 12.000-Tonnen-Stahlrohrpresse. 2007 konnte es nur vier Reaktordruckbehälter und damit zusammenhängende Großkomponenten herstellen, aber bis Anfang 2011 hatte sich dies auf zwölf verdreifacht.
JSW baut seit 1974 Stahlteile für Reaktorkomponenten nach den Vorgaben der amerikanischen Reaktoraufsichtskommission, und heute sind welt weit etwa 130 Druckwasserbehälter von JSW in Betrieb. Das Unternehmen möchte nach eigenen Angaben vor allem Druckbehälter für den chinesischen und US-amerikanischen Markt produzieren und hat Vorbestellungen von GE-Hitachi für Kom ponenten von Siedewasserreaktoren (ABWR und ESBWR) und EPR-Druckbehältern. Neue Aufträge kommen aus China, Indien und den USA sowie Europa. Und wenn Abe die Kernkraftnutzung wieder auf das Maß bringt, das notwendig wäre, dann wird JSW auch mit dem Bau von Druckbehältern für neue japanische Reaktoren beauftragt werden.
Die Nuklearindustrie der Welt ist international vernetzt und von japanischen Bauteilen abhängig. So erhielt beispielsweise die französische Areva in Indien den Zuschlag für den Bau von zwei 1600-Megawatt-Reaktoren in Jaitapur im Bundesstaat Maharashtra. Indien möchte in Jaitapur insgesamt 9900 MW Reaktorkapazität installieren – damit wäre das der größte Kernkraftkomplex der Welt. Aber Areva selbst kann keine so großen Druckbehälter liefern, sie müssen von JSW produziert werden.
Darüber hinaus plant Indien den Bau neuer Reaktoren von zusammen 20 GWe Leistung im Laufe der nächsten 10 bis 15 Jahre. Einige der Druckbehälter dafür müssen von JSW kaltgewalzt werden, egal welches westliche Unternehmen den Auftrag für ihren Bau erhält. Wenn die Regierung Abe die nukleare Stromerzeugung nicht wieder in Gang bringt, um den Engpaß bei der Stromversorgung zu überwinden, ist es unwahrscheinlich, daß JSW in den nächsten Jahren diese Druckbehälter an Indien, China oder andere Länder liefern kann.
➤ Die IHI Corporation, früher Ishikawajima-Harima Heavy Industries, gehört zu Japans führenden Schwermaschinenbauern und hat ihren Ursprung im Schiffbau im 19. und 20. Jahrhundert. Ihre Kraftwerksabteilung produziert Heizkessel, Gasturbinen, Reaktorausrüstung, Siedewasserdruckbehälter und Sicherheitsbehälter sowie auch Öl- und Gaskraftwerke. IHI hält 3 Prozent Anteile am US-Konzern Westinghouse und kooperiert mit Toshiba beim Kraftwerksbau. Es plant den Bau von Druckbehältern und Dampfgeneratoren für Druckwasserreaktoren von Toshiba und Westinghouse und stellte 2011 bei Yokohama für 2 Milliarden Yen ein neues Werk für Dampfgeneratoren fertig. Im Februar 2009 erhielt IHI von Westinghouse den Auftrag für zwei AP1000-Sicherheitsbehälter für ein Kernkraftwerk in den USA.
➤ Babcock-Hitachi KK wurde 1908 als Babcock & Wilcox in Großbritannien als Hersteller von Heizkesselteilen gegründet. 1953 ging B&W eine Fusion mit Hitachi Ltd. ein und 1987 übernahm Hitachi das Unternehmen ganz. Es produziert Reaktordruckbehälter, Dampfgeneratoren, Sicherheitsbehälter und andere Reaktorausrüstung. Es hat 15 Druckbehälter für Kernkraftwerke geliefert und arbeitet auch an Großkomponenten von gasgekühlten Hochtem peraturreaktoren und Schnellen Brütern.
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Neben Japans Schwerindustrie, die es vielen kapitalstarken Unternehmen in Japan, Europa und den USA ermöglicht, in aller Welt Großaufträge zu übernehmen und Kernkraftwerke zu bauen, gab und gibt es im Land aber auch in der Kerntechnik enorm viel Forschung und Entwicklung. Sogar inmitten der gegen wärtigen Turbulenzen in der Branche vermeldeten die Universität Osaka und die Sumitomo Corporation am 6. September, daß sie die Entwicklung eines anwendbaren medizinischen Systems für die Bor-Neutroneneinfangtherapie, kurz BNCT, abgeschlossen haben. Die BNCT-Geräte bieten eine neue Methode zur Krebsbehandlung, bei der die Eigenschaft des Bors, Neutronen einzufangen, ausgenutzt wird. Dabei wird Bor in die Krebszellen eingebracht und diese werden dann mit Neutronen bestrahlt, wodurch die erkrankten Zellen zerstört werden, ohne gesundes Gewebe zu schädigen. Die Therapie lohnt sich besonders bei Krebspatienten, bei denen andere Therapien keinen Erfolg haben, denn der ganze Körper wird nur einer geringen Strahlenbelastung ausgesetzt. Nun werden erstmals solche Geräte für die Anwendung in Krankenhäusern zur Verfügung stehen.