Kein Ausstieg aus dem Transrapid!

Am Schicksal der Traditionsfirma Henschel in Kassel wird deutlich, wie fatal sich der Zusammenbruch der deutschen Industriekultur auf heutige Technikentscheidungen auswirkt. Hat die Magnetschwebetechnik nach dem Unfall im Emsland nur noch im Ausland eine Zukunft?


Am 22. September raste der Transrapid auf der Teststrecke im Emsland mit 170 km/h in einen Werkstattwagen, der versehentlich noch auf der Trasse verblieben war. 23 Menschen kamen ums Leben, zehn Personen wurden schwer verletzt, die inzwischen jedoch außer Lebensgefahr sind und von denen neun bereits das Krankenhaus verlassen konnten. Die Ermittlungen haben ergeben, daß menschliches Versagen die Hauptursache des tragischen Unfalls war, technische Mängel konnten nicht erkannt werden. Der Transrapid hätte schlicht und einfach nicht die Freigabe für die Fahrt erhalten dürfen.

Der Unfall eröffnet einen neuen Akt in dem deutschen Trauerspiel um die grundlegend revolutionäre Neuerung in der Bahntechnik seit dem Bau der ersten Eisenbahnen. Natürlich erhob sich danach sofort der Chor der Transrapidgegner, die den Abgesang auf das in ihren Augen „überflüssige Mammutprojekt“ anstimmten. Und merkwürdig auch die ersten Stellungnahmen des Bundesverkehrsministers Wolfgang Tiefensee, der angesichts „erheblicher Sicherheitslücken“ von einem grundlegenden Überdenken des Transrapids und der Magnetschwebetechnik insgesamt sprach.

Die Transrapidstrecke in Shanghai. Trotz des tragischen Unglücks im Emsland wäre es fatal, wenn Deutschland die Magnetschwebetechnik insgesamt „überdenken“ würde. (Foto: Transrapid International)

Nach all dem, was wir im Moment über den Unfallhergang und seine Ursachen wissen, eines kann mit Sicherheit festgestellt werden: So tragisch der Verlust von Menschenleben und das Schicksal der Verletzten, so massiv auch der moralische Rückschlag für die Techniker und Ingenieure, für die Arbeiter und Angestellten und alle Beteiligten an dem Projekt auch sein mögen, grundsätzlich in Frage stellen kann und darf dieser Unfall das Projekt der Revolutionierung der Verkehrstechnik in Deutschland, Europa und weltweit auf gar keinen Fall. Vielmehr müssen sich die politisch Verantwortlichen der etablierten Parteien fragen, inwieweit der „Eiertanz“ um den Einsatz des Transrapid in Deutschland und die letztendlich fehlende Entschlossenheit, wenigstens eine Referenzstrecke auf die Beine zu stellen, nicht zu der Demoralisierung und Demotivierung beigetragen hat, die mit Sicherheit auch ein Faktor bei der Unfallursache war. Wer einmal mit Mitarbeitern bei ThyssenKrupp auf dem Transrapidgelände in Kassel gesprochen und ihre Gefühlslage kennengelernt hat, weiß, wovon ich spreche.

Erst wenige Tage vor dem Unglück im Emsland hatte das für den Transrapid verantwortliche Mitglied des Konzernvorstands Olaf Berlien in Athen eine Bombe platzen lassen. Er erklärte, die ThyssenKrupp AG erwäge einen Ausstieg aus dem Transrapid-Geschäft und eine Weitergabe der Technologie an China. „Irgendwann ist Schluß mit lustig. Wir müssen in den nächsten 18 Monaten zu einer Entscheidung kommen“, so hatte Berlien seinem Frust über die jahrelangen ergebnislosen Diskussionen um den Bau einer Transrapidstrecke in Deutschland Luft gemacht. Und er hatte hinzugefügt: „Es könnte zu einem Transfer der Technologie und der Arbeitsplätze nach China kommen. Denkbar ist auch eine gemeinsame Vermarktung des Transrapid in einem Joint Venture oder einer Vertriebspartnerschaft mit Peking.“ In diesem Fall eines Ausstiegs und einer Vermarktung mit China, so Berlien, würde der Konzern seine Investitionskosten in 3 bis 5 Jahren wieder zurückerhalten. Und direkt an die Bundesregierung gerichtet, beantwortete er die Frage nach einer finanziellen Beteiligung von ThyssenKrupp an einer Transrapidstrecke: „Wir sind Hersteller und keine Betreiber. Der Bau von Infrastrukturprojekten ist eine Aufgabe der Regierung.“

Dieses Ultimatum an die Bundesregierung ist durchaus verständlich, wenn wir uns noch einmal in Erinnerung rufen, daß bereits 1991 durch die Bundesbahn und Ingenieure verschiedener Universitäten die uneingeschränkte technische Einsatzreife der Magnetschwebebahn festgestellt wurde. 1998 wurde das Raumordnungsverfahren für die Trasse Hamburg- Berlin abgeschlossen. Umgesetzt wurde der Plan nicht, die Politik entschied sich 2001 gegen das Projekt. Ende 2002 der Hoffnungsschimmer mit der Jungfernfahrt des Transrapid in Shanghai. Inzwischen hat er über 7 Millionen Passagiere in China befördert. Im Koalitionsvertrag von 2005 beschließt die Große Koalition den Bau von mindestens einer kommerziell genutzten Strecke in Deutschland. Das Planfeststellungsverfahren für die Münchener Strecke wurde 2003 begonnen. Die Kernfrage, die Berlien klar und unmißverständlich gestellt hat, lautet: Wollen die politisch Verantwortlichen und will die Bevölkerung, daß der Transrapid und seine Technik in Deutschland eine Zukunft hat?

Und man könnte hinzufügen: Sind wir uns eigentlich bewußt darüber, welche Signale wir an die jungen Menschen in Deutschland geben, wenn wir aus den zukunftsträchtigen technologischen Bereichen, der Kerntechnik, der Transrapidtechnik, der Luft- und Raumfahrt „aussteigen“ und zusehen, wie andere Länder die Leistungen deutscher Ingenieurskunst begeistert aufnehmen und anwenden? Warum sollen sich Studenten an den Technischen Hochschulen anstrengen, an die Errungenschaften früherer Unternehmer-, Techniker- und Ingenieursgenerationen anzuknüpfen, wenn Deutschland den Trittins, Gabriels, Scheers und von Weizsäckers weiter erlaubt, unser Land in eine Müllhalde für fortschrittliche Hochtechnologie zu verwandeln?

Die Firma Henschel

Wie verrückt und selbstmörderisch Ausstiegsszenarien aus Hochtechnologiebereichen für eine Industrienation sind, wird leicht nachvollziehbar, wenn wir uns die wissenschaftlichen und technischen Traditionen vergegenwärtigen, aus denen technische Neuerungen wie die Transrapidtechnik erwachsen sind. Daß die Magnetschwebetechnik in Kassel entwickelt und zur Einsatzreife gebracht wurde, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer über Generationen entstandenen Industrie- und Ingenieurskultur. Die Ursprünge reichen zurück bis in die Zeit Anfang des 19. Jh., als Carl Anton Henschel nach dem Besuch von Lyzeum und Kunstakademie sowie einem Mathematik- Privatstudium in die Gießerei seines Vaters einsteigt und in den folgenden Jahren die volle Anwendung der ersten industriellen Revolution auf Basis der Dampfkraft vorantreibt.

Schnell erkennt er, daß für seine Heimat Kurhessen die verkehrstechnische Anbindung an die Nachbarregionen von entscheidender Bedeutung ist. 13 Jahre, bevor die erste deutsche Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth dampft, schlägt Henschel den Bau einer Pferdebahn von Bremen nach Frankfurt über Kassel vor. Ein Besuch in England und erste Einsichten in die dortige Eisenbahntechnik lassen ihn zu einem rührigen Eisenbahnbauer und -unternehmer werden. Mit ihm beginnt eine Tradition des späteren Weltunternehmens Henschel, die die Firma an allen bahnbrechenden Neuerungen der Eisenbahntechnik beteiligen wird. Carl Anton Henschel wird als weitsichtiger Industriepionier und genialer Erfinder zu einer der großen Persönlichkeiten der ersten Phase der industriellen Entwicklung in Deutschland. Aus einem Handwerksbetrieb wird eine Maschinenfabrik. Henschel konstruiert Pumpwerke, baut Windmaschinen für Hochöfen, Dampfmaschinen und Förderbahnen.

1845 entsteht die erste Henschel-Lokomotive mit dem Namen „Drache“. Neben zahlreichen Schriften zur Verbesserung der Eisenbahntechnik verfaßt Carl Anton Henschel, ganz vom positiven Geist der deutschen Klassik und den Ideen der preußischen Reformer geprägt, auch Schriften zu ästhetischen und philosophischen Fragen, wie z. B. „Gedanken zum ununterbrochenen Fortschritt der Schöpfung in Raum und Zeit“. Sein Sohn Georg Alexander Henschel kommt direkt mit der Generation großer Techniker-, Wissenschaftler- und Künstlerpersönlichkeiten Berlins in Kontakt, studiert drei Semester am Königlichen Gewerbeinstitut in Berlin und Mathematik in Göttingen. Er baut das Unternehmen vor allem im Eisenbahnbereich mächtig aus.

Nach dessen frühem Tod übernimmt in der vierten Generation C. A. Oskar Henschel nach dem Studium am Polytechnikum in Karlsruhe das Unternehmen. Zwei Dinge sind hierbei bemerkenswert: Wie sein Vater in Berlin kommt Oskar Henschel in die Obhut ausgezeichneter Lehrer. In Karlsruhe ist es einer der Väter des deutschen Maschinenbaus, Ferdinand Redtenbacher, der durch seine Schüler den deutschen Maschinenbau zur Weltspitze führt. Und bei Übernahme der Firmen sind die Henschels gerade einmal Anfang 20! Jedenfalls sind sie durch ihre solide Ausbildung vorbereitet, die Firma Schritt für Schritt auf- und auszubauen. Bis zur Einverleibung des Kurfürstentums Hessen durch Preußen 1866 geschieht dies in einem durchaus industrieund technikfeindlichen Klima. Die Vorbehalte gegen die Eisenbahn sind beispielsweise ebenso irrational und weitverbreitet wie die heutige Feindschaft gegen die Kerntechnik oder den Transrapid.

Der industrielle Aufschwung unter Preußen in Nordhessen führt dann zu einer frappierenden neuerlichen Ausweitung. Bis 1900 sind insgesamt 5200 Lokomotiven gebaut worden. Die Zahl steigt bis 1913 auf 13 000 an. Die Zahl der Beschäftigten klettert zwischen 1900 und 1918 von 2000 auf über 10 000! Die Entwicklung Nordhessens ist ohne den wirtschaftlichen Aufschwung der Firma Henschel auch durch das Exportgeschäft vor dem Ersten Weltkrieg nicht denkbar.

Verbesserung der Eisenbahntechnik

Die Firma Henschel blickt auf eine 137jährige Geschichte des Lokomotivbaus zurück. Das Kasseler Werk wurde zwischen 1848 und 1985 zum bedeutendsten und leistungsfähigsten Lokomotivhersteller Europas. Nahezu 33.000 Henschel-Lokomotiven wurden in alle Welt geliefert. Hier seien nur einige Meilensteine der Henschel-Lokomotivtechnik genannt. Sie zeigen, daß es nie einen Stillstand in dem Bemühen gab, die wissenschaftlich- technischen Entwicklungen im Interesse der Menschen voranzutreiben und zu verbessern. 1882 wird die erste deutsche Verbund-Güterzug-Lokomotive gebaut, 1905 die erste elektrische Lokomotive, 1924 folgt die erste dieselhydraulische Lok, die bis 1962 auf 4000 PS gebracht wird. 1965 stellt Henschel die ersten vier elektrischen Schnellfahrlokomotiven her und ab 1970 die erste Schnellzuglok mit einer Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h. Bis 1972 entstehen die leistungsfähigsten dieselelektrischen und dieselhydraulischen Schnellzüge, und 1985 wird bei Henschel der Höchstgeschwindigkeitstriebkopfzug ICE (Intercity Experimental) mit einer Höchstgeschwindigkeit von 350 km/h gefertigt. Dabei war es immer Firmenphilosophie bei Henschel, daß das Wissen und die Erfahrungen an die Eisenbahnen in aller Welt weitergegeben wurden. In kaum einem Land der Welt, das Eisenbahnen im 20. Jahrhundert einsetzte, war die Marke Henschel nicht vertreten.

Henschel als Technologie-Schmiede

Noch ein weiteres Merkmal ist für die Firma Henschel über die vielen Generationen hinweg bezeichnend gewesen. Die Firma ist nie eingleisig gefahren. Sie hat sich immer um eine breite Palette von Produkten bemüht. Gerade auch in Krisenzeiten waren die jeweiligen Firmenchefs bemüht, neue Produktionslinien aufzubauen. Am Anfang stand die Gießerei, in der neben Kanonen und Glocken auch Feuerwehrspritzen gegossen wurden. Schon vor dem Lokomotivbau beginnt der Maschinenbau.

In beiden Weltkriegen wird die Firma zur Rüstungsproduktion herangezogen, was vor allem im und nach dem Zweiten Weltkrieg einen Wehrtechnischen Bereich begründet. Seit 1925 engagiert sich die Firma im Bereich der LKW- und Omnibusproduktion. Anfang der 30er Jahre beginnt der Siegeszug des Henschel-Lanova- LKW-Motors (nach seinem Erfinder Fritz Lang benannt). 1933 werden die Henschel Flugzeugwerke AG in Berlin- Schönefeld gegründet, in Altenbauna bei Kassel entsteht die Henschel-Flugmotoren GmbH.

Und unmittelbar nach dem Krieg beginnt der neu konstruierte Henschel-LKW, die Produktion verbesserter Dieselmotoren und neuer Nutzfahrzeugtypen. Kassel war im Krieg, vergleichbar mit Dresden, zu 95 % zerstört, doch sofort nach Kriegsende wurde mit der Produktion von Töpfen, Pfannen und anderen Haushaltsgegenständen und Handwagen begonnen. Bei Henschel gab es nichts, was man nicht hätte herstellen können. Ab 1948 wird die Produktion von Werkzeugmaschinen aufgenommen, daraus entwickelt sich ein Programm für Transferstraßen im Automobilbau.

Und noch eine interessante Bemerkung zum Einfluß des Geistes, aus dem sich Henschel entwickelte. Der Vater des hessischen Wirtschaftswunders nach dem Krieg war der Sozialdemokrat Georg August Zinn. Er führte das Bundesland Hessen in den 20 Jahren seiner Amtszeit an die Spitze der Bundesländer mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen. Woher hatte Zinn als Jurist seine Idee von der Bedeutung der Industrie als Fundament des sozialen und kulturellen Fortschritts? Nun, er kam nicht nur aus Kassel, sondern sein Vater war „Henschelianer“…

Krise, Beginn der Übernahmen, Verfall der Industriekultur

Im Herbst 1957 gerät der Familienbetrieb Henschel in eine ernste Zahlungskrise. Unter dem neuen Firmenchef Dr. Fritz Aurel Goergen wird der Betrieb saniert und 1962 in eine AG umgewandelt. Zwei Jahre zuvor hat die Firma Henschel mit insgesamt 13 500 Beschäftigten ihr 150jähriges Firmenjubiläum unter breiter Anteilnahme der großen Politik gefeiert. Die Krise scheint überwunden. Allerdings wird der Sanierer 1964 bei einem Festbankett der Hannover-Messe verhaftet. Alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen erweisen sich später als gegenstandslos. Aber mit dem Jahre 1964 beginnt die Welle von Übernahmen durch deutsche und ausländische Firmen.

Grob zusammengefaßt bleibt heute von dem einstigen Weltunternehmen Henschel und einem der Erfolgskapitel deutscher Industriegeschichte folgendes übrig: Die LKW-Sparte ist in der Hand von Daimler-Chrysler, die immerhin mit noch 3000 Beschäftigten die Achsenproduktion für den Nutzfahrzeugsektor von Daimler bestreiten. Das einst so stolze Lokomotivenwerk ging 2001 in die Hand des kanadischen Unternehmens Bombardier Transportation über, und übrig blieben ganze 700 bis 800 Arbeitsplätze. Die Wehrtechnik wird durch die Rheinmetall Landsysteme mit ebenfalls ca. 700 Beschäftigten fortgesetzt. In der einzigen Branche, die mit der Henschel Industriebau noch den ursprünglichen Namen trägt, bleiben 160 Arbeitsplätze für die Produktion von Mischern, Getrieben und Handhabungstechnik. Und bei der ThyssenKrupp Transrapid GmbH harren ca. 160 hochqualifizierte Beschäftigte auf den Ausgang der Tragödie um die Zukunft des Transrapid in Deutschland. Ihre größte Hoffnung beruht ironischerweise auf der positiven Entscheidung der chinesischen Regierung für den Bau der zweiten Transrapidstrecke zwischen Shanghai und Hangzhou.

In Kassel hat inzwischen ein Henschel-Museum geöffnet, ein Henschel-Archiv ist in Vorbereitung. In einer Halle der ehemaligen Hammerschmiede der Henschel-Werke fand 2003 das „Traumtänzerfestival“ des Hessischen Rundfunks statt – haben also der Transrapid und andere Zukunftstechnologien wie die Kernkraft eine Zukunft in Deutschland? Sicherlich nur zu dem Grade, wie wir uns als Patrioten und Weltbürger darüber bewußt werden, wieviel wir den Leistungen großer Männer und Frauen vergangener Generationen zu verdanken haben.

In diesem Sinne gab 1792 kein Geringerer als Friedrich Schiller seinen Studenten in Jena mit auf den Weg: „…aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsere Dankbarkeit rauben: kostbare teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann?“