Schluss mit der Tyrannei von Descartes und den Cartesianern

Wir veröffentlichen hier das Nachwort zu Jason Ross‘ Buch The Battle for Light: Fermat vs. Descartes, A Sourcebook on Pierre de Fermat’s Principle of Least Time (Der Kampf ums Licht: Fermat vs. Descartes. Ein Quellenbuch über Pierre de Fermats Prinzip der kürzesten Zeit). Das Nachwort hat Pierre Bonnefoy beigetragen und ist eine gelungene Zusammenfassung des Buches, die über eine bloße Rezension hinausgeht. Es stellt Fermats Arbeit in den Kontext der damaligen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und zeigt, wie spätere Entdeckungen von Christiaan Huygens und Gottfried Leibniz auf Fermats wissenschaftlichen Durchbrüchen aufbauten. Für den englischkundigen deutschen Leser kann Ross‘ Buch als wichtige Quellenlektüre dienen, da Fermats französische Werke nur sporadisch in deutscher Übersetzung verfügbar sind. (In der Zeitschriftenreihe Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften findet man Werke von Fermat auf deutsch.)1


The Battle for Light ist die erste umfassende englische Übersetzung von Fermats gesamter Korrespondenz über das Licht, einschließlich seiner bahnbrechenden Auseinandersetzungen mit René Descartes, dessen Erklärung der Lichtbrechung Fermat nicht überzeugend fand. Es enthält Fermats gesamte Korrespondenz über das Licht sowie die Dioptrik von Descartes und die Arbeiten von Marin Cureau de la Chambre, dessen Idee des „kürzesten Weges“ Fermat zur Formulierung der „kürzesten Zeit“ anregte. Ross‘ Übersetzungen bieten zusammen mit ihrem historischen Kontext einen faszinierenden Einblick in die Debatten, die den Fortschritt der physikalischen Wissenschaften geprägt haben. Ross‘ Quellenbuch enthält auch Fermats bahnbrechende Arbeit über die Bestimmung von Minima und Maxima, die es ihm ermöglichte, die durch sein Prinzip der kürzesten Zeit erzeugten Brechungswinkel genau zu berechnen, und die eine wichtige Inspiration für Leibniz‘ Entwicklung der Infinitesimalrechnung war.

The Battle for Light: Fermat vs. Descartes, A Sourcebook on Pierre de Fermat's Principle of Least Time, Jason Ross, November 2024. Gebundene Ausgabe, 280 Seiten, $39,95 USD, zu bestellen bei amazon.de
The Battle for Light: Fermat vs. Descartes, A Sourcebook on Pierre de Fermat’s Principle of Least Time, Jason Ross, November 2024. Gebundene Ausgabe, 280 Seiten, $39,95 USD, zu bestellen bei amazon.de.

Als mein Freund Jason mich bat, das Nachwort zu seinem Buch über eine fundamentale philosophische und wissenschaftliche Auseinandersetzung zu schreiben, die vor fast vier Jahrhunderten in meinem Land, in Frankreich, stattfand, habe ich mit großer Freude zugesagt, denn diese Aufgabe gibt mir auch die Gelegenheit, ganz nebenbei zu betonen, dass nicht alle Franzosen den schlechten Ruf verdienen, der ihnen manchmal angehängt wird – dass sie nämlich Cartesianer seien. Im Gegenteil, einige meiner berühmten Landsleute haben gegen den Cartesianismus gekämpft, wie wir hier gesehen haben.

Der historische Kontext: Fermat vs. Descartes

Der Streit zwischen Pierre de Fermat (1601–1665) und René Descartes (1596–1650), den Jason in diesem Buch anhand von Originaltexten aufzeigt, stellt eine wichtige historische Episode dar, die das Frankreich des 17. Jahrhunderts zum Leuchtturm der Wissenschaft in Europa machte. Dies spiegelt sich insbesondere in der Gründung der Akademie der Wissenschaften in Paris im Jahr 1666 durch Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) wider. Colbert, der anscheinend gescheiter war als viele heutige westliche Politiker, erkannte den Wert eines weltweiten Zusammenschlusses von Wissenschaftlern über alle politischen Grenzen hinweg.

Ein bloßer Zusammenschluss von Wissenschaftlern ist jedoch noch keine Garantie für reiche wissenschaftliche Entdeckungen; in ihren Auseinandersetzungen muss es vor allem um eine ehrliche Wahrheitssuche gehen. Das erfordert Mut – den Mut, den Mund aufzumachen, wenn man feststellt, dass die anderen Kollegen in einer Frage Unrecht haben. In einem solchen Umfeld ehrlich zu sein, bedeutet, es zu wagen, den sakrosankten „wissenschaftlichen Konsens“ stets in Frage zu stellen.

Tatsächlich stellt sich dieses Problem jederzeit und überall. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die französische Wissenschaft ihre führende Rolle hätte spielen können, wenn nicht einige besonders mutige Persönlichkeiten, unter denen Fermat als Pionier gilt, es gewagt hätten, die von Descartes und den Cartesianern auferlegten wissenschaftlichen Dogmen anzugreifen. Zu diesen Persönlichkeiten zählen insbesondere Blaise Pascal (1623–1662), der mit Fermat einen freundschaftlichen und wissenschaftlichen Briefwechsel führte, obwohl sie sich nie begegnet sind, der Niederländer Christiaan Huygens (1629–1695), der Colberts Akademie der Wissenschaften vorstand, und der Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der auf den Entdeckungen seiner Vorgänger aufbauend mit der Erfindung der Differentialrechnung eine wissenschaftliche Revolution auslöste.

Pierre de Fermat (1601–1665)
Pierre de Fermat (1601–1665)

Cartesianische Deduktion vs. Kreativität

Die Opposition dieser Männer zu Descartes beschränkte sich nicht auf die Widerlegung wissenschaftlich falscher cartesianischer Theorien, sondern betraf einen tiefer liegenden Unterschied in der wissenschaftlichen Herangehensweise zur Erforschung des Unbekannten. Das grundlegende Problem des Cartesianismus liegt nicht in seinen spezifischen Theorien, sondern in seiner Denkmethode.

Wahrscheinlich in der Überzeugung, große wissenschaftliche Entdeckungen gemacht zu haben, schrieb Descartes seinen Discours de la méthode (Abhandlung über die Methode), um sein eigenes Vorgehen zu erläutern, zweifellos in der Hoffnung, seine Schüler zu inspirieren, selbst große Entdecker zu werden. Im Zentrum seiner Methode steht die Deduktion. Descartes argumentiert, der Wissenschaftler müsse sich zuallererst auf Wahrheiten stützen, die so offensichtlich sind, dass sie nicht in Frage gestellt werden können. Jedes komplexe Problem müsse dann in einfachere Teile zerlegt werden, die durch Ketten von Schlussfolgerungen, die von bereits anerkannten oder bewiesenen Wahrheiten ausgehen, einzeln gelöst werden, um zu einer Lösung zu gelangen. Descartes behauptete, so die Gesetze des Universums allein durch logisches Denken zu entdecken, ohne die Notwendigkeit, Theorien anhand von Experimenten zu überprüfen.

War er sich eigentlich darüber im Klaren, dass seine Methode ihn dazu verurteilte, nur das zu entdecken, was bereits bekannt war oder von dem man annahm, dass es bereits bekannt war? In der Optik wird das mathematische Gesetz, das die Brechung eines Lichtstrahls beim Durchgang durch verschiedene Medien beschreibt – das Sinusgesetz der Lichtbrechung – manchmal immer noch als „Descartes’sches Gesetz“ bezeichnet; aber Jasons Buch zeigt uns, dass, wenn Descartes dieses Gesetz wirklich entdeckt hätte, wir daraus schließen müssten, dass er selbst kein praktizierender Cartesianer war. Tatsächlich sind die „Erklärungen“, die er für das Phänomen liefert, so phantasievoll, dass man sie als nachträgliche Hinzufügung zu einem bereits etablierten mathematischen Gesetz verstehen muss: Er kam nicht durch Deduktion aus offensichtlichen Wahrheiten zur richtigen mathematischen Formel, wie es seine Methode vorschreibt. Wir müssen zu dem Schluss kommen, dass das Sinusbrechungsgesetz wahrscheinlich von Willebrord Snell (1580–1626) aufgestellt wurde, den Descartes in Holland kennen gelernt hatte. Snell konnte es nicht für sich beanspruchen, da er starb, bevor Descartes sein Dioptrique veröffentlichte, das erste Buch, in dem es formuliert wurde.

Die Sinus-Werte der Einfallswinkel und Brechungswinkel sin α und sin β stehen im gleichen Verhältnis zueinander wie die Geschwindigkeiten c1 und c2, die das Licht in den jeweiligen Stoffen erreichen kann. Breitet sich das Licht zunächst in der Luft oder im Vakuum aus und trifft auf ein transparentes Material, so ergibt das Verhältnis der Winkelgrössen einen konstanten, vom Material abhängigen Wert, der als (absolute) Brechzahl n bezeichnet wird. Quelle: grund-wissen.de
Die Sinus-Werte der Einfallswinkel und Brechungswinkel sin α und sin β stehen im gleichen Verhältnis zueinander wie die Geschwindigkeiten c1 und c2 , die das Licht in den jeweiligen Stoffen erreichen kann. Breitet sich das Licht zunächst in der Luft oder im Vakuum aus und trifft auf ein transparentes Material, so ergibt das Verhältnis der Winkelgrössen einen konstanten, vom Material abhängigen Wert, der als (absolute) Brechzahl n bezeichnet wird. Quelle: grund-wissen.de

Fermat hingegen praktizierte nicht die cartesianische Deduktion, sondern die experimentelle Methode. Diese besteht darin, zunächst eine allgemeine Hypothese aufzustellen und diese dann durch ein neues Experiment zu prüfen: Wenn die Ergebnisse des Experiments der Hypothese widersprechen, muss die Hypothese aufgegeben und eine neue gesucht werden; wenn das Experiment die Hypothese bestätigt, wird sie beibehalten, um eine neue Theorie zu entwickeln. Diese neue Theorie wird natürlich nur dann akzeptiert, wenn sie nicht durch ein weiteres Experiment widerlegt wird. Mit anderen Worten: Die experimentelle Methode beruht auf nichts Offensichtlichem, sondern nur auf der Hypothese, die sich der Wissenschaftler ausdenkt, aber sie stellt eine echte Wette auf die Zukunft dar: Der Wissenschaftler hofft, dass das Ergebnis des Experiments dem entspricht, was seine Hypothese vorhergesagt hat.

Das Prinzip der kürzesten Zeit

Im Falle der Lichtausbreitung formulierte Fermat die Hypothese der kürzesten Zeit, die besagt, dass das Licht die Zeit minimiert, die es benötigt, um von einem Punkt zu einem anderen zu gelangen. Fermat stellte fest, dass diese Hypothese mit dem Sinusgesetz der Lichtbrechung übereinstimmte, das bereits experimentell verifiziert worden war, was ihm gegenüber den Cartesianern, die über keine glaubwürdige eigene Theorie verfügten, erhebliches Gewicht verlieh. Interessanterweise wurde das Experiment, das Fermats Hypothese endgültig bestätigte, erst lange nach dem Tod von Fermat und Descartes durchgeführt. Nach Fermat breitet sich Licht in weniger dichten Medien leichter und schneller und in dichteren Medien langsamer aus, während Descartes genau das Gegenteil behauptete. Da es mit der Technik des 17. Jahrhunderts nicht möglich war, die Lichtgeschwindigkeit in verschiedenen Medien zu vergleichen, überließ es Fermat späteren Generationen, zwischen ihm und Descartes zu entscheiden. Im 19. Jahrhundert entschied Foucaults Experiment zugunsten Fermats: Das Licht breitet sich in der Luft tatsächlich schneller aus als im Wasser.

Allerdings hatten die Cartesianer in der wissenschaftlichen Gemeinschaft einen derartigen intellektuellen Terror verbreitet, dass Fermats Sieg in der Optik nicht ausreichte, um ihre Vorherrschaft zu stürzen.

René Descartes (1596–1650). Porträt von Frans Hals, 1648
René Descartes (1596–1650). Porträt von Frans Hals, 1648

Pascals Experimente mit dem Vakuum

Weitere Siege waren notwendig, insbesondere der von Pascal mit seinen Experimenten mit dem Vakuum. Auch hier erwies sich die deduktive Methode von Descartes als unfähig, ein Phänomen zu erklären, das mit den alten Theorien unvereinbar war.

Man stelle sich ein Reagenzglas von mindestens 7,6 Zentimetern Länge vor, das vollständig mit Quecksilber gefüllt ist. Das Reagenzglas wird umgedreht, so dass seine Öffnung in ein Becken mit Quecksilber taucht. Bei diesem Experiment, das die Erfindung des Barometers vorwegnimmt, kann man beobachten, wie das Quecksilber im Reagenzglas nach unten sinkt und eine Säule bildet, die eine bestimmte Höhe über der Oberfläche des Quecksilbers im Becken erreicht. Die Frage, die die Wissenschaft damals beschäftigte, lautete: Was befindet sich zwischen den zwei Enden der Quecksilbersäule?

Eine Kontroverse entstand durch einen Briefwechsel zwischen Pascal, der eine Reihe von Experimenten durchgeführt hatte, darunter auch dieses, und einem Jesuitenpater namens Étienne Noël, der ein Lehrer von Descartes gewesen war und Pascals Interpretation seiner Beobachtungen bestritt.

Wie Descartes stützte auch Noël seine Argumentation auf eine scheinbar unumstössliche Wahrheit: den horror vacui – die Natur hat eine Abneigung gegen das Leere. Folglich konnte in der Röhre über dem Quecksilber kein Vakuum herrschen, der Raum musste eine Substanz enthalten. Nun war man zu dieser Zeit davon überzeugt, dass es nur vier Grundelemente gibt: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Die Substanz in der Röhre konnte also nur eine Verbindung dieser Stoffe oder einer von ihnen sein. Offenbar musste es sich also um Luft handeln. Aber diese Luft leistete keinen Widerstand gegen Komprimierung, denn wenn man die Röhre genügend neigte, konnte man sehen, wie die Luft vom Quecksilber verdrängt wurde, und wieder auftauchte, wenn man die Röhre wieder senkrecht stellte. Diese Luft musste sich also von unserer Atemluft unterscheiden, zumal die Atemluft die Glaswand der Röhre nicht durchdringen kann. Daher, so folgerte Noël (und Descartes), müsse diese Luft so „fein“ sein, dass sie durch kleine Poren, die notwendigerweise im Glas vorhanden sein müssen, eindringen kann.

Eine perfekte Schlussfolgerung aus falschen Voraussetzungen! Genauso amüsant wie der Briefwechsel von Fermat über Optik, die Ross uns in seinem Buch vorstellt, ist auch der Briefwechsel zwischen Pascal und Noël so komisch, dass er einen Platz in der Wissenschaftsgeschichte verdient.

Warum weigerte sich Noël zu akzeptieren, dass der Raum in der Röhre leer war? Weil, so sagte er, das Licht offensichtlich durch das Glas und durch den Raum, aus dem das Quecksilber verschwunden ist, hindurchgeht. Daher könne es an dieser Stelle kein Nichts geben, denn das Nichts könne nicht die physikalische Eigenschaft haben, Licht durchzulassen. Pascal versuchte vergeblich zu erklären, dass das Vakuum und das Nichts nicht dasselbe sind, obwohl das Vakuum keine Substanz ist und seine wahre Natur noch entdeckt werden müsste.

Auch der brühmte Descartes konnte den jungen Pascal nicht beeindrucken, der später in seinen Pensées (Gedanken) notierte: „Descartes nutzlos und unklar“.

Die Beiträge von Pascal, Huygens und Leibniz

Am Ende des Buches sind mit Bedacht Texte von Fermat über dessen Methode zur Bestimmung von Maxima und Minima eingefügt, die auf die später von Leibniz erfundene Differentialrechnung hindeuteten. Dem ist hinzuzufügen, dass Pascal seinerseits die Anwendung der Methode der Indivisibilien (Unteilbaren) förderte, die eine Vorwegnahme der Integralrechnung (das Gegenstück zur Differentialrechnung) von Leibniz darstellt. Um die Anwendung der Indivisibilien zu verbreiten, rief Pascal einen Wettbewerb ins Leben, bei dem er die Geometer seiner Zeit aufforderte, eine Reihe von Problemen über die Roulette-Kurve zu lösen, die heute als Zykloide bekannt ist. Um diese schwierigen Probleme lösen zu können, musste man diese Art der Berechnung beherrschen. Einige Wissenschaftler entwickelten eigene Lösungen, darunter auch der junge Christiaan Huygens. Pascal veröffentlichte übrigens in seiner Abhandlung über das Roulette und die Dimensionen aller Kurven auch eine eigene Lösung.

Der Kampf gegen die Cartesianische Methode war zweifellos eine harte Probe für Huygens, denn sein Vater war ein persönlicher Freund Descartes gewesen, dem gegenüber er von seinem Sohn stets Respekt gefordert hatte. Dennoch erkannte Christiaan früh, dass die verschiedenen Gesetze, die Descartes für die Physik des elastischen Stoßes aufgestellt hatte, miteinander unvereinbar waren und sich nahezu alle als falsch erwiesen.

Um sie zu widerlegen, entwickelte Huygens sein eigenes Relativitätsprinzip. Nach diesem Prinzip sind die Naturgesetze für einen Beobachter, der am Ufer eines Flusses steht, die gleichen wie für einen Beobachter, der sich mit konstanter Geschwindigkeit an Bord eines Schiffes auf dem Fluss bewegt. Ausgehend von dieser Hypothese und dem einzigen exakten Gesetz, das Descartes aufgestellt hatte (dass zwei identische Kugeln, die sich mit gleicher Geschwindigkeit aufeinander zu bewegen, nach dem Zusammenstoss mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzte Richtungen zurückprallen), entdeckte Huygens für den allgemeinen Fall (in dem die beiden Kugeln nicht identisch sind und ihre Geschwindigkeiten unterschiedlich sind) das Gesetz des elastischen Stoßes.

Als er später seine Abhandlung über das Licht schrieb, stellte Huygens die erst lange nach seinem Tod bestätigte Hypothese auf, dass sich Licht wie eine Welle verhält. Diese Hypothese hat natürlich nichts mit den Bällen und Schlägern zu tun, die sich Descartes zur Beschreibung des Lichts ausdachte, wie in Ross‘ Buch dargestellt ist. Aber, was noch wichtiger ist, sie erlaubt uns, das Sinusgesetz der Brechung aus der Hypothese abzuleiten, dass sich Licht in Luft schneller ausbreitet als in Wasser, was das Fermatsche Prinzip der kürzesten Zeit unterstützt.

Leibniz und das Prinzip der geringsten Wirkung

Als Leibniz 1672 nach Paris kam, hatte er die Absicht, sich mit den besten Wissenschaftlern seiner Zeit zu treffen, von ihnen Mathematik zu lernen und so ein großer Gelehrter zu werden. Das Wagnis zahlte sich aus. Drei Jahre später erfand er die Differentialrechnung, die die gesamte Wissenschaft revolutionierte. An der Académie des Sciences wurde er von Huygens in das Erbe von Fermat und Pascal eingeführt, auf dem er erfolgreich aufbaute.

Im Jahr 1684 veröffentlichte er in den Acta Eruditorum den Grundlagentext seiner neuen Infinitesimalrechnung: „Nova methodus pro maximis et minimis“ („Neue Methode für Maxima und Minima“). Um die Tragweite seiner Erfindung zu veranschaulichen, entwickelte er eine konkrete Anwendung. Er zeigte, dass sich aus der Hypothese, dass sich Licht nach dem Fermatschen Prinzip der kürzesten Zeit ausbreitet, in nur wenigen Zeilen das berühmte Sinusgesetz der Brechung ableiten lässt, und zwar auf eine Weise, die Fermats analytischer Demonstration bemerkenswert ähnlich ist.

Mit diesem Beitrag bezog Leibniz bereits eine deutliche anti-cartesianische Position. Seit der Veröffentlichung seines Aufsatzes „Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii“ („Kurzer Beweis eines denkwürdigen Irrtums von Descartes“) im Jahr 1686 griff er Descartes‘ Physikbegriff noch direkter an und übernahm den Ansatz von Huygens in der Frage der elastischen Stöße. Er zeigte, dass, wenn Descartes‘ Bewegungsgesetze korrekt wären, eine kontinuierliche mechanische Bewegung möglich wäre – eine Absurdität, die selbst die Cartesianer nicht akzeptieren konnten.

In den folgenden Jahren widerlegte er nicht nur die wissenschaftlichen Theorien von Descartes, sondern vor allem auch das metaphysische System von ihm, auf dem seine Theorien beruhten, auf vernichtende Weise.

Indem Leibniz das Prinzip der kürzesten Zeit, das Fermat für seine Untersuchung des Lichts aufgestellt hatte, verallgemeinerte, stellte er ein universelles Prinzip der geringsten Wirkung auf, das er beispielsweise in seinen Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand wie folgt formulierte: „Die Natur schlägt immer die kürzesten oder wenigstens die bestimmtesten Wege ein.“ So haben die gemeinsamen Bemühungen von Fermat, Pascal, Huygens und Leibniz das wissenschaftliche Denken aus dem kartesianisch-deduktiven Gefängnis befreit.

Die geistige Sackgasse der Induktion

Zur selben Zeit stand jedoch noch eine weitere geistige Sackgasse: die der Induktion. Diese Methode, die der cartesischen Deduktion scheinbar diametral entgegengesetzt ist, wurde in England von den Empiristen Francis Bacon (1561–1625), John Locke (1632–1704) und vor allem von Isaac Newton (1642–1727) entwickelt.

Im Gegensatz zur Deduktion geht die Induktion nicht von „offensichtlichen Wahrheiten“, sondern von „objektiven Tatsachen“ aus. Nach dieser Lehre muss der Wissenschaftler eine sehr große Anzahl von Beobachtungen von Naturphänomenen machen, ohne dabei vorgefasste Meinungen zu haben. Erst nachdem er eine große Menge von Daten gesammelt hat, soll er versuchen, allgemeine mathematische Gesetze aufzustellen, die es ermöglichen, mögliche Beobachtungen (Daten) vorherzusagen. Dabei ist es jedoch verboten, nach den Ursachen der Phänomene zu suchen; entsprechend hat Newton in seinem berühmten Satz erklärt: „Ich stelle keine Hypothesen auf.“

Tatsächlich ist die Induktion genauso unfruchtbar wie die Deduktion. Erstens, weil es so etwas wie eine „objektive Tatsache“ oder eine Beobachtung, die unabhängig von der Denkweise des Beobachters gemacht wurde, nicht gibt. Der beobachtende Empiriker stellt Hypothesen auf, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, und ist daher a priori nicht in der Lage, seiner eigenen Methode treu zu bleiben. Aber es gibt noch ein grösseres Problem: Wissenschaftliche Durchbrüche entstehen, wenn Menschen den Mut haben, allgemein akzeptierte, selbstverständliche Wahrheiten zu verwerfen, was die Formulierung neuer Hypothesen erfordert. Der Empirismus ist somit keine experimentelle Methode, die explizit mit Hypothesen arbeitet, wie oben beschrieben wurde. Im Gegensatz dazu geht eine physikalische Hypothese über den bloßen „Augenschein“ hinaus und will die Ursache der Daten herausfinden.

Autor und Herausgeber Jason A. Ross im Fermat-Museum in Toulouse, Frankreich, November 2024. Bild: Ross/privat
Autor und Herausgeber Jason A. Ross im Fermat-Museum in Toulouse, Frankreich, November 2024. Bild: Ross/privat

Mit der experimentellen Methode werden die Ursachen von Phänomenen auf der Grundlage von Hypothesen untersucht, während sich die Empiriker ohne Hypothesen mit der Vorhersage von Wirkungen begnügen müssen. Die Wirkungen sind zwar beobachtbar, doch die Ursachen sind es in der Regel nicht. Daher ist es nicht möglich, durch einfache Induktion zu jenen Prinzipien wie dem der kürzesten Zeit oder dem der geringsten Wirkung zu gelangen, die die Wissenschaft über die einfache Frage der Lichtbrechung hinaus revolutioniert haben. Diese Frage, die für die heutige Wissenschaft von Bedeutung ist, verdiente eine weitreichendere Erörterung, die jedoch den Rahmen dieses Nachwortes sprengen würde. Ich möchte daher mit einigen Bemerkungen zum Mythos Newton schließen, die sich auf die Arbeiten von Fermat und seinen Nachfolgern beziehen.

Der Mythos Newton

Newton hat in seinem Werk Opticks eine Korpuskultheorie des Lichts aufgestellt – ein echter Rückschritt gegenüber den Arbeiten von Huygens, die ihm durchaus vertraut waren. Trotzdem hat sich Newtons Theorie im 18. Jahrhundert durchgesetzt. Eine ihrer bemerkenswerten Grundannahmen ist, dass sich Licht in dichteren Medien schneller und in weniger dichten Medien langsamer bewegt. Um dem Einfluss von Leibniz entgegenzuwirken, behauptete Newton, Leibniz habe die Erfindung der Differentialrechnung von ihm gestohlen. Außerdem leitete er einen regelrechten Strafprozess gegen Fermat in der Royal Society in London ein, deren Präsident Newton war. Heute erkennen Historiker die Unehrlichkeit dieses Prozesses an, denn Newton war sowohl Richter als auch Partei in dieser Angelegenheit. Aber sie sagen fast alle, Newton und Leibniz hätten unabhängig voneinander die Differentialrechnung erfunden – ein absurder wissenschaftlicher Konsens, der leicht aus der Welt zu schaffen ist. Newton hat nie eine Differentialrechnung entwickelt, sondern die Fluxionsrechnung, die außer von einigen wenigen Gelehrten der Royal Society seiner Zeit von niemandem verwendet wurde, da sie in der Tat unpraktikabel ist. Selbst britische Gelehrte mussten die Differentialrechnung von Leibniz übernehmen.

Fazit

Was bedeutet das alles für uns heute? Vielen Wissenschaftlern fällt es heute schwer, zwischen mathematischen oder rechnerischen Modellen, die sie verwenden, und realen physikalischen Hypothesen, wie zum Beispiel dem Prinzip der kürzesten Zeit, zu unterscheiden. Es ist sicher legitim und sogar notwendig, dass ein Ingenieur bei seiner Arbeit Modelle verwendet. Für einen Forscher, der in das Unbekannte eindringen will, ist dies jedoch problematisch. Modelle basieren auf Theorien der Vergangenheit und werden niemals etwas Neues hervorbringen. Das übermäßige Vertrauen, das heutige Wissenschaftler in die Modellierung setzen (in der Quantenphysik, in den Wirtschaftswissenschaften, in der Klimatologie, in der Biologie usw.), zeigt, dass Induktion und Deduktion sowie Empirie trotz ihrer inhärenten Grenzen noch nicht wirklich überwunden sind. Um dieses Problem zu lösen, müssen wir die Geschichte der Wissenschaften anhand der Originaltexte und der ursprünglichen Kontroversen studieren und nicht nur akademische Kommentare lesen. Wir müssen uns von Gelehrten inspirieren lassen, die wie Fermat das etablierte Wissen durch revolutionäre Hypothesen auf den Kopf gestellt haben. Das ist der Ansatz, zu dem uns Ross mit seinem Werk einlädt.

Fußnote(n)

  1. Siehe Ausgaben Nr. 208 „Einführung in die ebenen und körperlichen Örter“, Nr. 234 „Bemerkungen zu Diophant“, Nr. 238 „Abhandlungen über Maxima und Minima“.[]
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