Anhang zur französischen Übersetzung von: Die Biosphäre
Aus der Einleitung zur französischen Übersetzung von Die Biosphäre von Wladimir Wernadskij:
Dieses Buch erschien 1926 auf russisch. Die französische Übersetzung wurde durchgesehen und nach Vergleich mit dem russischen Text an mehreren Stellen umgeändert. Sie folgte unserem in der gleichen Sammlung (1924) veröffentlichten Aufsatz über „Geochemie”, wovon soeben eine russische Übersetzung erschien und wovon demnächst auch eine deutsche Übersetzung erscheinen wird.
Wir werden keine bibliographischen Angaben machen, da diese in unserer „Geochemie” zu finden sind.
Wir haben die gleichen Probleme in verschiedenen Artikeln angesprochen, von denen die wichtigsten auf französisch in der Revue Générale des Sciences (1922–1928) und in den Bulletins de l’Académie des Sciences de Leningrad (Petersburg) (1926–1927) erschienen sind.
Ziel dieses Buches ist es, die Aufmerksamkeit der Naturforscher, Geologen und vor allem der Biologen auf die Bedeutung der quantitativen Untersuchung des Lebens in seinen unauflöslichen Beziehungen zu den chemischen Phänomenen des Planeten zu lenken.
Wir haben versucht, ständig auf empirischem Gebiet zu bleiben, ohne Hypothesen aufzustellen, ein Gebiet, das wegen der geringen Zahl von Beobachtungen und genauen, quantitativen Experimenten, die uns zur Verfügung standen, noch etwas beschränkt ist.
Es ist gegenwärtig wichtig, in kürzester Zeit die größte Zahl quantitativer, empirischer Fakten zusammenzustellen.
Der Versuch duldet keinen Aufschub, genau das zu erreichen, denn erst dann wird die ganze Bedeutung der Biosphäre für lebende Phänomene deutlich werden.
Möge dieser Aufsatz, der das Ziel verfolgt, Licht auf diese Bedeutung zu werfen, nicht unbeachtet bleiben.
Als Anhang an die französische Übersetzung füge ich meine Rede „Über die Evolution der Arten und die lebende Materie” an, welche mir die in Die Biosphäre dargestellten Ideen zu ergänzen scheint.
– Wladimir I. Wernadskij, Dezember 1928
Über die Evolution der Arten und die lebende Materie
1. Das Leben bildet einen integralen Bestandteil des Mechanismus der Biosphäre. Das tritt beim Studium der geochemischen Geschichte der chemischen Elemente deutlich hervor: Die so wichtigen biogeochemischen Prozesse erfordern stets das Eingreifen des Lebens.1
Die biogeochemischen Äußerungen des Lebens bilden einen Gesamtkomplex von Lebensprozessen, die sich auf den ersten Blick völlig von denen unterscheiden, die in der Biologie untersucht werden.
Es scheint, daß zwischen diesen beiden Aspekten des Lebens – zwischen seinem biologischen Aspekt und seinem geochemischen Aspekt – noch eine Unvereinbarkeit herrscht, und nur eine gründlichere Analyse wird uns das Wesen dieses Unterschieds erkennen lassen.
Diese zeigt, daß es sich dabei im Grunde teils um eine Frage identischer Phänomene handelt, die sich unterschiedlich äußern, und teils um lebende Phänomene, die tatsächlich unterschiedlich sind bzw. unterschiedlich betrachtet werden – entweder aus Sicht der Geochemie oder aus jener der Biologie.
Ein Vergleich beider Sichtweisen verändert die wissenschaftliche Auffassung von Phänomenen des Lebens und gibt ihnen mehr Tiefe.
Der Unterschied zwischen diesen zwei Ausdrucksformen von Leben zeigt sich besonders frappant in der Tatsache, daß die Evolutionstheorie, die heute die gesamte biologische Vorstellung des Universums durchzieht, in der Geochemie fast keine Rolle spielt. Wir wollen hier versuchen, Licht auf die Bedeutung der Phänomene der Artenevolution im Mechanismus der Biosphäre zu werfen.
Man kann sich leicht davon überzeugen, daß die Grundvorstellungen der Biologie radikalen Veränderungen unterzogen werden müssen.
Die Arten werden in der Biologie gewöhnlich aus geometrischer Sicht betrachtet; die Form, die morphologischen Merkmale, stehen an erster Stelle. Bei den biogeochemischen Phänomenen ist dies dagegen der Zahl vorbehalten, und die Arten werden von einem arithmetischen Standpunkt betrachtet. Verschiedene Tier- und Pflanzenarten müssen ebenso wie chemische und physikalische Phänomene aus chemischen Verbindungen und physikalisch-chemischen Systemen bestehen, die in der Geochemie durch numerische Konstanten beschrieben und bestimmt werden.
Die von den Biologen verwendeten morphologischen Indikatoren, die für die Artenbestimmung erforderlich sind, werden durch die numerischen Konstanten ersetzt.
Bei biogeochemischen Prozessen müssen unbedingt die folgenden numerischen Konstanten in Betracht gezogen werden: Das mittlere Gewicht des Organismus, seine mittlere elementare chemische Zusammensetzung und die ihm eigene mittlere geochemische Energie, das heißt die Fähigkeit, mit der jene Verschiebungen erzeugt werden, die man auch „die Wanderung” chemischer Elemente in der belebten Umwelt nennt.
Bei biogeochemischen Prozessen stehen Materie und Energie im Vordergrund, nicht die der Art eigene Form. Die Arten lassen sich aus dieser Sicht als materielle Entsprechung der anderen Stoffe der Erdrinde wie Wasser, Mineralien und Gestein betrachten, die zusammen mit den Organismen Gegenstand biogeochemischer Prozesse sind.
Unter diesem Aspekt kann man die Arten der Biologen unter Umständen als lebende homogene Materie ansehen, die sich durch Masse, elementare chemische Zusammensetzung und geochemische Energie auszeichnet.
Gewöhnlich werden die Artenmerkmale durch Zahlen ausgedrückt, die etwas über das Gewicht, die chemische Zusammensetzung und die Übertragungsgeschwindigkeiten der geochemischen Energie aussagen, aber diese geben höchstens eine sehr abstrakte und sehr unklare Vorstellung von der Wirklichkeit.
Es ist möglich, diese Idee mit einer anderen zu ersetzen, die deutlicher mit dem Wesen des Naturprozesses, das den Organismus hervorbringt, in Zusammenhang steht. In diesem Bereich betrachten wir vom Standpunkt der physikalischen Chemie die Organismen wie autonome Felder, in denen bestimmte Atome in bestimmten Mengen zusammengeführt werden.
Diese Menge bezeichnet genau die charakteristische Eigenschaft von jedem Organismus und von jeder Art. Sie gibt die Zahl der Atome an, die der Organismus einer Art aufgrund seiner Kraft außerhalb des Biosphärenfeldes festhält und somit aus seiner unmittelbaren Umgebung entnimmt. Das Volumen des Organismus und die Zahl der Atome, die er enthält, ergeben numerisch ausgedrückt eine sehr abstrakte Formel, gleichzeitig aber das realste Maß dafür, wie sich die Art in den geologischen Prozessen des Planeten abbildet. Man erhält diese Formel, indem man die Größe des Organismus, sein Gewicht und seine chemische Zusammensetzung mißt. Die so bestimmte Zahl von Atomen und das Volumen des Organismus sind zweifellos das Kennzeichen der Art. Die Gegenwart von Leben in einem Raum mit festem Volumen und der Konzentration einer bestimmten Menge von Atomen stellt ein reales Naturphänomen dar, welches für einen Organismus genauso charakteristisch ist wie seine Form oder seine physiologischen Funktionen.
Grundsätzlich drückt diese Idee wahrscheinlich mit größter Tiefe die wesentlichen Züge seiner Existenz aus.
Die sich ergebenden Zahlen sind sehr beträchtlich: Bei Lemna minor2 beispielsweise ist die Zahl der Atome für einen Organismus größer als 3,7 · 1020 und reicht in die Hunderte Trillionen.
Diese großen Zahlen entsprechen der Wirklichkeit und eignen sich für numerische Vergleiche zwischen den verschiedenen Arten.
Diese Artbestimmung nach der Zahl der Atome, die in dem von dem Organismus eingenommenen Volumen enthalten sind, ergänzt nur das gewöhnliche biologische Merkmal der Art, welches die Form und die Struktur nicht berücksichtigt.
Die homogene lebende Materie der Geochemie und die biologische Art sind identisch, nur ihre Ausdrucksweisen sind unterschiedlich.
2. Das Studium lebender Phänomene im Mechanismus der Biosphäre verdeutlicht die Unterschiede, die unter den einfachen biologischen Begriffen noch wesentlicher sind.
Die Biosphäre hat sich im Laufe der geologischen Zeitalter seit dem Archaikum vor mindestens zwei Milliarden Jahren in ihren Grundzügen nicht verändert.
Diese Struktur zeigt sich an einer Vielzahl entsprechender Phänomene, darunter biogeochemische Phänomene.
Demnach scheinen die geochemischen Kreisläufe der chemischen Elemente im Verlauf der geologischen Zeit unverändert geblieben zu sein. Das Kambrium sollte die gleiche Eigenart haben wie das Quartär oder das heutige Zeitalter.
Die klimatischen Bedingungen, die vulkanischen Erscheinungen sowie die chemischen und physikalischen Erosionserscheinungen sind im Verlaufe sämtlicher geologischen Zeitalter, wie wir sie heute beobachten, bestehen geblieben. Während des gesamten Bestehens der Erde bis zum Auftreten der zivilisierten Menschheit ist kein neues Mineral entstanden. Die Mineralarten auf unserem Planeten sind die gleichen geblieben oder haben sich im Verlaufe der Zeit auf identische Weise verändert. Die gleichen Verbindungen wie die heutigen wurden allezeit gebildet. In keinem Fall läßt sich eine Mineralart einem bestimmten geologischen Zeitalter zuordnen. Darin unterscheiden sich die Mineralarten klar von lebender homogener Materie, von den Arten lebender Organismen. Letztere verändern sich im Verlauf der geologischen Zeit sehr markant; sie bilden sich stets neu, wohingegen die Mineralarten unverändert bleiben. Leben, vom geochemischen Aspekt betrachtet (als Bestandteil der Biosphäre einfachen Schwankungen unterworfen), erscheint Leben insgesamt genommen genauso stabil und unveränderlich.
Leben stellt einen integralen Bestandteil der geochemischen Kreisläufe dar, die sich unaufhörlich erneuern, aber stets gleich bleiben, und es machte im Laufe der von der Geochemie untersuchten Phänomene keineswegs große Veränderungen durch. Die Masse lebender Materie, d. h. die vielen Atomen, die durch die unzähligen autonomen Felder lebender Materie eingefangen werden, und die mittlere chemische Zusammensetzung der lebenden Materie, die chemische Zusammensetzung der Atome lebender Felder müssen über geologische Zeitabschnitte in der Summe unveränderlich bleiben.3 Zudem verändern sich die mit Leben verbundenen Energieformen, die Sonnenstrahlung und wahrscheinlich die Atomenergie radioaktiver Materie, in ihren Dimensionen durchweg nicht.
Man stellt bei all diesen Phänomenen Schwankungen – manchmal in die eine, manchmal in die andere Richtung – um eine konstant erscheinende Größe fest.
3. Die Unveränderlichkeit, die alle kosmischen Prozesse im Verlauf geologischer Zeiträume kennzeichnet, bietet einen auffälligen Gegensatz zu den tiefgreifen den Veränderungen, die gleichzeitig die von der Biologie untersuchten lebenden Formen erfahren.
Insbesondere ist es absolut sicher, daß sich alle durch geochemische Phänomene festgestellten Merkmale der Arten immer wieder über alle geologischen Zeitalter hinweg radikal verändert haben. Wiederholt sind zahlreiche Tier-und Pflanzenarten verschwunden und neue Arten sind entstanden mit unterschiedlichem Gewicht, unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung und anderer geochemischer Energie als jene, die ihnen vorausgingen. Es ist nicht daran zu zweifeln, daß die chemische Zusammensetzung von morphologisch verschiedenen Körpern nicht insgesamt anders ist. Die ausgestorbenen Arten entsprachen notwendigerweise anderen Formen homogener lebender Materie, die jetzt untergegangen ist. Ihre numerischen Konstanten waren anders.
Wenn dennoch der generelle Effekt des Lebens verglichen beispielsweise mit den Erscheinungen der Erosion im einzelnen gleich bleibt, zeigt dies die Möglichkeit der Bildung von neuen Gruppierungen chemischer Elemente, aber keineswegs von radikalen Veränderungen ihrer Zusammensetzung und ihrer Menge. Diese neuen Gruppierungen haben keinen Einfluß auf Konstanz und Unveränderlichkeit geologischer Prozesse (geochemischer im letzten Fall).
Das ist ein neuer Umstand von enormer Bedeutung für die Wissenschaft, und wir sind es schuldig, ihn in das Fach Biologie, in die geochemische Untersuchung des Lebens aufzunehmen.
Während der morphologische, geometrische Aspekt des Lebens insgesamt große Änderungen erlebt und sich seit dem Archaikum unaufhörlich in der großartigen Evolution der Lebensformen äußert, bleibt die numerische, quantitative Lebensformel immer als Ganzes gesehen in ihren wichtigen Verhältnisgrößen und offenbar auch in ihren wichtigen Funktionen unveränderlich.
Es stimmt, daß sich in der Biologie durch ein aufmerksames Studium der Evolutionsphänomene eine extreme Unregelmäßigkeit ihres Fortgang zeigt. Es geht nicht darum, daß sich alle Arten und sämtliche Lebensformen ständig geändert haben. Im Gegenteil, bestimmte Arten bleiben Hunderte Millionen von Jahren unverändert, wie zum Beispiel die Radiolarien-Arten aus dem Präkambrium, die man nicht von den heutigen unterscheiden kann; so auch die Lingula-Arten, die seit dem Kambrium bis heute keine einzige Veränderung erfahren haben: sie sind während Hunderter Millionen Jahre über unzählige aufeinanderfolgende Generationen die gleichen geblieben. Man kann zahlreiche entsprechende Beispiele für vielleicht nicht ganz so lange Perioden anführen, während denen, wenn es überhaupt Veränderungen gab, diese jedenfalls nur von geringer Bedeutung waren. Man kann folglich in den Lebensformen nicht nur deren Variabilität, sondern auch deren außergewöhnliche Stabilität beobachten und studieren. Es ist sogar möglich, daß die Stabilität der Artenformen im Verlaufe von Millionen Jahren bzw. Millionen von Generationen der charakteristischste Zug lebender Formen gewesen ist und die umfassendste Beachtung der Biologen verdient.
Diese rein biologischen Phänomene sind wahrscheinlich Ausdruck der Unveränderlichkeit des Lebens, wenn man diese in ihrem Wesen über die gesamte geologische Geschichte betrachtet, einer Unveränderlichkeit, die sich in anderer Form anhand ihrer Rolle im Mechanismus der Biosphäre zeigt.
Diese Stabilität der Arten verdient offenbar von den Biologen mehr beachtet zu werden, als es derzeit der Fall ist.
Das Denken der heutigen Biologen orientiert sich in eine andere Richtung. Die Evolution der Formen im Verlauf der geologischen Zeitalter scheint das beherrschendere Merkmal in der Geschichte des Lebens zu sein; sie umfaßt für uns die gesamte belebte Natur.
Vor 100 Jahren wurde dieses Phänomen empirisch und absolut rigoros von G. Cuvier, einem Naturforscher von großer Tiefe und Genauigkeit, festgestellt. Er zeigte, daß es in einer früheren geologischen Epoche, welche wir übersehen haben, ein anderes Universum gegeben hat.4 Diese Feststellung löste zu Lebzeiten von A. Wallace und C. Darwin und später eine radikale Wende in der gesamten Vorstellung des wissenschaftlichen Universums der Naturforschung aus. Die Artenevolution nimmt in dieser Vorstellung einen zentralen Platz ein und lenkt die Aufmerksamkeit so sehr auf sich, daß darüber andere biologische Phänomene, die genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger sind, in Vergessenheit geraten.
Der Begriff Artenevolution nimmt im wissenschaftlichen Denken eine solche Stellung ein, daß sich ein neues Phänomen oder eine neue Erklärung im Bereich der Biologie darauf mehr oder weniger ausdrücklich beziehen muß, um anerkannt zu werden.
Es ist wichtig, Licht auf die Äußerungen dieser Evolution in biogeochemischen Prozessen zu werfen, denn die Weiterentwicklung der geochemischen Untersuchungen sind in Ermangelung von Daten, die nur die Biologen liefern können, unterbrochen. Die biogeochemischen Phänomene müssen in das Interessengebiet der Biologie eingehen.
Überdies ist es von eigenem großen Interesse, die Beziehung, die es gewiß zwischen der Artenevolution und biogeochemischen Phänomenen gibt, zu untersuchen.
Die Beziehung zwischen der Artenevolution und dem Mechanismus der Biosphäre sowie dem Gang biogeochemischer Prozesse steht nicht in Frage. Der Umstand, daß die wesentlichen Zahlen, die diese Prozesse charakterisieren, Eigenschaften einer Art sind, die sich im Laufe der Evolution verändert, genügt als Beweis, und es ist genau die Untersuchung dieser Beziehung, die uns diejenigen Beziehungen festzustellen erlaubt, die es zwischen der Unveränderlichkeit der im Ganzen betrachteten Lebensgesetze in der Geochemie und ihrer ebenfalls im Ganzen betrachteten Evolution in der Biologie gibt.
Das ist eines der wichtigsten wissenschaftlichen Probleme unserer Zeit.
4. Man kann dieses Problem in Angriff nehmen, indem man vom Studium der biogenen Wanderung chemischer Elemente in der Biosphäre ausgeht, welche durch die Regelmäßigkeit der dazugehörigen Formen charakterisiert ist.
Wir wollen die Wanderung chemischer Elemente insgesamt als Verschiebung chemischer Elemente bezeichnen, was immer die Ursache davon sein mag. Die Wanderung in der Biosphäre läßt sich durch chemische Prozesse bestimmen, zum Beispiel bei Vulkanausbrüchen; sie wird durch die Bewegung flüssiger, fester und gasförmiger Massen ausgelöst, etwa bei Verdunstungen und der Bildung von Lagerstätten; sie läßt sich bei Bewegungen von Flüssen, Meeresströmungen, Winden, Bodenabtragungen und Verschiebungen von Erdschichten usw. beobachten.
Die durch das Eingreifen des Lebens bewirkte biogene Wanderung zählt in ihrer Gesamtheit zu den großartigsten und auch typischsten Prozessen der Biosphäre und bildet den Grundzug ihres Mechanismus.
Unmengen von Atomen unterliegen dem Effekt einer ununterbrochenen biogenen Wanderung.
Es ist unnötig, hier auf dem Effekt zu bestehen, der in der Biosphäre durch eine biogene Wanderung in dieser Größenordnung entsteht. Wir haben diese Frage mehr als einmal behandelt.
Es ist dennoch wichtig, auf einige Grundzüge der biogenen Wanderung hinzuweisen, denn man muß sie unbedingt kennen, um das folgende zu verstehen.
Vor allen Dingen gibt es mehrere völlig unterschiedliche Formen der biogenen Wanderung. Einerseits ist die biogene Wanderung aufs engste und genetisch an die Materie des lebenden Organismus, an seine Existenz, gebunden. Cuvier gab eine zutreffende und präzise Definition des lebenden Organismus als einem unaufhörlichen Strom, einem Wirbel von Atomen, die von außen kommen und dorthin zurückkehren. Der Organismus lebt, solange der Strom von Atomen anhält. Der Strom macht die gesamte Substanz des Organismus aus. Jeder Organismus für sich allein bzw. alle Organismen zusammengenommen erzeugen durch Atmung, Ernährung, inneren Stoffwechsel und Fortpflanzung einen ständigen biogenen Strom von Atomen, welche die lebende Materie aufbaut und erhält. Das ist, kurz gesagt, die wesentliche Form und das Prinzip der biogenen Wanderung, deren numerische Bedeutung durch die Masse lebender Materie bestimmt ist, die es zu jedem Moment auf unserem Planeten gibt. Das ist aber noch nicht die gesamte biogene Wanderung.
Die Wirkung der gesamten biogenen Wanderung ist offenbar nicht direkt von der Masse lebender Materie abhängig. Sie richtet sich nicht weniger nach der Menge von Atomen als nach der Intensität ihrer Bewegungen in enger Beziehung zum Leben. Die biogene Wanderung ist um so intensiver, je schneller die Atome zirkulieren; diese Wanderung kann sehr unterschiedlich sein, selbst wenn die Menge der von den Lebewesen aufgenommenen Atome identisch ist.
Das ist die zweite Form der biogenen Wanderung, die mit der Intensität des biogenen Stroms der Atome zu tun hat.
Es gibt noch eine dritte. Die dritte Form beginnt in unserem Zeitalter, dem Psychosoikum, eine besondere Bedeutung in der Geschichte unseres Planeten anzunehmen. Das ist die ebenso von Organismen hervorgerufene Wanderung von Atomen, die aber nicht genetisch oder unmittelbar mit dem Eindringen oder dem Durchlauf von Atomen durch ihre Körper verbunden ist. Diese Wanderung entsteht durch die Entwicklung technologischer Aktivität. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit von Wühltieren, von denen wir seit den ältesten geologischen Zeiten infolge des Soziallebens bauender Tiere wie Termiten, Ameisen und Bibern Spuren finden. Aber diese Form der biogenen Wanderung chemischer Elemente hat seit dem Erscheinen der zivilisierten Menschheit vor Zehntausenden von Jahren eine außerordentliche Entwicklung genommen. Völlig neue Stoffe sind auf diese Weise entstanden, so zum Beispiel Metalle im freien Zustand. Das Gesicht der Erde verändert sich, und die unberührte Natur verschwindet.
Diese Wanderung scheint nicht in direkter Beziehung zur Masse der lebenden Materie zu stehen: sie ist in ihren Grundzügen durch die Denkarbeit bewußter Organismen bedingt.
Man muß schließlich, viertens, wohl auch die Veränderungen in der Atomverteilung hinzufügen, die durch das Erscheinen neuer Verbindungen organischen Ursprungs in der Biosphäre hervorgerufen wird. Wegen ihrer Auswirkungen ist das wahrscheinlich die stärkste Form der biogenen Wanderung. Sie läßt sich jedoch noch nicht zahlenmäßig berechnen, und ich werde mich hiermit heute nicht befassen.
Das ist beispielsweise der Fall für die Wanderung, welche durch die Abgabe freien Sauerstoffs durch Chlorophyll-Organismen entsteht, oder für diejenige, die durch die Umwandlung bisher in der Biosphäre unbekannter chemischer Verbindungen hervorgerufen und durch den menschlichen Geist geschaffen wird.
Es stimmt, daß sich diese Art chemische Wanderung nicht immer leicht von den ersten beiden unterscheiden läßt. Zum Beispiel ist die starke chemische Wanderung, die durch die Zersetzung von Körpern toter Organismen hervorgerufen wird, eng mit Fäulnis- und Gärungsvorgängen verbunden, die von speziellen Lebewesen bewirkt werden.
Aber die biogeochemischen Prozesse erklären dies nicht völlig.
5. Die verschiedenen hier erwähnten Formen chemischer Wanderung stellen eine Besonderheit dar, die wir im weiteren Verlauf unseres Berichts im Blick behalten sollten.
Eine weitere charakteristische Eigenschaft ergibt sich aus den physikalischen Gesetzen, die sie bestimmen.
Die biogene Wanderung ist nur ein Element eines anderen, noch größeren Prozesses in der Biosphäre, den man auch die allgemeine Wanderung ihrer Elemente nennt. Diese Wanderung findet teilweise unter dem Einfluß der Sonnenenergie, der Schwerkraft und unter Einwirkung innerer Teile der Erdrinde auf die Biosphäre statt.5
All diese Verschiebungen von Elementen, was immer ihre Ursache sein mag, reagieren auf verschiedene mechanisch bedingte Gleichgewichtssysteme; besonders in der Geschichte verschiedener chemischer Elemente bringen sie geschlossene geochemische Kreisläufe, Wirbel von Atomen, hervor.
Sie lassen sich alle auf heterogene Gleichgewichtsgesetze und auf die von Gibbs formulierten Prinzipien zurückführen.
Die zyklischen Prozesse, an denen die biogene Wanderung teilhat, werden durch eine äußere Kraft in Gang gehalten, deren Zufluß sich ständig erneuert. Die Kräfte der eingestrahlten Sonnenener gie und der Atomenergie spielen bei der Erneuerung dieser Prozesse eine ausschlaggebende Rolle.
Die Gleichgewichte, die außerhalb dieses äußeren Energiezuflusses untersucht werden, sind mechanische Systeme, die zwangsläufig einen stabilen Zustand erreichen. Ihre freie Energie ist am Ende des Prozesses null oder beinahe null, denn sämtliche Arbeit, die in diesem System geleistet werden kann, wird letztlich zwangsläufig aufgebraucht. In Gleichgewichten dieser Art erreicht die Arbeit stets ein Maximum, während die freie Energie einem Minimum zustrebt.
Die biogene Wanderung ist in natürlichen Gleichgewichtssystemen eine der Grundformen der Arbeit, und sie muß offenbar einem maximalen Ausdruck zustreben.
Man kann diese Eigenschaft der biogenen Wanderung als wichtiges geochemisches Prinzip ansehen, das selbsttätig biogeochemische Phänomene steuert.
Das erste biogeochemische Prinzip, wie ich es nenne, kann folgendermaßen formuliert werden:
Die biogene Wanderung der chemischen Elemente in der Biosphäre strebt ihrer vollständigsten Erscheinungsform zu.
6. Untersuchen wir nun, wie sich diese beiden Eigenschaften der biogenen Wanderung in der Biosphäre äußern: Das erste biogene Prinzip und die Existenz zweier seiner Erscheinungsformen – erstens die, die mit der Masse lebender Materie, und zweitens die, die mit der Technologie des Lebens verbunden sind.
Die Masse lebender Materie muß offenbar bei maximaler biogener Wanderung in der Biosphäre die äußersten Grenzen erreichen, d. h. wenn es solche Grenzen gibt.
Die Unveränderbarkeit dieser Masse scheint darauf hinzudeuten, daß die biogene Wanderung in dieser Form seit den frühesten geologischen Zeiten in etwa ihre Grenze erreicht hat.
Das ist nicht das gleiche wie die biogene Wanderung der Elemente, die mit der Technologie des Lebens in Verbindung steht. Hier bemerkt man einen deutlichen Sprung zu unserer psychosoischen geologischen Epoche.
Wir sind Zeuge dieser Form der biogenen Wanderung, und wir müssen in Übereinstimmung mit dem ersten biogeochemischen Prinzip anerkennen, daß diese Form der Wanderung von Elementen mit der Zeit zwangsläufig ihre maximale Grenze erreicht, immer vorausgesetzt, es gibt eine solche Grenze, oder daß sie beständig ihre maximale Entwicklung zu erreichen strebt.
7. Man kann die Richtigkeit des ersten biogeochemischen Prinzips leicht überprüfen, indem man die biogene Wanderung untersucht. Die Tendenz, mit der sie in der Biosphäre ihre maximale Entwicklung erreicht, läßt sich in der Natur in bezug auf zwei Phänomene beobachten: Zuerst nimmt die biogene Wanderung den größtmöglichen Raum ein, den maximalen Raum, der ihr aufgrund der Masse lebender Materie und der lebenden Technologie, welche letz terer eigen ist, offensteht. Dieses Phänomen zeigt sich in der Allgegenwart des Lebens in der Biosphäre, wie überall sichtbar ist.
Aber die biogene Wanderung beruht in ihrer geochemischen Wirkung nicht allein auf der Menge der von ihr zu jeder Zeit in der Biosphäre eingefangenen Atome, sondern auch auf der Schnelligkeit ihrer Bewegung, der Zahl von Atomen, die pro Zeiteinheit die lebende Materie durchläuft, oder auf deren in der gleichen Zeiteinheit stattfindenden Verschiebung, welche durch technisches Eingreifen dieser lebenden Materie in die Umwelt hervorgerufen wird.
Das erste biogeochemische Prinzip äußert sich also durch den Druck des Lebens, den wir in der Biosphäre tatsächlich beobachten, und durch die beschleunigte technologische Aktivität des zivilisierten Menschen.
Es ist gleichzeitig wichtig, das Phänomen der Allgegenwärtigkeit des Lebens, aber auch das seines Druckes und das Bestehen solcher Lebensformen in der Biosphäre zu berücksichtigen, die sich in einer Umwelt mit radikal anderem physikalischen Charakter entwickelt haben.
Man kann und muß grundsätzlich einräumen, daß sich Leben in zwei physikalisch verschiedenen Räumen äußert.
Einerseits erscheint es in dem Schwerefeld, in dem wir leben. Daran sind wir natürlich am meisten gewohnt.
Aber das Schwerefeld, worin alles unter das Gesetz der Schwerkraft fällt, umfaßt nicht den gesamten Lebensbereich.
Die kleinsten Organismen haben Dimensionen ähnlich wie Moleküle, auch wenn sie einer anderen Größenordnung angehören.6 Diese Organismen, deren Durchmesser noch nicht einmal ein Hunderttausendstel Zentimeter beträgt, treten in das Feld der Molekularkräfte ein, und ihr Leben sowie die damit verbundenen Phänomene werden nicht nur von der universellen Schwerkraft beherrscht, sondern unterliegen auch der Wirkung der uns umgebenden Strahlung: Diese kann in Hinblick auf Organismen die Lebensgrundlagen beseitigen, die von der Schwerkraft abhängig sind.7
Wir wissen, daß diese verschwindend kleinen Organismen ebenfalls allgegenwärtig sind und den maximalen Raum ausfüllen, und daß der Druck ihres Lebens, die Intensität des von ihnen hervorgerufenen Wirbels von Atomen extrem ist.
8. Man kann somit die Allgegenwart des Lebens und den Druck desselben als Aus druck des Naturprinzips verstehen, welches die biogene Wanderung der chemischen Elemente steuert.
Wenn man die natürlichen Phänomene und die sich darauf beziehenden empirischen Fakten untersucht, kann man sich leicht davon überzeugen, daß die gleiche Allgegenwart sowie der Druck des Lebens nicht durch die Unveränderlichkeit des gegenwärtigen Lebens von Organismen erklärt werden kann.
Diese Phänomene verändern sich im Verlauf der geologischen Zeit und entwickeln sich im großen Umfang unter der Wirkung der Evolution.
Die aus dieser Evolution neuer Lebensformen entstehende Schöpfung paßt sich neuen Existenzformen an, erweitert die Allgegenwart des Lebens und vergrößert seinen Bereich. Das Leben dringt somit in Regionen der Biosphäre vor, wo es bisher keinen Zugang hatte.
Gleichzeitig sieht man, wie im Laufe der geologischen Epochen neue Lebensformen erscheinen. Deren Auftreten führt aber zu einer Beschleunigung des atomaren Flusses durch die lebende Materie und erzeugt ebenso in den Atomen bislang unbekannte neue Äußerungen sowie das Auftreten neuer Arten der Verschiebung.
Die Aufmerksamkeit, die bereits drei Generationen von Naturforschern dem Phänomen der Artenevolution geschenkt haben, ermöglicht es, die belebte Natur zu analysieren, und überzeugt uns davon, daß sich die Allgegenwart und der überall beobachtete Druck des Lebens im Verlauf der geologischen Zeitalter radikal verändert und verstärkt hat. Das ist ein Ergebnis der Evolution und der Anpassung der Organismen an die Umwelt.
Zwei oder drei Beispiele mögen genügen, um meinen Gedanken deutlicher zu machen. Eine Analyse der Höhlenfauna zeigt, daß diese aus Lebewesen besteht, die einst im Hellen gelebt haben. Sie paßten sich an neue Bedingungen an und vergrößerten so den Bereich des Lebens. Das trifft auch zumindest für einen Teil des Benthos in den Ozeanen zu. Das Leben paßte sich an Bedingungen von hohem Druck, Kälte und Dunkelheit an, obgleich es von Lebewesen abstammte, die unter anderen Bedingungen gelebt haben.
Das ist ein neues Phänomen, das den Bereich des Lebens in der Biosphäre vergrößert. Eine Analyse dieser Phänomene scheint auch darauf hinzudeuten, daß sich der Bereich des Lebens durch die Besiedlung der ozeanischen Tiefen selbst in unserem Zeitalter noch weiter ausdehnt.
Was andere Phänomene betrifft, kann man noch bei jedem Schritt identische Prozesse beobachten. Die Flora und Fauna warmer Quellen wie auch die Flora und Fauna großer Höhen oder Wüsten und jene von Gletscherregionen und jene mit ewigem Schnee entwickeln sich entsprechend den Gesetzen der Evolution. Das Leben, das sich der natürlichen Umgebung anpaßt, annektiert langsam neue Regionen und verstärkt die biogene Wanderung von Atomen in der Biosphäre.
Der Evolutionsprozeß vergrößerte nicht nur den Bereich des Lebens, er intensivierte und beschleunigte auch die biogene Wanderung. Die Herausbildung des Wirbeltierskeletts veränderte und verstärkte durch Konzentration die Wanderung von Fluor- und ohne Zweifel auch von Phosphoratomen, und das Skelett von wirbellosen Wassertieren bewirkte das gleiche für die Wanderung von Kalziumatomen.
Es ist unnötig, hier darauf zu verweisen, daß der Lebensdruck in der Biosphäre durch das Erscheinen des entwickelten homo sapiens extrem angestiegen ist, den man offenbar in einer Kombination der Terminologie von Linné und Bergson und unter Verwendung der dreifachen Gattungseigenschaft auch homo sapiens faber nennen kann. Die Denkweise des homo sapiens faber ist ein neuer Umstand, der die Struktur der Biosphäre nach unzähligen Jahrhunderten erschüttern läßt.
9. Die empirische Analyse der lebenden Natur belegt offen und eindeutig, daß die Allgegenwart und der Druck des Lebens in der Biosphäre das Ergebnis der Evolution ist. Anders ausgedrückt, die Evolution lebender Formen im Verlauf der geologischen Zeit auf unserem Planeten verstärkt die biogene Wanderung der chemischen Elemente in der Biosphäre.
Der mechanische Zustand, der die Notwendigkeit dieses Charakters der atomaren Wanderung bestimmt, bleibt natürlich während der gesamten geologischen Zeit ununterbrochen erhalten, und bei der Evolution der Lebensformen wird dem stets Rechnung getragen.
Dieser mechanische Zustand, der die biogene Wanderung der Elemente hervorruft, beruht auf der Tatsache, daß das Leben einen integralen Bestandteil des Mechanismus der Biosphäre bildet und im Grunde die Kraft ist, die seine Existenz bestimmt.
Es ist ebenfalls offensichtlich, daß die Artenevolution mit der Struktur der Biosphäre korreliert ist. Weder das Leben noch die Evolution seiner Formen kön nen unabhängig von der Biosphäre existieren noch ihr
als einzelne natürliche Einheiten entgegengesetzt sein.
Ausgehend von diesem Grundprinzip und dem Umstand, daß die Evolution an der Allgegenwart und dem Druck des Lebens in der heutigen Biosphäre beteiligt ist, sind wir mit Blick auf die Evolution lebender Formen in der Lage, ein neues biogeochemisches Prinzip aufzustellen. Dieses biogeochemische Prinzip, das ich als zweites biogeochemisches Prinzip bezeichnen will, kann folgendermaßen formuliert werden:
Die Artenevolution, die zur Schaffung neuer, stabiler Lebensformen führt, muß sich in Richtung auf eine Zunahme der biogenen Wanderung von Atomen in der Biosphäre bewegen.
10. Es ist sicher, daß dieses Prinzip in keiner Weise die Evolution der Arten erklären kann und nicht in die Erklärungsversuche für die verschiedenen Evolutionstheorien eingeht, mit denen sich die Gelehrten derzeit beschäftigen. Dieses Prinzip betrachtet die Evolution als empirische Tatsache oder vielmehr als empirische Verallgemeinerung und bringt es mit einer anderen empirischen Verallgemeinerung, der des Mechanismus der Biosphäre, in Verbindung.
Es ist aber vom Standpunkt der Evolutionstheorien keineswegs ohne Interesse und es zeigt meiner Meinung nach mit unfehlbarer Logik, daß es eine bestimmte Richtung gibt, in der die Evolutionsprozesse notwendigerweise erfolgen. Diese Richtung deckt sich in ihrer (wissenschaftlich präzisen) Terminologie vollkommen mit den Prinzipien der Mechanik, mit unserem gesamten Wissen über die physikalisch-chemischen Prozesse auf der Erde, zu denen die biogene Wanderung der Atome gehört.
Jede Evolutionstheorie muß diese bestimmte Richtung der Evolutionsprozesse in Betracht ziehen, welche erst im Zuge der Weiterentwicklung der Wissenschaft zahlenmäßig bewertet werden können.
Es scheint mir aus mehreren Gründen unmöglich zu sein, von Evolutionstheorien zu sprechen, ohne auch die grundlegende Frage der Existenz einer bestimmten Richtung in den Evolutionsprozessen während aller geologischen Zeitalter in Betracht zu ziehen.
Insgesamt genommen finden sich in den Annalen der Paläontologie keine Anzeichen chaotischer Erschütterungen mal in die eine, mal in eine andere Richtung, sondern von einem Phänomen, dessen Entwicklung auf festgelegte Weise immer in eine Rich tung abläuft, in die einer Zunahme des Bewußtseins, des Denkens und der Erzeugung von Formen, die die Wirkung des Lebens auf die Umwelt vergrößern.
Die Existenz einer bestimmten Richtung in der Artenevolution läßt sich durch Beobachtung genau nachweisen.
Ich möchte nur auf einige allgemeine Beispiele über den Ablauf von Evolutionsprozessen eingehen, auf paläontologische Hinweise aus Sicht der Transformation der biogenen Wanderung im Verlauf der geologischen Epochen.
11. Während des Kambriums, an der Grenze der von uns untersuchten belebten Urwelt, sind die höheren Wirbellosen erschienen. Der fragliche Umstand ist nicht absolut erwiesen, aber man muß ihn annehmen, um auf sehr einfache Weise den einschneidenden Wandel zu erklären, der kurz nach Beginn des Kambriums bezüglich der Erhaltung von Lebewesen eintrat. Die völlige Unveränderlichkeit der Erosionsprozesse während des gesamten Präkambriums und deren völlige Gleichheit mit entsprechenden Prozessen heute, wenn man ihre wesentlichen Eigenschaften betrachtet, erlaubt es nicht, das Fehlen von Relikten in den unterschiedlichen Bedingungen der äußeren Umwelt zu erklären.
Es gibt gleichzeitig keinen Grund für die Annahme, daß die Verwandlung der Erdschichten, die durch eine bestimmte Dauer dieser Prozesse erfolgte, zu genau diesem Zeitpunkt keine organischen Fossilien aufwies. Man müßte ansonsten einräumen, daß alle älteren Schichten vollständig umgewandelt wurden.
Heute sind uns sehr wohl Fälle bekannt, wo präkambrische Schichten weniger umgestaltet waren als die aus dem Kambrium und Schichten aus jüngerer Zeit.
Wahrscheinlich haben jene Geologen recht, die hier eine starke Veränderung in der biogenen Wanderung der Kalziumatome annehmen. Das ist das erste Phänomen dieser Art, das man aufzeigen konnte.
Man kann eine Vorstellung von der Bedeutung dieses Ereignisses bekommen, wenn man sich daran erinnert, welche Rolle in der Biosphäre sehr kalziumreiche Lebewesen (die überwiegend Kalzium anstelle anderer Metalle enthalten) bei der Bildung von Kalkablagerungen spielten. Der Mechanismus der biogenen Wanderung von Kalzium erfuhr während der erwähnten Zeit große Veränderungen, und diese Wanderung wurde umgehend stärker. Um es danach zu beurteilen, was wir über die Intensität der Wanderung von Kalzium infolge der Entstehung des Skeletts höherer Wirbelloser, zum Beispiel von Mollusken oder Korallen, im Vergleich zu den mikroskopischen Lebewesen wissen, deren Kalzium schließlich über das Wasser freigesetzt wird, muß man seit der Entstehung dieser neuen Lebensformen eine extreme und plötzliche Intensitätszunahme seiner Wanderung annehmen.
Es ist möglich, daß eine gleichartige Veränderung der biogenen Wanderung von Kalzium aufgrund der Bildung neuer Arten mit kalziumkarbonatreichen Skeletten das Eindringen von Leben in neue Bereiche der Biosphäre begleitete. Diese Veränderung muß gleiche Auswirkungen auch in der Geschichte der Kohlensäure gehabt haben.
Zu Beginn des paläozoischen Lebens und möglicherweise während des Kambriums erfordert ein anderer sehr wichtiger Umstand bezüglich der biogenen Wanderung von Atomen unsere Aufmerksamkeit: Die radikale Umwandlung der Baumvegetation auf den Kontinenten.8 Der schrittweise Vervollkommnungsprozeß dieser Organismen, deren volle Blüte mit ihrem Höhepunkt im Tertiär erreicht zu sein schien, setzte sich auch im Verlauf der weiteren geologischen Zeitalter fort. Das Leben hat durch diesen Prozeß einen neuen, riesigen Bereich erobert: die Troposphäre. Die Entstehung von Wäldern voller Leben bewirkte eine große Veränderung in der Wanderung von Sauerstoff-, Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen sowie gleichzeitig in der Wanderung all jener Lebensatome, deren Kreislaufbewegung zunächst stärker werden mußte, denn die Wälder, besonders die Wälder mit Laubbäumen, die bis in neue geologische Zeitalter fortbestanden, konzentrierten das Leben von Pflanzen wie von Tieren in bis dahin unbekanntem Ausmaß. Wenn man von diesem Standpunkt die sporentragenden Wälder der Urzeit mit unseren Wäldern oder den Tertiärwäldern samentragender Bäume vergleicht, wird uns der Unterschied in der Stärke der biogenen Wanderung gewaltig erscheinen.
Während des Mesozoikums verstärkte ein neuer Umstand, das Erscheinen von Vögeln, die Intensität der biogenen Wanderung von Atomen erneut, und das Leben dehnte seinen Bereich weiter aus. Erst im Mesozoikum und dem Tertiär erreichten fliegende Tiere in Form der Vögel ihre vollste Ausbildung. Zwei sehr wichtige biogeochemische Funktionen verbinden sich mit diesen beiden neuen Lebensformen. Man kann schwerlich schließen, daß es zwischen diesen Formen und den fliegenden Wirbellosen, die sehr früh etwa zu Beginn des Paläozoikums erschienen, eine Verbindung gibt, obgleich insbesondere diese fliegenden Wirbellosen diese Funktionen erfüllten und sie bis heute erfüllen. Jedenfalls verlieh allein die Erschaffung der Vögel dem Mechanismus der Biosphäre einen Anstoß, den sie zuvor nicht gehabt hatte.
Im Mechanismus der Biosphäre, der biogenen Wanderung der Atome, spielen die Vögel und andere fliegende Lebewesen eine immense Rolle beim Austausch von Materie zwischen dem Festland und dem Wasser, hauptsächlich zwischen dem Kontinent und dem Meer!9 Die Rolle der Vögel steht hierbei der der Flüsse entgegen, aber was die beförderte Quantität an Masse angeht, kommt sie ihr nahe. Die Vogelwanderungen machen diese Rolle insofern noch wichtiger, da sie etwas mit dem biogenen Kreislauf der Atome zu tun haben. Das Erscheinen dieser geflügelten Wirbeltierarten erzeugte nicht nur neue Formen biogener Wanderung, die sich auf das chemische Gleichgewicht des Meeres und des Kontinents auswirkte, sondern löste auch im Verlauf der Geschichte einzelner Stoffe, insbesondere von Phosphor, eine Zunahme der biogenen Wanderung aus.10 Die geflügelten Wirbellosen, die Insekten, spielten dabei keine so wichtige Rolle. Es ist richtig, daß die Flugsaurier (Reptilien) vor den Vögeln erschienen, aber alles deutet daraufhin, daß sie keine mit ihnen vergleichbare Wirkung ausübten. Das Auftreten der Vögel ist offenbar mit der Entstehung neuer Baumarten verbunden, oder scheint zumindest mit ihnen zusammenzufallen.
Die Rolle der zivilisierten Menschheit ist vom Standpunkt der biogenen Wanderung von Atomen unendlich wichtiger als die der anderen Wirbeltiere. Zum ersten Mal in der Erdgeschichte war es möglich, daß die biogene Wanderung aufgrund der technologischen Entwicklung eine größere Bedeutung erlangte als die biogene Wanderung bedingt durch die Masse lebender Materie. Die biogene Wanderung änderte sich gleichzeitig für alle Elemente. Dieser Vorgang trat sehr schnell in einem relativ kurzen Zeitraum ein. Das Antlitz der Erde veränderte sich auf nicht wiederzuerkennende Weise, und doch ist klar, daß die Ära dieser Umgestaltung gerade erst begonnen hat.
Diese Umgestaltungen entsprechen den Vorgaben des zweiten biogeochemischen Prinzips; die Veränderung führte zu einem extremen Intensitätszuwachs der biogenen Wanderung der Atome in der Biosphäre.
Zwei Phänomene müssen hier erwähnt werden: Erstens, der Mensch (und daran läßt sich nicht zweifeln) ist aus der Evolution hervorgegangen, und zweitens, wenn man die Veränderung beachtet, die er in der biogenen Wanderung der Atome bewirkt, bemerkt man eine Veränderung neuer Art, die sich mit der Zeit außergewöhnlich stark beschleunigt.
Man kann deswegen vollkommen zustimmen, daß die biogene Wanderung der Atome im Verlauf der paläontologischen Zeitalter unter dem Einfluß der entstehenden neuen Tier- und Pflanzenarten nicht weniger schnell erfolgte.
Die neue quantitative Form der biogenen Wanderung, wie sie der Zivilisation entspricht, wurde während der gesamten paläontologischen Geschichte vorbereitet. Man hätte ihre ersten Überreste auffinden können, wenn man die Naturgesetze auf den ersten Seiten der paläontologischen Geschichte gekannt hätte.
Ich höre hier mit einigen für die Artenevolution typischen Phänomenen auf, die etwas mit der biogenen Wanderung der chemischen Elemente zu tun haben. Bei all diesen Fällen ist die Übereinstimmung der Evolution mit dem zweiten biogeochemischen Prinzip offensichtlich, wie es sich stets in den Analysen der paläontologischen Geschichte zu zeigen scheint.
Wie ist es zu dieser Übereinstimmung gekommen? Ist sie Folge eines blinden Wettstreits von Umständen oder eines tieferen, durch die Eigenschaften des Lebens bestimmten Prozesses – unablässigen Prozessen, die in ihren Erscheinungsformen während der gesamten geologischen Geschichte des Planeten immer die gleichen sind? Die Zukunft wird darüber entscheiden.
Der steuernde Einfluß des zweiten geochemischen Prinzips wird sich in beiden Fällen äußern.
Wenn die Entstehung der Arten wahllos, zufällig und außerhalb des Einflusses der Umwelt, d. h. des Mechanismus der Biosphäre abgelaufen wäre, hätte eine beliebige, zufällig entstandene Art nicht überleben und in den Wirbel des Planeten eintreten können; nur genügend stabile Arten hätten überleben können, die in der Lage wären, die biogene Wanderung der Biosphäre zu verstärken.
Es ist allerdings heute unmöglich, Lebewesen einfach ihrer Umwelt, d. h. der Biosphäre gegenüberzustellen, wie man es früher zu tun pflegte. Wir wissen, daß ein Lebewesen kein zufälliger Bewohner der Umwelt ist; es ist Teil von deren komplizierten Mechanismus und festen Gesetzen unterworfen. Die Evolution selbst bildet einen Teil dieses Mechanismus.
Der Naturforscher muß alle philosophischen oder religiösen Vorstellungen, die von außen in die Wissenschaft eingedrungen sind, aus seiner Sicht des Universums ausschließen. Wenn man bei Fragen der Evolution zum Beispiel die Idee zuließe, daß Lebewesen gegenüber ihrer Umwelt unabhängig seien und daß es zwischen beiden Faktoren einen Gegensatz gäbe, wäre dies ein Fehler dieser Art.
Von diesem Standpunkt besteht vermutlich eine enge Verbindung zwischen der Übereinstimmung der Evolution und dem sie bestimmenden Prinzip, und das ist keineswegs eine einfaches Zusammentreffen von Umständen.
12. Ohne uns hier mit den Ursachen der Evolution zu befassen, sondern lediglich aufzuzeigen, daß sie eine be stimmte Richtung braucht, umschreibt das Studium der biogeochemischen Phänomene somit den in der Wissenschaft zulässigen Bereich evolutionärer Theorien.
Offenbar eröffnet diese Untersuchung für uns einen weiteren Bereich der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Phänomenen, die bisher ausschließlich philosophischen und religiösen Spekulationen vorbehalten waren.
Die neue Form biogener Wanderung – neu zumindest in dieser Größenordnung – entstand, wie man sieht, durch das Eingreifen der menschlichen Vernunft.
Sie läßt sich jedoch in keiner der anderen Erscheinungsformen der biogenen Wanderung erkennen, die mit anderen vitalen Funktionen in Verbindung stehen.
Man kann gleichzeitig genau nachweisen, wie das menschliche Denken den Verlauf natürlicher Prozesse scharf und radikal ändert und die sogenannten Naturgesetze modifiziert.
Bewußtsein und Denken läßt sich ungeachtet der Anstrengungen von Generationen von Denkern und Weisen weder auf Energie noch Materie zurückführen, wie immer man diese Grundlagen unseres wissenschaftlichen Denkens auch definieren mag.
Wie kann das Bewußtsein auf Entwicklungsprozesse einwirken, die sich scheinbar vollständig auf Energie und Materie zurückführen lassen?
Diese Frage wurde zuletzt von dem amerikanischen Mathematiker A. Lotka genau in bezug auf biogeochemische Phänomenen gestellt. Es ist zweifelhaft, ob seine Antwort zufriedenstellend war. Aber er zeigte die Bedeutung des Problems und die Möglichkeit seiner Bewältigung auf.
Wahrscheinlich werden wir diese Frage nicht lösen können, bis wir unsere physikalischen Grundbegriffe radikal erneuert haben, Begriffe, die Veränderungen in einer Schnelligkeit erlebt haben und noch immer erleben, wofür wir in der Geistesgeschichte bisher keine Beispiele kennen. Die physikalischen Theorien werden sich zwangsläufig mit den Grundphänomen des Lebens befassen müssen.
In diese Richtung bewegt sich jetzt das Denken. Es ist unmöglich, diese neuen, gewichtigen Forschungen nicht in Betracht zu ziehen, darunter die Spekulationen des Mathematikers und englischen Denkers A. Whitehead, deren Verdienst mehr auf philosophischem als auf wissenschaftlichem Gebiet liegt. Es ist sehr gut möglich, daß ein weiterer englischer Denker, J. Haldane, recht hat, wenn er in der nächsten Zeit eine radikale Transformation der Physik und ihrer Prinzipien voraussagt, weil in ihren Bereich die Untersuchung von Lebensphänomenen aufgenommen wird.
Wenn man die Untersuchung biogeochemischer Phänomene soweit wie möglich vorantreibt, können wir in genau den Bereich von Erscheinungsformen vordringen, die das Leben und die Struktur des physikalischen Universums miteinander verbinden, und gleichzeitig auch in den Bereich zukünftiger Wissenschaftstheorien.
Das erklärt das grundlegende philosophische Interesse, welches biogeochemische Probleme heute darstellen.
Fußnote(n)
- Der vorliegende Text stammt von einer Rede, die Wernadskij am 5. Februar 1928 vor der Gesellschaft der Naturforscher in Leningrad gehalten hat. Alle weiteren Fußnoten stammen vom Übersetzer.[↩]
- D. h. Entenflott[↩]
- Zehn Jahre nach dieser Rede hat Wernadskij entweder aufgrund neuer ihm verfügbarer Daten oder vielleicht aus einem mehr ontologischen Grund seine Formulierung geändert: „Die Masse lebender Materie der Biosphäre ist nahe an ihrer Grenze und bleibt im Maßstab der historischen Zeit offenbar ein relativ konstanter Wert. Sie bestimmt sich vor allem durch die auf die Biosphäre fallende Strahlungsenergie der Sonne und durch die biogeochemische Energie des Besiedlungsprozesses des Planeten. Offensichtlich nimmt die Masse der lebenden Materie im Verlauf der geologischen Zeit zu, und der Besiedlungsprozeß der Erdkruste durch die lebende Materie ist noch nicht abgeschlossen.“
— Aus „Der grundlegende materiell-energetische Unterschied zwischen lebenden und nichtlebenden Naturkörpern in der Biosphäre“, 1938. [↩] - Vermutlich sind hiermit Cuviers Theorien des Katastrophismus gemeint. Es folgt ein Zitat aus seinen Arbeiten über lebende und fossile Elefanten von 1796: „Alle diese Tatsachen, die in sich konsistent sind und von keinem Bericht widerlegt werden, scheinen mir das Bestehen einer Welt vor der unsrigen zu beweisen, die durch irgendeine Katastrophe zerstört wurde.“[↩]
- Möglicherweise ein Verweis auf Vulkanismus oder ähnliches.[↩]
- „Bien qu’appartenant à une autre décade.“ Die Bedeutung von décade ist in diesem Zusammenhang nicht klar. [↩]
- Eine Fußnote aus Die Biosphäre, um die hier ausgedrückte Idee zu verdeutlichen : „… das Stabilitätsfeld des Lebens ist deutlich in das Gravitationsfeld für größere Organismen und in das Feld der Molekularkräfte für die kleineren Organismen wie den Mikroben und Ultramikroben (etwa 104 μm lang) geschieden. Leben und Bewegungen letzterer richten sich vorwiegend nach leuchtender und anderer Strahlung. Auch wenn die Größe dieser beiden Felder nicht gut belegt ist, weiß man, daß sie von den Toleranzen der Organismen abhängig sein müssen.“[↩]
- D. h. von Wäldern.[↩]
- Das Ausrufezeichen findet sich in der französischen Übersetzung, aber nicht im Russischen.[↩]
- Aus Mark McMenamins Hypersea: „Der erste Aspekt von Wernadskijs Gesetz dreht sich um tatsächlichen Transport durch die Bewegung von Lebewesen, wie etwa die Wanderung von Phosphoratomen vom Meer aufs Land, wenn Küstenvögel ihre Exkremente landeinwärts ablassen. (Für einen Wernadskijaner ist eine Seemöwe Phosphor im Fluge).“[↩]