Am 1. Mai 2013 entstand das folgende Interview mit Joseph Milchteine, der in einem ganz besonderen Abschnitt seines 93 Jahre langen Lebens daran beteiligt war, das Triebwerk NK-33 für die russische Mondrakete N1 zu bauen. Dieses Triebwerk war für über 20 Jahre das beste Triebwerk der Welt und wurde ab 1993 der Grundstein für die modernen Triebwerke, die uns noch heute den Raumflug ermöglichen. Wir vom Fusions-Energie-Forum sind deswegen besonders froh, unseren Lesern diesen Zeitzeugenbericht unterbreiten und damit einen weiteren Beitrag zur Vervollständigung der Raumfahrtgeschichte leisten zu können.
Das Gespräch mit Joseph Milchteine führte Toni Kästner. Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Montenegro, der den Kontakt mit Herrn Milchteine ermöglichte, aber auch Milchteines Sohn und Schwiegertochter, die bei einigen sprachlichen Verständigungsproblemen sehr hilfreich waren und uns auch mit interessantem Bildmaterial für das Interview versorgten.
Bitte sagen Sie uns erst einmal etwas über Ihr Leben und auch darüber, wie Sie dazu gekommen sind, ein Triebwerk für eine Mondrakete mit zu entwickeln.
Milchteine: Ich habe nicht nur ein Leben gelebt, sondern vier. Welche vier? Das erste war die Jugend in Odessa bis 18 Jahre; das zweite war der Krieg, wo ich Soldat war; das dritte war in Leningrad mit dem Hunger, wo auch besonderes geschehen ist; und das vierte Leben ist die Technik. In der Technik hatte ich fast die ganze Zeit mit Flugzeugmotoren zu tun – bis zum Beginn der 60er Jahre, als die Arbeit mit Raketentriebwerken begann.
Ich liebe die Triebwerke, weil sie eines der besten Dinge sind, die die Menschheit hervorgebracht hat. Denn was ist ein Triebwerk? Große Energie, kleines Gewicht und eine sehr große Zuverlässigkeit. Diese drei Dinge bestimmen, was man leisten muß, wenn man vorhat, ein Triebwerk zu bauen.
Aber das wichtigste in der Luftfahrt sehen Sie hier in diesem Buch. Was ist hier auf dem Bild als Fundament zu sehen?
Ich weiß es nicht.
Das ist eine Turbinenschaufel, sie ist ein Wunder unserer Welt. Bei ihrer Arbeit ist sie rot vor Hitze und trägt mehrere Tonnen an Last und dazu schwingt sie auch noch. Daher ist die Festigkeit einer solchen Schaufel das wichtigste, denn wenn sie bricht oder nur ein Teil davon bricht, ist die Folge eine Störung, ein Ungleichgewicht im Triebwerk, und am Ende würde das ganze Flugzeug und nicht nur das Triebwerk zerstört. Die Schaufel ist aber nur ein Teil des ganzen, und man könnte noch mehr solcher Beispiele finden. Sie ist ein Wunder von vielen.
Waren Sie als junger Mensch bereits von Technik begeistert oder kam das erst im späteren Leben?
Nein, nein, an der Technik war ich schon seit Beginn meines Lebens interessiert. Bereits als ich meine Schule in Odessa beendet hatte, blieb ich nicht dort, obwohl es eine große Stadt war. Sie hatte 20 Universitäten und Hochschulen, also hätte man eigentlich auch da bleiben können, aber nein, ich als einziger Sohn meiner Familie fahre nach Leningrad/St. Petersburg, um dort in die Technik einzutauchen. Für mich hat das aber nichts mit Begeisterung zu tun, sondern es ist einfach das normale Leben für mich, denn ich mag die Technik und ich verstehe etwas davon. Ich war ein Preisträger von mathematischen Olympiaden in Odessa und wollte deshalb das alles einfach weiter verfolgen, ohne große Euphorie. Es war einfach normal für mich – der eine will Arzt werde, der zweite interessiert sich für Sport, und bei mir ist es eben die Technik.
Kam das von seiten ihrer Familie? Waren Ihre Eltern in technischen Berufen beschäftigt?
Es kam durch sie, aber anders. Mein Vater war nur zwei Jahre im Cheder,1 bekam dort eine religiöse Ausbildung vom Rabbiner und arbeitete dann im Hafen. Meine Mutter hatte keinerlei schulische Ausbildung. Aber sie hat viel gelesen, viel selbst gelernt, und wahrscheinlich habe ich das von ihr. Es lag aber nicht nur an der Familie, sondern auch an der ganzen Gesellschaft, denn die Gesellschaft der 30er Jahre in der Sowjetunion war so: Die jungen Menschen waren einfach unglaublich neugierig und wollten diese Dinge erfahren.
Es war aber auch eine Zeit des Hungers. Als junger Mann war ich immer hungrig, und einige starben sogar, aber trotzdem waren wir von der Technik begeistert und auch fröhlich in Odessa am Meer.
Dann sind Sie nach Leningrad/St. Petersburg gegangen und haben dort ihre Ausbildung angefangen?
Ja. Bis 1941, als der Krieg begann, war ich in Leningrad.
Auch während des Krieges?
Nein, 1938 kam ich nach Leningrad und habe zweieinhalb Jahre studiert bis zum Kriegsbeginn. Obwohl ich eine Bescheinigung hatte, daß ich nicht in den Krieg müßte, habe ich mich freiwillig dafür entschieden, weil ich mich wie die anderen habe dafür begeistern lassen. Aber den Rest davon behalte ich für mich, denn es ist eine andere Geschichte.
Nach dem Krieg haben Sie dann aber weiter studiert?
Ja. Ich habe dann in Moskau am staatlichen Luftfahrtinstitut (MAI) studiert, das war Ende 1942, nachdem ich aufgrund einer Verwundung nicht mehr am Krieg teilnehmen konnte.
War diese Zeit in Moskau nicht auch die Zeit von Topolew?
Ja, aber wir haben nur gewußt, daß es ihn gibt. Ansonsten war ich ja nur Student. Nach drei Jahren machte ich den Abschluß am Luftfahrtinstitut – im Jahr 1945. Bis zum Jahr 1948 habe ich dann in anderen Bereichen gearbeitet, zum Beispiel in einem medizinischen Ingenieurbüro, wo ich eine Maschine entwickelt habe, mit der man Blutgefäße automatisch wieder zunähen kann. Die kommt bis heute noch zur Anwendung. Dann, 1948, habe ich wieder damit begonnen, an Triebwerken zu arbeiten; erst für die Luftfahrt und dann das weitere.
Als Sie 1948 in der Luftfahrt gearbeitet haben, dachten Sie da bereits an die Raumfahrt? War das damals schon ein Gesprächsthema unter den Studenten?
Das Wissenschaftsinstitut, in das ich kam, war schon damals ein berühmtes Raketeninstitut, und in diesem Institut wurde die berühmte Katjuscha entwickelt.2 Dort begann bereits 1948 die Raketenforschung, und ich habe damals dort Verbrennungsprozesse untersucht. Zu dieser Zeit war ich 29 Jahre und bekam mein erstes Patent. Es handelte von den Verbrennungsprozessen.
Dort arbeitete ich aber nur zwei Jahre, und dann schickte man mich nach Samara, weil Stalin die jüdischen Wissenschaftler verfolgen ließ. Nachdem mir gekündigt wurde, wandte ich mich an einen politischen Funktionär und sagte ihm, daß ich doch Kriegsveteran und dazu noch gut ausgebildet wäre und es doch Arbeit für mich geben müßte, worauf ich wieder angestellt wurde. Aber das ganze war mir eine Warnung.
Als Kusnezow3 dann nach jungen Leuten suchte, die mit ihm arbeiten wollten, gab mir meine Schwiegermutter den Rat, doch lieber von Leningrad weg zu gehen. Kusnezow lud mich dann persönlich ein, mit ihm nach Samara zu gehen, und so habe ich begonnen, mit ihm zu arbeiten.
Kann man sagen, daß Kusnezow jemand war, der sagte, für mich ist es wichtiger, was jemand kann, als welchen persönlichen Hintergrund er hat?
Ja, ganz genau, denn dort bei ihm waren schon viele andere wie ich. Das ging auch, weil Kusnezow eine Freikarte von der Regierung für seine Arbeit hatte, und so hat Kusnezow damals auch einen Ausweg für viele jüdische Wissenschaftler geschaffen. In dieser Zeit waren auch die deutschen Wissenschaftler dort.
Wie war das dort, mit den deutschen Wissenschaftlern zusammen zu sein?
Sehr gut war das. Wir sind freundlich miteinander umgegangen, und es war eine sehr schöne Zusammenarbeit.
Hat man da schon davon geträumt, gemeinsam zu den Sternen zu fliegen?
Nein, wir haben praktisch begonnen, Triebwerke zu bauen, Gasturbinen und so weiter.
Für Flugzeuge oder Raketen?
Für Flugzeuge. Das mit den Raketen beginnt mit dem Raketentriebwerk Junker Jumo-004. Wir hatten verschiedene Ingenieurbüros und bekamen die deutschen Triebwerke von Junker und BMW. Wir begannen mit verschiedene Leistungstests, um größere Leistungen zu bekommen und haben damals bereits auch schon ein paar gebaut.
Haben damals die Werke des Raumflugvisionärs Ziolkowski für Sie eine Rolle gespielt? Haben Sie diese gelesen und haben Sie sich mit ihren Mitstudenten darüber unterhalten?
In der damaligen Zeit gab es nicht nur Ziolkowski, sondern auch andere. So sprach man schon vorher von einem russischen Mönch, der geflogen ist und alles mögliche gemacht hat. Erst heute sieht man Ziolkowski als die zentrale Figur einer Mischung von vielen Personen, die über so etwas geschrieben haben. Normal wäre jedoch, daß man die Ideen dieser ganzen Leute als das wichtigste ansieht. Viel wichtiger war für uns damals, was wir praktisch tun konnten. Die deutschen Wissenschaftler waren da; sie hatten ihr ganzes Wissen dabei und haben uns gezeigt, daß es möglich wäre, diese Dinge zu tun.
Ich fragte nur aus dem Grund, weil S. P. Koroljow schrieb, daß er Ziolkowski 1929 getroffen hätte und danach zu der Überzeugung gekommen sei, zum Mond zu fliegen. Im damaligen Deutschland war eine solche Person Hermann Oberth gewesen, dessen Werke viele Leute inspirierte und die nun alles versuchen wollten, einen Mondflug möglich zu machen.
Ja, das ist Koroljow, aber außer ihm gab es auch noch andere. Ich kannte Koroljow und er mich auch, aber Ziolkowski war für uns nur ein Name.
Wie kam es dann zur Veränderung der Arbeit weg von Flugzeugturbinen und hin zu Raketentriebwerken?
Das ist eine interessante Frage. Nach dem Jumo-004, an dem wir nur ein paar Jahre arbeiteten, waren wir mit Turbinenschrauben für Gasturbinen beschäftigt. Das war sehr erfolgreich, und bauten dann ein Triebwerk. Insgesamt bauten wir 93 Triebwerke, wie ich vorhin bereits gesagt habe. Dann haben wir das Triebwerk für die russische Concorde, die TU-144 (ein Überschallflugzeug) gebaut. Danach arbeiteten andere Leute in anderen Büros in Moskau usw. an verschiedenen Triebwerken, auch an Raketentriebwerken, aber wir wußten davon nichts.
Kusnezow kannte den Namen Koroljow noch nicht, denn alles war ja streng geheim, und plötzlich sollte für die große Rakete N1 ein besseres Triebwerk mit 1500 Tonnen Schubkraft gebaut werden. Er vergab dann den ersten Entwurf für das Triebwerk an W. P. Gluschko,4 der sich dann mit Koroljow darüber stritt, daß dieser Entwurf nicht umzusetzen sei. Koroljow sagte sich dann, daß er es besser ohne Gluschko machen müßte, und suchte nach jemanden, der es baut. Er war mit Tupolew befreundet, und dieser riet ihm, sich mit einem jungen Konstrukteur namens Kusnezow zu treffen. Kusnezow hätte ein junges, sehr energisches Team und daß er wahrscheinlich den Auftrag annehmen werde. Wir hatten keinerlei Erfahrung mit so etwas.
Wir hatten nur unser Wissen von der Arbeit an dem Jumo-004, aber man brauchte jetzt die 10fache, 20fache oder 30fache Größe davon, und wir begannen daran zu arbeiten. Wir waren alle jung, und die Deutschen waren bereits 1954 wieder nach Hause zurückgekehrt.
1959 fand das erste geheime Treffen mit Koroljow in Samara statt. Auf einmal kam ein Mann namens Sergejew zu uns und schaut sich alles an. Wir haben uns angeschaut und uns gefragt, was ist das für ein Mann, der das alles hier kennt? Nachdem er sich alles angeschaut hatte, sagte er, macht bitte dieses Triebwerk, und unserer ganzes Team sagte, ja wir machen das.
Und jetzt zu ihrer Frage nach der Begeisterung: Die kam jetzt, aber nicht über den Mondflug Ziolkowskis, sondern über die neue Aufgabe – darüber wie man ein 20–30mal größeres Triebwerk bauen soll.
War das gleich zu Beginn die NK-33 oder gab es da schon etwas vorher?
Nein es gab gar nichts vorher. Wir haben von Null angefangen. Wir haben dann gelesen, gerechnet und probiert, wir waren alle jung!
Das interessante an der NK-33 ist ja, daß sie einen geschlossenen Kreislauf hat. Die Amerikaner wollten das so nicht machen, weil es ihrer Einschätzung nach zu gefährlich war.
Das war auch die erste Streitfrage zwischen Gluschko und Koroljow. Koroljow brauchte aber den geschlossenen Kreislauf. Warum? Weil der Impuls 20 Prozent größer ist. 10 Jahre später hat dann Gluschko auch solche Triebwerke zu bauen begonnen, und noch einmal 15 Jahre später kam das Triebwerk RD-170 für die Energija raus, also erst 25 Jahre nach seinem Gespräch mit Koroljow.
Also erst 25 Jahre, nachdem er mit Koroljow gesprochen und den Auftrag damals angelehnt hatte, baute er solche Triebwerke, wie sie damals von ihm verlangt wurden – obwohl Koroljow und Kusnezow bereits solche Triebwerke gebaut hatten.
Erst war Gluschko dagegen, und erst 10 Jahre später begann er diese neuen Triebwerke zu akzeptieren, und noch 15 Jahre später hatte er das erste dieser Triebwerke fertig. Das ist der wichtigste Teil unseren ganzen Gesprächs. Gluschko war nicht nur nicht mit den neuen Triebwerken einverstanden, sondern er störte auch ihre Entwicklung. Er war ein großer Entwickler und Professor, aber auch verbissen über die Kusnezow-Triebwerke, und deshalb hat er das Schlechte getan. Als er 1974 als Nachfolger Koroljows antrat, war sein erster Befehl, daß alles, was bisher gemacht wurde, auf den Schrott kommt.
Aber Kusnezow hatte schon 100 Triebwerke fertig, und drei Raketen, Nummer 8, 9 und 10, warteten schon darauf, und all das sollte auf den Schrott. Kusnezow sagte aber, nein, die kommen nicht auf den Schrott, wir stellen sie unter und lassen sie dort warten. Und sie warten dort 20 Jahre und wurden von den Tauben zugeschissen, weil sie nicht gebraucht wurden. Dann wurden sie von den Amerikanern gekauft, und den Rest kennen Sie ja selbst.
Ja. Ab dann heißt die Weiterentwicklung des NK-33 RD180 und wurde der Antrieb der Atlas III.
Ja, der Atlas III, Titan II und man spricht über Sojus. Bei uns war damals Herr Thomson, der Vorgesetzte von Wernher von Braun, der sich die Triebwerke anschaute und fragte: „Wo sind die Rohre? Haben Sie sie noch nicht angeschraubt?” Dabei war alles schon fertig. Thomson war ja selbst Konstrukteur, war aber verwundert, weil die Triebwerke so kompakt waren.
In welchem Jahr war das?
Das war ca. 1995. Ich habe die Geschichte einmal gelesen und sie zeigt, wie verwundert die Amerikaner über unsere Triebwerke waren. Als man die Triebwerke dann prüfte, dachten sie und auch wir, daß nach 20 Jahren des Herumstehens die Triebwerke einfach explodieren werden. Denn normalerweise lautete der Befehl, Triebwerke nur 8,3 Jahre zu lagern, wenn man sie wiederverwenden will. Aber nach 20 Jahren, da waren wir alle der Meinung, daß sie explodieren werden. Also probierten wir sie erst mit kleiner Leistung aus, und es funktionierte. Das zweite Triebwerk probierten wir dann mit normaler Leistung aus, und es arbeitete auch ohne Probleme. Für die dritte Prüfung hatten die Amerikaner eine Tribüne für die Presse gebaut.
Das Triebwerk wurde aber nicht mit normaler Leistung betrieben, sondern man betrieb das Triebwerk, das noch nie zuvor gearbeitet hatte, mit 20 bis 50 Prozent über der normalen Leistung, und man sagte den Zuschauern, daß sie jetzt sehen werden, wie ein Triebwerk explodiert. Aber es passierte nichts dergleichen. Das war schon interessant: Da saßen die Leute, aber die Explosion kam nicht.
Da Sie Kusnezow kannten, wissen Sie ja, was ihn dazu verleitet hatte, dieses Projekt anzupacken, das kein anderer machen wollte?
Kein anderer hatte zugesagt. Lulka hatte abgesagt, Sebrek hatte abgesagt, Tomanski hatte abgesagt – sie sagten alle, nein, das können wir nicht machen. Das waren die Luftfahrtkonstrukteure, aber Kusnezow sagte, wir nehmen das an. Kusnezow war damals jung, war gut drauf und hatte seinem Team das einfach zugetraut. Das ist meine Empfindung dazu.
Man könnte wohl dazu sagen, daß es eine Mischung aus Begeisterung und Charakter auf Seiten Kusnezows war.
Ja, Charakter. Und er war furchtlos. Denn es gab auch immer wieder Unfälle, bei denen manchmal auch Leute umgekommen sind. Aber trotzdem sagte er, wir machen das und werden es auch schaffen.
Eine solche Einstellung macht ja gerade einen starken Charakter aus.
Er kam aus einfachen Verhältnissen und war auch immer eine einfache Person, dabei aber sehr motivierend. Er sagte, andere können das nicht, aber wir machen das.
Ja, so muß man wohl sein, um neue Technik zu entwickeln.
Nicht alle waren so. Die Konstrukteure mußten aber so sein und auch bereit sein, Menschenleben aufs Spiel zu setzen, denn es geht nicht anders. Man sagte bei uns, man müsse bereit sein, das Leben unter das Triebwerk zu legen.
Können Sie noch etwas dazu sagen, was es für Probleme bei dem Triebwerk gab? Denn es hat ja einen geschlossenen Kreislauf, was bedeutet, daß alles viel heißer ist und auch die Explosionsgefahr sehr hoch ist. Für das NK-33 mußte sogar ein neuer Stahl entwickelt werden, der den Temperaturen gewachsen ist.
Es gab Tausende Probleme. Es gab und gibt sie auch noch. Die Kühlung der Brennkammer zum Beispiel. Einige sagten, kühlt mit flüssigem Sauerstoff, wir sagten, nein, wir kühlen mit dem schwachen Kerosin, aber wir machen das geschlossen und haben es geschafft. Das war eines der Probleme. Wir hatten ein Sprichwort: Jeden Tag gibt es etwas, das zu dick oder zu dünn ist und nicht paßt.
Das heißt eigentlich, daß ein Triebwerk nie wirklich fertig ist.
Ja, es ist immer irgendwie nicht fertig, aber man muß es zuverlässig machen, und das ist das größte Problem, denn es muß immer gut funktionieren.
Sie sprachen davon, daß Triebwerke für die Raketen 8, 9 und 10 gebaut wurden, aber nie geflogen sind. Was ist mit den vorherigen Raketen der N1-Klasse 1–7 passiert?
Bei den ersten 6 gab es große Defekte und bei der 7. einen kleinen. Über die Defekte, die wir bei den Prüfungen von 1–7 fanden, könnte ich Ihnen viel erzählen; einige Defekte kamen von den Triebwerken, aber andere kamen von der Rakete selbst. Es wurde jedoch immer nur von den Triebwerken geschrieben. Warum? Weil Gluschko Parteifreunde hatte.
Ich habe auch gelesen, daß das größte Problem der russischen Raumfahrt das Zentralkomitee war.
Richtig. Und warum war das so? Weil sie zum Mond wollten; schneller, schneller, damit man zum politischen Jahrestag auch feiern konnte. Für das ZK hatte Kusnezow einen schlechten Charakter, denn als Beamter lief er immer vom Nacken bis zum Kinn rot an, wenn es darum ging, mit Leuten vom ZK über die Raumfahrt zu sprechen. Doch nur so konnte er dafür sorgen, daß etwas gemacht wurde.
Was war Ihre direkte Aufgabe beim Bau des Triebwerks?
Ich versuche, es zu erzählen. Alle meine Kollegen haben sich immer gefragt, was der Milchteine eigentlich macht, denn er arbeitet nicht, was macht er wohl? Ich hatte eine eigene Abteilung mit 65 Leuten, aber keiner wußte so recht, was wir machen. Wir produzierten keine Lager, keine Brennkammern… Nur wenige wissen, daß die Saturn V zweimal zerbrochen ist, bevor sie in den Weltraum geflogen ist.
Warum?
Das werde ich Ihnen gleich zeigen. Warten sie einen Augenblick … Zuerst werde ich einmal erzählen, wie eine fünfstufige Rakete fliegt: Sie verhält sich dabei, wie wir sagten, wie eine Matratze, weil sie sehr leicht in Schwingung gerät. Das kommt durch die Schwingungsresonanzen der Rakete.
Die Rakete kann auseinanderbrechen, wenn die Schwingung zu stark wird?
Ja. Und sehen Sie hier: So verhält es sich bei der Saturn V. Hier ist die Zeitachse und hier sehen Sie die Schwingungen. Kommt es dann plötzlich auf 170 Sekunden, sieht man, was passiert. Vergrößert sieht es so aus.
Was ist verantwortlich für die Schwingungen?
Das Triebwerk ganz allein ist dafür verantwortlich. Deshalb habe ich von Koroljow und Kusnezow die Aufgabe erhalten, alle Frequenzgänge des Triebwerks zu untersuchen und zu beschreiben. Das habe ich alles zusammen an die Leute Koroljows weitergegeben, das waren fast hundert Leute, die dann alles berechnet und ausprobiert haben. Das war also meine Aufgabe. Das, was wir da untersucht haben, heißt kurz gefaßt POGO-Effekt.
Ich habe also nicht direkt am Triebwerk gearbeitet, sondern hatte das fertige Triebwerk auf dem Prüfstand und mußte es 80 ganz verschiedenen Prüfungen unterziehen, um herauszufinden, welche Frequenz das Triebwerk hat und ergeben muß. Wenn etwas nicht stimmte, mußte man Gegenmaßnahmen treffen. Insofern war es schon berechtigt, daß sich die anderen Kollegen fragten, was wir eigentlich so treiben, da wir ja nichts direkt am Triebwerk gebaut haben, sondern nur verschiedene Parameter prüften.
Wissen Sie, wie viele Menschen insgesamt an der Entwicklung des NK-33 gearbeitet haben?
Ca. 25.000 Menschen. Und man sagt, das war sechsmal mehr als in der Autoindustrie.
Was finden Sie die interessanteste technische Frage bei diesem Triebwerk?
Ich weiß nicht, was Sie mit interessant meinen.
Vielleicht, was war die begeisterndste technische Frage?
Wir sind nicht begeistert, wir arbeiteten nicht in der Euphorie. Wir bekamen Aufgaben, und diese kamen vom Triebwerk. Man kann zum Beispiel sagen, daß es verschiedene Etappen von einem Jahr oder einem halben Jahr gab, wo wir in einem Abschnitt uns mit den Lagern beschäftigten und mit diesem Problem rangen und dann wieder zu einer anderen Zeit mit einem anderen Problem. Jedesmal kommt etwas, das die ganze Aufgabe erschüttert, denn unser ganzes Team wußte natürlich, was falsch gelaufen ist, wenn bei den letzten zwei Prüfungen das Triebwerk explodiert war. Aber zu Beginn unserer Arbeit gab es noch keine Triebwerke, an denen man bei Betrieb rumprobieren konnte, und deshalb war es ein beträchtlicher Rückschlag, wenn man von neuem beginnen mußte, weil das Triebwerk aufgrund eines Fehlers explodiert war. Erst später hatten wir und auch die Amerikaner Triebwerke, an denen man Dinge ausprobieren konnte, ohne jedesmal das gesamte Triebwerk zu verlieren.
Ich kann nicht darauf antworten, wenn mich jemand fragt, was mich interessiert. Das ist eine belletristische Frage.
Ich möchte an dieser Stelle sagen, daß ich eigentlich froh bin, wenn Sie sagen, daß es in diesem Sinne nichts Begeisterndes gab, denn das ähnelt sehr dem, was Wernher von Braun sagte, als er meinte, er sei Techniker und freue sich über alles, was er jeden Tag aufs neue mache, und jedes Problem, das er lösen könne, sei gleichwertig und gut.
Genau. Ich habe das zwar nicht gewußt, aber genau das ist das normale Empfinden. Wenn wir in Baikonur eine Prüfung mit unserem Triebwerk und der Rakete absolvierten und alles geklappt hatte, dann haben sich alle vor Freude geküßt. Man kann also sagen, die Freude kommt nach der Arbeit und nicht währenddessen. Und so kommt auch erst die Begeisterung
danach.
Darf ich Sie noch fragen, wie Sie es empfunden haben, als man diese Projekte in Rußland dann aufgegeben hat?
Es war unfair. Unser Team hatte Jahre daran gearbeitet, zum Mond fliegen zu können. Was kann man sonst dazu sagen? Es ist wieder eine belletristische Frage. Ich kann nur sagen, was ich anschließend gemacht habe. Ich bin an die Hochschule gegangen und habe Vorlesungen über Baumechanik gehalten, denn wenn man eine Brücke baut, ist es wichtig zu wissen, was passiert, wenn man schnell oder viel über sie fährt – wegen der Schwingungen, die dabei entstehen –, und wie sich das auf die Festigkeit der Brücke auswirkt. Ich arbeitete dann zwei Jahre in der Ölindustrie und war anschließend sechzehn Jahre an einer Hochschule als Lehrer für Wahrscheinlichkeitstheorie tätig.
Auf einer Raumfahrtkonferenz in Berlin hat Jim Adams von der NASA vor kurzem per Internetschaltung – er und seine Kollegen konnten wegen der Budgetkürzungen der NASA nicht persönlich anreisen – von einem zweiten Raumfahrtzeitalter gesprochen, für das in den jungen Menschen von heute Begeisterung erzeugt werden müsse. Dabei ist sehr wichtig, daß die Arbeit, die innerhalb einer Gesellschaft geleistet wird, immer auch an dem Ziel bemessen ist, das die Gesellschaft verfolgt. So mag ein Techniker, der einen Motor für einen Rasierer baut, zwar ein guter Techniker sein, aber es ist doch etwas anderes, ob ich einen Motor für einen Rasierer oder für eine Rakete baue.
Ich selbst möchte als junger Mensch auch dazu beitragen, daß die Begeisterung darüber, große Dinge zu tun, wieder in der Jugendgeneration entzündet wird. Denn ich sehe viele Jugendliche, die überhaupt nicht von diesen Dingen begeistert sind, selbst wenn sie mit ihnen vertraut sind. Sie fragen sich einfach: Warum sollen wir das machen? Warum sollen wir Probleme lösen und was interessieren mich schon Raketentriebwerke? Also die Begeisterung, Probleme zu lösen, ist heute kaum mehr vorhanden.
Einer unserer Konstrukteure sagte einmal, wir sind schon bereit, ein Haus auf dem Mond zu bauen und einen Laser darin einzurichten, damit wir die Welt nach Belieben beschießen können. Das kann bei der Jugend nichts Gutes erzeugen. Das Problem ist die Zielsetzung. Ist sie auf den Menschen ausgerichtet, um für ihn etwas besser zu machen, indem man auf dem Mond zum Beispiel neue Elemente findet, oder will man nur auf den Mond, um die Erde von dort aus beschießen zu können? Letzteres kann keine jungen Menschen begeistern. Damals herrschte der Kalte Krieg, und da wollte man eher die Amerikaner beschießen als etwas anderes. Und so hatte man auf der einen Seite die Technik, die mich interessierte, und auf der anderen Seite die Frage, wozu wir sie nutzen.
Das Interessante ist aber, daß es selbst im Kalten Krieg Menschen wie Krafft Ehricke gab, der die Atlas- und Centaur-Raketen mitentwickelte, der Deutscher war und später in Huntsville arbeitete. Er sprach davon, daß der Mond unser siebter Kontinent ist.
Ja natürlich! Auch der Mars könnte ein neuer Kontinent sein.
Krafft Ehricke war in diesem Punkt wirklich besonders, weil er sagte, es gebe eine Notwendigkeit für den Menschen, den Weltraum zu erschließen.
Nein, ich glaube nicht, daß wir fliehen müssen. Wenn vielleicht Asteroiden kommen, kann man auf dem Mars genauso gut sterben wie auf der Erde.
Das meinte ich damit nicht. Krafft Ehricke sprach von der Notwendigkeit, weil wir Entdecker sind.
Nein, das sind mir zu hohe Motive, darum kümmere ich mich nicht. Ich habe nicht davon geträumt, auf dem Mond zu sein, während ich arbeitete, denn ich wußte ja, daß ich da nie hinkommen werde. Natürlich gab es andere, die daran gedacht haben, ich aber nicht. Die Technik hat mir völlig gereicht, sie reicht auch alleine, um begeistert zu sein.
Dann möchte ich mich bei Ihnen recht herzlich für dieses sehr aufschlußreiche Interview bedanken.
Fußnote(n)
- Religiös geprägte Hausschule durch den Rabbiner.[↩]
- Russischer Raketenwerfer Katjuscha, hatte von den Deutschen den Spitznamen Stalinorgel bekommen.[↩]
- Nikolai D. Kusnezow, russischer Ingenieur und Triebwerksbauer.[↩]
- Anmerkung der Redaktion: 1938 denunzierte Gluschko Koroljow bei der Regierung, was dafür sorgte, daß dieser für 6 Jahre in ein Gulag kam und damit Gluschkos schärfster Konkurrent vorerst ausgeschaltet war. [↩]