Von Wissenschaft und Wahrheit – Information ist nicht Wissen

Überlegungen zur zunehmenden Ideologisierung der Wissenschaft anhand des Buchs von Dieter Köhler und Frank Lübberding „Wie Wissenschaft Krisen schafft“.


Wer sich heutzutage der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlt, kommt nicht umhin, sich an Friedrich Schillers Charakterisierung des Brotgelehrten und des kreativen Wissenschaftlers zu erinnern. Letzterem geht es stets darum, etablierte Denkgebäude zu hinterfragen und notfalls einzureißen, um sie weniger unzureichend wieder aufzubauen, während sich der Brotgelehrte mit seinem begrenzten Wissen begnügt und geradezu argwöhnisch darauf achtet, sein Fachgebiet gegen jedwede Infragestellung oder gar Veränderung zu verteidigen. Die Hoffnung, Schillers Beobachtung sei lediglich eine Erscheinung seiner Zeit gewesen und sei in der „Informations- und Wissensgesellschaft“ des 21. Jahrhunderts ein Fremdwort, ist eindeutig ein Trugschluß. Offenbar liegt dies am Unterschied zwischen „Information“ und „Wissen“, was wir im weiteren Verlauf genauer untersuchen wollen. Denn leider werden diese beiden Begriffe heutzutage praktisch synonym verwendet, anstatt ihren Wahrheitsgehalt deutlich voneinander zu trennen.

An einem konkreten Beispiel der jüngsten Zeit – dem vor gut einem Jahr erschienenen Buch „Wie Wissenschaft Krisen schafft“1 – läßt sich dies sehr gut aufzeigen. Die Autoren, der Journalist Frank Lübberding und der Lungenmediziner Prof. Dr. Dieter Köhler, unterziehen hierin die Epidemiologie in zwei Unterbereichen einem schonungslosen Praxistext, wie es im Untertitel bereits heißt: der COVID-19-Problematik (auf die wir hier nicht weiter eingehen wollen) und der aktuellen Debatte um die Belastung der Außenluft mit Feinstaub und Stickoxiden.

Einer der Auslöser der Debatte um die Schadstoffbelastung in den Großstädten war der Skandal um die manipulierten Abschalteinrichtungen der Abgasregulierung neu entwickelter Fahrzeugtypen, mit der die Autoindustrie den zunehmend rigiden Abgasauflagen der EU genügen wollte. Dementsprechend war die öffentliche Meinung schon vorbelastet, denn den umweltverpestenden Autokonzernen könne ohnehin nicht getraut werden. Die Debatte wurde nun noch weiter aufgeheizt, als plötzlich einer daherkam, der die von Umweltverbänden wie der Deutschen Umwelthilfe geforderten Fahrverbote in verkehrsbelasteten Innenstädten in Frage stellte. Dieser jemand konnte ja nur ein moralisch und/oder geistig degenerierter Lobbyist der Großkonzerne sein, der seinen persönlichen Profit über das Wohlbefinden heutiger und zukünftiger Generationen stellt – eben jener Prof. Dr. Köhler. Als Köhler dann auch noch ein „dramatischer Rechenfehler“ in seinen Analysen vorgeworfen wurde, schien seine Position endgültig hoffnungslos und die Diskussion klar entschieden zu sein.

Im Rückblick auf seine Medienerfahrungen, die er während dieser öffentlich geführten Auseinandersetzungen gemacht hatte, verfaßte dieser Häretiker der „wahren Lehre“ das oben erwähnte Buch. Als langjähriger Leiter einer Klinik für Lungenheilkunde war Köhler dank seiner umfassenden Kenntnisse und Erfahrungen der entsprechenden Auswirkungen aller möglichen Arten und Konzentrationen von Gasen, Stäuben und Aerosolen auf die Organe des Atmungstraktes geradezu prädestiniert dafür, bei Symposien, Fachtagungen und auch juristischen Verhandlungen zu diesen Themen als Gutachter herangezogen zu werden.

Am Rande eines solchen Symposiums begann im Februar 2018 der „Skandal“, als Köhler vor Beginn dieser Tagung über Abgas- und Partikelemissionen in Ludwigsburg einem Rundfunkteam ein Interview gab, in dem er seine Einschätzung zum sehr moderaten Gefahrenpotential von Feinstaub und Stickoxiden erläuterte. Sein Hinweis darauf, daß er für den Vortrag auf der Tagung weder Spesen noch Honorar bekommen würde, blieb ebenso unerwähnt, wie seine profunden Kenntnisse auf diesem Gebiet, weil das Interview gar nicht erst ausgestrahlt wurde. Allerdings waren aufgrund der aufgeheizten Debatte um die Manipulationen der Autoindustrie mehrere andere Medienvertreter vor Ort, die Köhlers Positionen derart aufbauschten, daß die ganze Story urplötzlich aus der reinen Fachwelt Eingang in die Massenmedien fand.

Köhler avancierte dementsprechend von einem Tag auf den anderen vom Lungenspezialisten zum Kronzeugen der Raubtierkapitalisten, obwohl es ihm ausdrücklich um die Abwägung gesellschaftlicher Interessen – hier zwischen den Erfordernissen heutiger Mobilität und denen der Volksgesundheit – ging. Hierbei vertrat er in erster Linie die Position eines verantwortlichen Staatsbürgers, der sich letztlich am Allgemeinwohl orientiert.

Genau dieser Aspekt ist der heutigen Riege der Massenmedienvertreter jedoch völlig abhanden gekommen, denn sonst hätte eine derartige Hexenjagd gegen Köhler, wie sie in den folgenden Wochen und Monaten vom Zaun gebrochen wurde, sicherlich nicht stattgefunden. Zunächst wurde dem Massenpublikum die „einzig wahre“ Position erläutert und als alternativlos dargestellt; wenn sich die Gegenposition nicht mehr verbergen ließ, wurde sie skandalisiert und deren Vertreter in Talkshows oder in Interviews mit Adepten der „reinen Lehre“ niedergemacht oder als Reichsbürger bzw. Holocaustleugner denunziert. Falls auch dies nicht zum angestrebten Rufmord hinreichte, wurde das Thema in einer Weise zugespitzt und verzerrt, daß selbst der nüchternste und zurückhaltendste Beobachter nicht mehr wußte, was er darüber denken sollte.

Auftritt Umwelt-Epidemiologie

Köhler bezeichnete sich im Nachhinein als zu naiv, weil er an eine ergebnisoffene Wahrheitssuche in der Auseinandersetzung mit diesen Medienvertretern geglaubt hatte. In Bezug auf das eigentliche Thema, die Frage nämlich, ob Fahrverbote ab bestimmten Schadstoff-Grenzwerten für Feinstaub und NO2 gerechtfertigt und verhältnismäßig seien, trug diese Auseinandersetzung wenig zur Klärung bei. Allerdings geriet hier nun eine bisher weitgehend unbekannte Berufsgruppe in den Fokus der Öffentlichkeit: die Epidemiologen – genauer gesagt, die Umwelt-Epidemiologen. Diese in den letzten Jahren geradezu exponentiell angewachsene Fachrichtung vertritt – nicht sonderlich überraschend – beinahe alle Positionen der Umweltlobby in Politik, Wissenschaft und Medien. Dabei fällt auf, daß hierbei die Standards wissenschaftlicher Arbeit durchweg sehr großzügig ausgelegt werden, wenn es darum geht, dem hehren Ziel des Klima- und Umweltschutzes zu dienen.

In diesem Zusammenhang hat sich eine zunehmend auf sich selbst bezogene verschworene Gemeinschaft gebildet, die von den Medien als alleinwissend dargestellt und von der Politik hofiert wird – vergleichbar den Priesterkasten des Altertums, die als Eingeweihte den heiligen Gral ihrer Geheimwissenschaften beschützt. Dazu paßt die mediale „Einschätzung“, daß 97,1 % der Umweltwissenschaftler inzwischen davon überzeugt seien, daß der Mensch seit Beginn der Industrialisierung der maßgebliche Verursacher des Klimawandels wäre.

Schilder wie diese, die Dieselfahrzeugen die Durchfahrt untersagten, sind zum Glück aus den Städten weitgehend wieder verschwunden. Bild: Wikimedia Commons/Hinnerk11

Abgesehen von der Tatsache, daß es bei naturwissenschaftlichen Fragestellungen weder um demokratische Meinungsfindungen noch um bindende Mehrheitsentscheidungen geht, sondern um die konkrete Überprüfung des Wahrheitsgehalts einer Forschungshypothese, zeigt sich daran auch sehr anschaulich der Staffellauf von der „Wissenschaftsgemeinde“ über die Medien bis hin zur politischen Gesetzgebung.

Im Gegensatz dazu sieht Köhler seine methodische Herangehensweise in der „evidenzbasierten Wissenschaft“. Seiner Ansicht nach sollte sich der Forscher mit der Überprüfung und Fehlereliminierung innerhalb der eingefahrenen wissenschaftlichen Dogmen beschäftigen, die sich besonders auch in der Medizin – seinem Fachgebiet – im Laufe der Jahrhunderte immer wieder eingeschlichen haben und zu teils liebgewonnenen und deshalb oft unhinterfragten Lehrsätzen geschrumpft sind. Gerade auf dem Forschungsgebiet der Epidemiologie, sei es nun im medizinischen oder im Umweltbereich, ist diese Tendenz zur ideologischen Dogmatisierung besonders weit fortgeschritten. So führen Köhler und Lübberding bereits im Vorwort ihres Buches das treffende Beispiel von Ignaz Semmelweis an, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage stellte, warum so viele Mütter im Kindbett an Infektionen verstarben. „Mit der Unmittelbarkeit des gesunden Menschenverstandes“, so schreiben sie, „suchte er… nach den Ursachen“. Er fand sie in den ungewaschenen Händen der Ärzte, stieß dabei jedoch auf massive Widerstände, wenn es darum ging, die althergebrachte Praxis zu ändern. Ähnlich verhielt es sich mit vielen anderen Krankheiten, deren Ursachen möglicherweise schon lange bekannt waren, jedoch oft erst nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten Eingang in die Schulmedizin fanden.

Der islamische Gelehrte Ibn Sina, dessen Werke zur Medizin, Astronomie und Mathematik über viele hundert Jahre die Ärzte auch hier im Abendland anleitete, hatte bereits im 11. Jahrhundert erkannt, wie wichtig Hygiene und Quarantäne bei der Bekämpfung von Seuchen sind. Seine Erkenntnisse sind teilweise bis auf den heutigen Tag noch nicht vollständig in der Seuchenbekämpfung umgesetzt, wie wir in der jüngsten Pandemie erleben mußten.

Auf den Bereich der Umwelt-Epidemiologie bezogen, sollte uns Köhlers Forschungsansatz hoffnungsfroh stimmen, gleichzeitig aber auch eine Warnung vor einer Ideologisierung der Wissenschaft sein, denn es ist eine gefährliche Verirrung, wenn dieser Forschungsbereich von der oft behaupteten, aber nie bewiesenen These ausgeht, der Mensch sei nur dann „umweltverträglich“, wenn er sich ihr unterordne.

Jedenfalls hat Köhler in der Meinungsschlacht um die Schadstoff-Grenzwerte und Fahrverbote einen wichtigen Erfolg verbucht. Trotz des eindeutigen „rhetorischen Sieges“ der Umweltverbände und ihrer medialen Unterstützer war das juristische und politische Ergebnis eine Abschwächung des Bundesimmissionsschutzgesetzes in dieser Hinsicht und die Nichteinführung vieler Fahrverbote zum Beispiel im Großraum Essen – auch wenn das von den Medien nicht an die große Glocke gehängt wurde. (Eine Ausnahme bildete die Stadt Stuttgart, deren grüne Stadt- und Landesregierung an den Verboten festhielt). Fahrverbote zur Einhaltung der Grenzwerte seien völlig unverhältnismäßig angesichts der massiven Mobilitätseinschränkungen für die Bevölkerung, entschied u. a. das Oberverwaltungsgericht Münster. Ein signifikant erhöhtes Gesundheitsrisiko könne bei derart niedrigen Schwellen- und Grenzwerten nicht begründet werden. Im Gegensatz dazu, so das Fazit von Köhlers Buch, ergäben sich Gesundheitsbeeinträchtigungen in viel größerem Ausmaß beim regelmäßigen Rauchen; dabei seien die Partikel- und Gaskonzentrationen tausend- bis zehntausendfach höher als selbst bei den am stärksten belasteten Verkehrshotspots in Deutschland. Darüber hinaus enthalte Zigarettenrauch zahlreiche toxische und krebserregende Stoffe. Demgegenüber seien die Luft- und Partikelfilter moderner Fahrzeugmodelle inzwischen so gut, daß die Abluft gegenüber der angesaugten Außenluft sogar noch sauberer sei.

Es bleibt zu hoffen, daß sich auch zukünftig genügend unerschrockene Wissenschaftler finden, die Schillers kreativem Kopf nacheifern, anstatt sich nur des Brotes wegen gelehrt zu geben!

Fußnote(n)

  1. Dieter Köhler, Frank Lübberding, „Wie Wissenschaft Krisen schafft – Epidemiologie im Praxistest: Feinstaub, Stickoxide, Corona & Co“, 222 Seiten, agenda-Verlag, Münster, 2021, ISBN 978-3-89688-707-8.[]