Warum jeder von uns Gauß verstehen sollte

Unter dem Einfluß von LaRouches Ideen entwickelt sich aus der bisherigen No-Future-Generation eine Renaissance-Generation. Sky Shields, ein Mitglied der LaRouche-Jugendbewegung, gibt einen Eindruck der pädagogischen Arbeit.


Im Frühjahr 2003 fanden für die Jugendaktivisten von Lyndon LaRouches Präsidentschaftswahlkampf fünf Wochenendseminare statt, und zwar drei in den USA (Los Angeles, Philadelphia und Seattle), und jeweils eines in Deutschland und Mexiko. Jedes dieser intensiven Wochenendseminare begann mit einer kurzen Ansprache von LaRouche (teilweise über Telefonzuschaltung), gefolgt von einer langen Frage- und Antwortperiode. Dabei ging es um die wichtigsten Fragen der Philosophie, Wissenschaft, Geschichte und Kunst. Jedes Mal fand auch ein „pädagogisches Fest“ statt, bei dem die Jugendlichen selbst ausgearbeitete Beispiele grundlegender physikalischer Prinzipien vorstellten.

Dieser Prozeß intensiver wissenschaftlicher Arbeit begann bereits vor einigen Jahren, als eine kleine Gruppe von uns in Los Angeles LaRouches Herausforderung annahm, Carl Friedrich Gauß‘ Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra von 1799 durchzuarbeiten.1 LaRouche forderte uns auf, „der Wahrheit nachzuspüren“, d. h. sich nicht damit zufrieden zu geben, wie in der Schule nur vorgetragenes Wissen nachzubeten. Jeder von uns sollte fähig sein zu wissen, wie neues Wissen entsteht. Zur Einleitung dieses Prozesses schien LaRouche Gauß’ Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra von 1799 am besten geeignet.

In seinem Beweis von 1799 zeigte Gauß, daß im Gegensatz zu den Lügen eines Euler, Lagrange und der Kriegstreiber in der Bush-Regierung weder die Mathematik noch das Universum auf eine Reihe apriorisch festgelegter Axiome und Postulate reduziert werden kann, auf deren Grundlage sich die Geschichte zwangsläufig von selbst entfalten würde; Abweichungen davon seien nur auf das mystische Eingreifen kleiner grüner Männchen oder die gewalttätigen Ausbrüche von Willkürakten Nietzscheanischer Mathematiker und Möchtegern-Imperialisten zurückzuführen, die diese hervorgebracht haben.

Anfänglich versuchten wir, in einer kleinen Kerngruppe einen gewissen Grad an Kompetenz zu erreichen, um wenigstens die wichtigsten Passagen verstehen zu können. Daraufhin wollten wir unsere Erkenntnisse in der gesamten Jugendbewegung verbreiten, um die geistigen, moralischen und strategischen Wirkungen zu erreichen, die LaRouche anstrebte. Unser Plan wurde jedoch viel früher von den Entwicklungen überrollte, als wir gedacht hatten. Als nämlich die anderen aus der Jugendbewegung hörten, daß die Arbeit an dem Gauß-Papier begonnen hatte, bestanden sie darauf, die Arbeitsgruppe auszuweiten.

Uns wurde bald klar, daß das Problem, den Fundamentalsatz der Algebra durchzuarbeiten, nicht nur ein Problem des Fundamentalsatzes war. Er steht nämlich in einem umfassenden historischen und geistigen Kontext, einer Art „Geometrie“, die zuerst verstanden werden mußte. Ein Großteil dessen, was wir wissen mußten, um Gauß‘ Durchbruch im Rahmen der historischen Auseinandersetzung und in seiner epistemologischen Bedeutung richtig einzuordnen, war in der pädagogischen Serie „Riemann for Anti-Dummies“ von Bruce Director enthalten. Grundlage dieser Serie war die Mathematik Bernhard Riemanns und dessen Lehrers Carl Friedrich Gauß, die man beherrschen muß, um die LaRouche-Riemann-Methode wirtschaftlicher Prognosestellungen zu verstehen. Damit haben wir einen Prozeß eingeleitet, den zu verlangsamen es in den nächsten zehn oder mehr Jahren, niemals einen Grund geben sollte.

Was ist eigentlich Algebra?

Ein Beispiel: Was ist eigentlich das System Algebra, das Rechenkünstler wie Lagrange und Euler so gründlich mystifiziert haben? Ist Algebra wirklich nur die abgeleitete Reihe von Umwandlungsregeln für Symbole, die man uns wie abgerichteten Zirkustieren im Mathematikunterricht beigebracht hat? Als Heilmittel gegen eine derartige Abrichtung besorgten wir uns eine Ausgabe des ursprünglichen antiken Algebrabuches Hisab al’Jabr w’al Maqabala von Al Kwarizmi, um dessen System, das al’Jabr, zu verstehen, da uns klar war, daß Gauß dieses physikalische System bis an seine Grenzen getrieben hatte, um den Schritt in den nächsten, „höheren Raum“ zu erzwingen.

Eine Gruppe von Studenten begann sich Kapitel für Kapitel durch Gauß‘ Disquisitiones Arithmeticae hindurchzuarbeiten, an denen Gauß zur gleichen Zeit wie an dem Fundamentaltheorem gearbeitet hatte (beide Arbeiten entstanden, als er um die zwanzig Jahre alt war). Einige der Gruppen arbeiteten neben den jede Woche angesetzten regulären Studiengruppen oft bis zwei oder vier Uhr morgens intensiv und zumeist informell an den pädagogischen Projekten. Je intensiver dieser Vorgang vorangetrieben wurde, desto schneller stießen wir an zwei wichtige Probleme: 1. Auf einen oder zwei, die unterrichten konnten, kamen viel zu viele Teilnehmer, und 2. viele kamen einfach nicht mit der Mathematik zurecht.

Das erste der beiden Probleme war natürlich erwünscht, da es auch bei jedem gesunden Wirtschaftsprozeß auftaucht. Es wurde durch die Einführung einer pädagogischen Einrichtung, das sogenannte „Brigaden-System“ gelöst, das ein anderer unserer Berater, Jonathan Tennenbaum, nach Vorbild der französischen Ecole Polytechnique unter Gaspard Monge und Lazare Carnot am Ende des 18. Jahrhunderts empfohlen hatte.

Diese Frage des Unterrichtens bzw. der pädagogischen Komposition verdeutlichte, daß das jeweilige Diskussionsthema stets eine eigene Idee und nicht nur eine Abfolge von Aussagen ist, die sich wie die Noten eines Musikstücks aneinanderreihen lassen, um eine Idee zu transportieren. Damit sollte erreicht werden, daß sich bei den jugendlichen Aktivisten eine „Produzentenidentität“ entwickelte, anstatt den Stoff nur zu „konsumieren“. Ein Konsument hat zur Außenwelt nur eine einfache Objektbeziehung. Seine Welt besteht aus einer Reihe von Gegenständen des Verlangens oder des Unbehagens und Symbolen wie denen in den Lehrbüchern der Algebra, die vom physikalischen Universum abgetrennt sind und nach bestimmten Regeln gehandhabt werden müssen, um zu gewünschten Ergebnisse zu gelangen.

Der Produzent hingegen kann den gesamten Entwicklungsprozeß überblicken, der sich in einem Erzeugnis ausdrückt, worin der Verbraucher lediglich einen „Kaufgegenstand“ sieht. Der eigentliche Gegenstand des menschlichen Denkens sollte die Frage sein, ob Wirtschaftsgeschichte und menschliche Anstrengungen ein Produkt hervorbringen, oder auch, ob sich aus der Geschichte menschlicher Anstrengungen im Gefolge einer Idee eine bestimmte Mathematik ableitet. In dem Maße, wie in der gesamten Bewegung ein solches Verständnis geweckt wurde, entwickelte sich ein viel schlagkräftigerer Kreis an Lehrkräften, als wir es sonst gekonnt hätten.

Erziehung für alle

Das zweite Problem war ein viel hinterhältigeres. Unsere Organisation ist zwar in vielerlei Hinsicht einmalig, doch eine Eigenschaft fällt besonders auf: Die LaRouche-Aktivisten stammen aus fast allen nur denkbaren Gesellschaftsbereichen. Die eigentlich einzige Vorbedingung, sich der Kampagne anzuschließen, ist der Wille, sich für die gesamte Menschheit einzusetzen. Wir sind der lebende Beweis des Prinzips, das der amerikanischen Verfassung zugrunde liegt, nämlich daß „alle Menschen gleich geschaffen sind“ daß alle Menschen mit der genau gleichen Befähigung zur menschlichen Vernunft, zum Wahrnehmen, Erzeugen und Weitergeben schöpferischer Entdeckungen geboren werden. Deshalb sind die Leute, die an unseren Projekten mitarbeiten, überwiegend keine „Schmalspurwissenschaftler“, sondern Leute, die eine solche Weltsicht als Teil eines höheren, universelleren Studienganges sehen.

Ein solches Verständnis zu bestärken, ist nicht leicht. Die meisten heutigen Studenten haben schon in ihrer Schulzeit eine so gründliche sozialdarwinistische Gehirnwäsche erlebt, daß sie sich psychologisch gegen gewisse Themen sperren. Mathematik ist möglicherweise der am weitesten verbreitete Block. Aber Ähnliches gilt auch für alle anderen sogenannten „Fächer“. Äußerungen wie „Mir liegt Mathematik nicht“, „Ich kann mit Geschichte nichts anfangen“, „Mir fehlt die künstlerische Ader“ oder „Ich mache mir nichts aus Politik“ gelten nach heutigen gesellschaftlichen Normen als völlig normal. Doch solche Aussagen sind völlig absurd.

Alle Menschen, alle Kinder, haben eine natürliche Neugier auf alles, was um sie herum vorgeht. Es muß eine Art Jugendtrauma geschehen sein, wenn sie plötzlich verschiedene Themen ausblocken.

Der Mathematikunterricht ist oft eine solche traumatische Erfahrung. Er hat von der Grundschule bis zum Gymnasium meistens den gleichen darwinistischen Charakter wie die Abrichtung von Hunden. Statt die großartigsten Ideen der menschlichen Geschichte nachzuvollziehen und diesen Prozeß zum Gegenstand geistiger Arbeit zu machen, werden die Schüler auf Kunststücke gedrillt (wobei es zugegebenermaßen manchmal zu erstaunlichen mechanistischen Rechenfähigkeiten kommt) und dafür mit guten Noten belohnt. Einige schaffen es zu preisgekrönten Rassehunden, die dann in eine Mathezuchtanstalt weitergereicht werden, um sich unter dem wachsamen Auge eines Professors oder eines peer review board fortzupflanzen. Andere schaffen den Schnitt nicht, ihnen wird dann empfohlen, lieber Geisteswissenschaften (oder gleich Hauswirtschaft) zu studieren.

Heraus kommt dabei schließlich, daß niemand Mathematik versteht und nur ein paar wenige auf Befehl großartige Rechenkunststücke aufführen können. Der Rest endet mit unterschiedlichen traumatischen Erlebnissen. Beide Unarten müssen behoben werden, um eine wirkliche wissenschaftliche Revolution zu erreichen.

Dabei hilft den Mitgliedern die pädagogische Arbeit mit Gauß und anderen Projekten auf mehrfache Weise, auch als eine Art Psychoanalyse. Die Lösung des zweiten Problems diente dazu, das erste zu verschärfen. Mitglieder der Jugendbewegung, die noch vor sechs Monaten vor wissenschaftlicher Arbeit zurückgeschreckt sind, entschieden sich nun einzusteigen und müssen nun dazu gebracht werden, den Anschluß an die anderen zu finden.

Diese Entwicklungen kamen vor allem auf der „Kaderschule“ in Los Angeles zur Geltung und stieß einen weiteren Phasensprung an. Jonathan Tennenbaum legte der LaRouche-Jugendbewegung eine Art „Einkaufsliste“ pädagogischer Demonstrationen vor. Dazu gehörten folgende Projekte:

  • Konstruktionen, um Keplers Bestimmung der Planetenbahnen zu veranschaulichen;
  • Versuchsanordnungen zu Fresnels optischen Experimenten;
  • Abraham Kästners bahnbrechende Arbeit in der Mathematik, die Gauß und später Riemann hervorbrachte;
  • Konstruktionen zu Leonardo da Vincis und Luca Paciolis Arbeiten über die Platonischen Körper und den Goldenen Schnitt;
  • Einführung in Gaußens Arbeit über die Kreisteilungen;
  • Apparate, mit denen sich da Vincis Arbeit über Wellen veranschaulichen lassen. Seine Arbeiten legten den Grund für die Hydrodynamik und Riemanns Hypothese über Stoßwellen in der Luft;
  • Darstellung von Brunelleschis Bauprinzipien für die Kuppel des Florentiner Doms, besonders von Körpern mit geringstmöglicher Fläche und der Kettenlinie;

und schließlich

  • Veranschaulichungen des pythagoräischen Kommas und des reichen Schatzes an Paradoxa in der Musik und im Bereich der menschlichen Singstimme.

Diese Aufgaben hatten für die Mitglieder der Jugendbewegung die gleiche Wirkung wie ein wissenschaftsgetriebenes Wirtschaftsprojekt. Sie zwangen zur Entwicklung neuer Fertigkeiten, steigerten insbesondere die Fähigkeiten und Erfahrungen mit Konstruktionen und zur Darstellung physikalischer Prinzipien, einschließlich dem Entwerfen und Handhaben entsprechender Apparate.

Dieser Prozeß muß jetzt weiter vorangetrieben werden. Ein intensives Projekt zum Studium der Arbeiten Lazare Carnots, Gaspard Monges und der Ecole Polytechnique hat bereits begonnen. Weitere Projekte zur Geometrie und Technik Gaspard Monges, zur projektiven Geometrie, zu Christian Huyghens Arbeiten über Licht- und Wellenvorstellungen, zu Leonardo da Vincis Arbeiten über die Perspektive und über die Umsetzung von Bewegung, die direkt zu Gottfried Leibniz‘ Differentialrechnung führten, sind entweder vorgeschlagen oder schon in Angriff genommen worden. Vielfältige Übersetzungsprojekte französischer und deutscher Originaltexte ins Englische und Spanische sind ebenfalls angelaufen.

Aus diesem Grund nennt LaRouche uns inzwischen nicht mehr die No-Future-Generation, sondern die Renaissance-Generation. Wir werden damit in den kommenden Wochen und Monaten viel Freude haben, aber auch viel Staub aufwirbeln.

Fußnote(n)

  1. „Die vier Gaußschen Beweise für die Zerlegung ganzer algebraischer Functionen in reele Factoren ersten und zweiten Grades“, herausgegeben von E. Netto, Leipzig 1890, nachgedruckt in Ostwald Klassiker. []