Eigentlich sollte es die Hauptaufgabe der Biologie sein, genau diejenigen Aspekte lebender Prozesse zu erforschen, wodurch sich diese von allen Prozessen der nichtlebenden Materie unterscheiden. Doch mit dem Siegeszug reduktionistischer Denkweisen in der Biologie, allen voran der gewaltigen Entwicklung der Molekularbiologie seit Mitte des 20. Jahrhunderts, ist in den Vorstellungen der Wissenschaftler die Grenze zwischen lebenden und nichtlebenden Prozessen immer verschwommener geworden.
So betrachtet man eine lebende Zelle gerne als „molekulare Maschine“ und verwendet immer öfter Analogien aus der Computer- und Informationstechnik. Es hat sich bereits ein riesiges neues Forschungsgebiet herausgebildet: das sogenannte „artifizielle Leben“ – sich selbstverändernde Datenkomplexe und Computerprogramme, die als „künstliche Organismen“ betrachtet werden und deren „Evolution“ in digitalen Umfeldern durch große Computersimulationen studiert wird. Das Neueste ist die Perspektive, mit Hilfe der sogenannten „Nanotechnologie“ kleinste Molekulargebilde herzustellen, die in der Lage sein sollen, sich selbst zu reproduzieren und damit scheinbar eine Ureigenschaft lebender Organismen anzunehmen.
Die molekularbiologische und informationstechnische Denkweise erhielt durch die große öffentliche Diskussion um das Humane Genom-Projekt weiteren Auftrieb. Die sogenannte „Entschlüsselung“ der menschlichen Gene war nur unter Einsatz großer Datenverarbeitungssysteme und automatisierter Laborverfahren möglich geworden. Daß der wissenschaftliche Wert dieser rein technischen Leistung oft enorm überschätzt wird, hängt nicht zuletzt mit handfesten wirtschaftlichen Interessen zusammen. In den letzten Jahren sind in den USA und zunehmend auch in Europa neue Biotechfirmen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Neben den amerikanischen „Dot.com“-Internetfirmen spielen die neuen Bioaktien an den hochgradig überbewerteten und inzwischen extrem anfällig gewordenen „neuen“ Finanzmärkten eine wesentliche Rolle. Die medienwirksame Initiative von US-Präsident Clinton, den „Erfolg“ des Genomprojekts schon Monate vor seinem Abschluß zu proklamieren, hat wohl mehr mit der damaligen Furcht vor einem Börsenkrach der „Hightech“-Aktien zu tun als mit der Frage, inwieweit die extravaganten Versprechungen über die baldige gentechnische Lösung aller medizinischen Probleme der Menschheit überhaupt der Realität entsprechen.
Wir wollen hier nicht die Molekularbiologie und Biotechnik als solche schlecht machen. Hier geht es um etwas anderes: Ist die Biologie jenem prinzipiellen Ziel näher gekommen, welches wir oben benannt haben? Liegt in der Vorstellung von der Zelle als selbstreproduzierende „molekularen Maschine“ etwas, was der Realität mehr entspricht, oder erscheint es vielen Wissenschaftler nur deswegen so, weil sie die eigentliche Hauptfrage der Biologie aus den Augen verloren haben? Analog stellt sich die Frage bei der sogenannten „künstlichen Intelligenz“: Ist man mit den modernen Computersystemen dem menschlichen Denkvermögen wirklich näher gekommen, oder scheint es vielen Menschen nur so, weil sie dümmer geworden sind?
Gerade deswegen kann eine nähere Beschäftigung mit den Arbeiten von Wladimir Iwanowitsch Wernadskij (1863–1945), dem Begründer der Lehre von der Biosphäre und einer der größten Naturforscher des 20. Jahrhunderts, für die heutige Biologie sehr wohltuend wirken.
Denn Wernadskij hat genau diese Hauptfrage der Biologie – die Erforschung des grundsätzliches Unterschieds zwischen lebenden Prozessen und den Prozessen innerhalb der nichtbelebten Materie – in den Mittelpunkt seiner Forschungen gestellt. Dabei vermied er bewußt die jahrhundertelange abstrakte Debatte über die Frage „Was ist Leben?“, und fragte statt dessen: „Was tut lebende Materie?“ oder genauer: „Was ist die empirisch feststellbare physische Wirkung der Gesamtheit aller lebenden Organismen als gestaltende und verändernde Kraft auf der Erde?“
Als Wernadskij (der zugleich Geologe, Chemiker und Biologe war) diese Frage vor dem Hintergrund der geologischen Geschichte der Erde untersuchte, trat das Spezifische und Eigenartige der lebenden Prozesse so klar und unwiderlegbar hervor, daß man hier von einer Grunderkenntnis der Naturwissenschaft sprechen muß.
Im folgenden veröffentlichen wir in leicht gekürzter Übersetzung einen wichtigen, aber wenig bekannten Aufsatz von Wernadskij aus dem Jahre 1938. Darin faßt er seinen Beweis des „unüberbrückbaren Unterschieds“ zwischen lebender und nichtlebender Materie zusammen, und stellt gleichzeitig der Wissenschaft eine große, bis heute nicht beantwortete Herausforderung: Die Hypothese eines „speziellen geometrischen Zustands der Raumzeit innerhalb lebender Prozesse“.