Der Weltraumvisionär Krafft Ehricke wäre am 24. März 2017 100 Jahre alt geworden. Marsha Freeman, die Krafft noch persönlich kannte, erinnert mit dem folgenden Aufsatz an diesen ganz besonderen Forscher.
Krafft Ehricke war eine der herausragendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, dessen Werk auch noch über 30 Jahre nach seinem Tod den moralischen Imperativ für heute und den Weg der Menschheit in die Zukunft verkörpert. Seine Beiträge zur Weltraumforschung umfaßten die gesamte Spanne wissenschaftlicher und technologischer Konzepte von der Nutzung des Erdorbits über die Industrialisierung des Mondes bis zur Erforschung des gesamten Universums, wovon das meiste auch Jahrzehnte später noch auf seine Realisierung wartet. Was ihn darüber hinaus von anderen begabten und kreativen Visionären unterscheidet, war sein kompromißloser und leidenschaftlicher Einsatz für die Zukunft der Menschheit.
Für Krafft Ehricke war die Weltraumforschung kein Selbstzweck – wie wichtig deren praktische Ziele auch sein mögen –, sondern sie verkörperte für ihn die Neubelebung der edelsten Eigenschaften des Menschen. Die Ausbreitung des Menschen im Universum war für ihn konkreter Ausdruck unseres schöpferischen Potentials und das des Universums selbst. Die Beherrschung des Universums erforderte in seinen Augen, daß sich die Menschheit auf die Moral und die schöpferischen Eigenschaften zurückbesinnt, die durch die menschen- und wissenschaftsfeindliche malthusianische Seuche, die Ende der 1960er Jahre einsetzte, bedroht und schon weitgehend zerstört waren. Ihm war bewußt, daß die logische Konsequenz dieser selbstdestruktiven „grünen“ Richtung das Ende der Zivilisation selbst bedeuten würde. Daraus schöpfte er in seinem Lebenswerk eine große Hingabe und Dringlichkeit, denn er wollte der Menschheit den alternativen „extraterrestrischen Imperativ“ vermitteln, damit die menschliche Zivilisation ihr Potential verwirklichen könnte, das jenseits der Erde liegt. Aber um diese Evolution des Menschen verwirklichen zu können, müsse die Menschheit nicht nur Wissenschaft und Technologie beherrschen, sondern auch das „Moralgesetzes in sich“ verwirklichen.
Dabei muß man sich fragen, warum der Name Krafft Ehrikke in der Geschichte der Raumfahrt nicht genauso geläufig ist wie der Wernher von Brauns, der sich selbst lobend über Krafft Ehrickes Beiträge zu seiner eigenen Arbeit geäußert hat. Der Grund liegt darin, daß sich Krafft Ehricke nie der öffentlichen Meinung unterworfen hat; er hat seine Überzeugungen nie „abgemildert“, um sich dem ideologischen Zeitgeist zu fügen. Alle, die ihn verstanden, haben seine universellen Prinzipien anerkannt und überaus bewundert, doch im Zuge des kulturellen („grünen“) Paradigmawandels Ende der 1960er Jahre wurden diese „unpopulär“.
Der Kontakt mit uns entstand, als Krafft Ehricke die englische Ausgabe unseres Magazins FUSION vom April 1981 mit der Titelgeschichte über Fusionsantriebe zur Kolonisierung des Weltalls in die Hände bekam. Er schrieb einen Leserbrief an die Redaktion, worin er mitteilte, daß er selbst Konzepte für den Einsatz der Kernfusion im Weltall entwickelt hätte. Die Redaktion bat ihn, einen Beitrag für das Magazin zu schreiben, was er auch gerne tat. Krafft Ehrickes Pläne für einen ganz neuen Fusionsantrieb, mit dem der Mensch über den Mond hinaus ins Weltall fliegen könnte, waren die Fortsetzung seiner Arbeit an der ersten mit Flüssigwasserstoff angetriebenen Raketenoberstufe in den 60er Jahren, die ihm den Spitznamen „Vater der Centaur-Rakete“ einbrachte. Die Centaur eröffnete das gesamte Sonnensystem für die Erforschung durch Roboter, die die menschliche Intelligenz repräsentierten.
Als FUSION-Redakteurin traf ich Krafft Ehricke im Oktober 1981 in seinem Haus im kalifornischen La Jolla. Er zeigte mir einen Ordner mit Briefen von Verlagen, die die Veröffentlichung seines Buches Der extraterrestrische Imperativ von 1971 abgelehnt hatten. Die Verlage hatten eingewandt, das Buch sei „zu optimistisch“ und befürworte Technologien wie die Kernkraft, die „unpopulär“ seien. Das Buch ist nie erschienen.
Als die Fusion Energy Foundation und das Schiller-Institut 1985 eine Krafft-Ehricke-Gedenk-Konferenz nach seinem Tod im Dezember des Vorjahres organisierten, lehnte ein eingeladener deutschstämmiger NASA-Wissenschaftler seine Teilnahme mit der Begründung ab, Krafft Ehricke hätte sich steif und fest geweigert, seine Ideen zu ändern oder dem Zeitgeist anzupassen. Tatsächlich hat Krafft Ehricke sein Leben lang gegen genau diese gesellschaftliche Zeitgeistplage angekämpft.
Für Krafft Ehricke gab es keinen Kompromiß mit den Prinzipien oder der Heiligkeit des menschlichen Geistes, was ein zentrales Merkmal seiner philosophischen Anschauung war. Als er in einem Interview einmal darüber sprach,1 wie er die Nazi-Herrschaft in Deutschland geistig überlebt hätte, sagte Krafft Ehricke:
„Ich habe stets die Tendenz gehabt, mich mit ungestümen Urteilen über wichtige Dinge zurückzuhalten. Ich bin nur soweit gegangen und habe mir dann nichts mehr sagen lassen. Ganz gleich, worum es sich handelte, welches Feld auch immer, ich wollte es erst selbst durchdenken. Das war anfangs instinktiv; später fürchtete ich bewußt, mein Urteilsvermögen preiszugeben. Mit dem Regierungswechsel, mit dem Emporkommen Hitlers 1933, schützte mich diese Eigenschaft – obgleich ich dadurch auch in große Schwierigkeiten geriet… sie half mir in der Nazizeit sehr, einen Gedankengang beizubehalten… Ich möchte den Spruch ,Mein Haus ist mein Schloß‘ etwas abwandeln. Für mich heißt das: ,Mein Geist ist mein Schloß‘. Bestimmte Bereiche davon darf niemand betreten… Ich brauche diese letzte, innere Zuflucht, in der ich völlig ich selbst bin; nur dann bin ich wirklich ein Individuum.“
Aufgrund der verbreiteten Demoralisierung in der US-Raumfahrtgemeinschaft – trotz erstaunlicher Erfolge wie den Langzeitaufenthalten im Weltraum, der Erforschung fast aller großen Himmelskörper im Sonnensystem und der Lösung immer weiterer Rätsel des Universums – haben viele Wissenschaftler eine Grenze in ihrer Sicht der Zukunft akzeptiert. Krafft Ehricke bestand dagegen darauf, daß nichts und niemand dem Menschen irgendwelche Beschränkungen auferlegt, außer er sich selbst.
Die Macht der Vernunft
Krafft Ehricke hatte niemals einen Zweifel daran, daß der Mensch die Technologien entwickeln werde, die ihn ins Weltall bringen. 1957, noch vor Beginn des eigentlichen Weltraumzeitalters mit dem Start des Sputnik, formulierte er jedoch, was ihm am meisten am Herzen lag – die philosophische Weltanschauung, die jeglichen technologischen Fortschritt bei der Erforschung des Weltraums begleiten sollte. Seine drei Gesetze der Astronautik waren in einem Artikel enthalten, dessen Überschrift sich stark von der üblichen Literatur über Weltraumpolitik abhob: Die Anthropologie der Weltraumfahrt.
Krafft Ehrickes Drei Grundgesetze der Astronautik von 1957 lauten:
- Erstes Gesetz: Unter dem Naturrecht dieses Universums erlegt nichts und niemand dem Menschen irgendwelche Beschränkungen auf außer er sich selbst.
- Zweites Gesetz: Das rechtmäßige Betätigungsfeld des Menschen ist nicht nur die Erde, sondern das ganze Sonnensystem und soviel vom Universum, wie er unter den Naturgesetzen erreichen kann.
- Drittes Gesetz: Indem er sich im Universum ausbreitet, erfüllt der Mensch seine Bestimmung als Element des Lebens – ausgestattet mit der Macht der Vernunft und der Weisheit
des Moralgesetzes in sich.
Die endgültige anthropologische Bedeutung der Raumfahrt, so schreibt Krafft Ehricke in dem Artikel, liege darin, daß zukünftige Generationen einmal „an anderen Orten leben“ werden.
1970, als die Gegenkultur der Nullwachstumsbewegung tonangebend wurde, arbeitete Krafft Ehricke an dem Manuskript für sein Buch Der extraterrestrische Imperativ. Er entwarf dafür eine Graphik, um zu verdeutlichen, warum Entwicklung aus Sicht eines Renaissancemenschen unerläßlich ist. Aus der Graphik, die Wachstum gegen Nichtwachstum stellt, wird sehr deutlich, welche Konsequenzen eine Philosophie der Beschränkungen hätte. Wählt man Wachstum, führt dies zu mehr Bildung, internationaler Zusammenarbeit und wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt, während der Weg des Nichtwachstums zu regionaler Engstirnigkeit, Geopolitik, Hunger, Seuchen und Krieg führt. Schaut man sich in der Welt um, sieht man heute überall die Folgen des Nichtwachstums, das, wie Krafft Ehricke vor über 40 Jahren warnte, das Resultat eines bestialischen Menschenbildes wäre.
Krafft Ehricke hatte ein tiefes Verständnis davon, daß nicht die Technologie an sich es dem Menschen ermöglichte, neue Zivilisationen jenseits der Erde zu schaffen, sondern dazu sei vor allem eine Revolution kultureller, moralischer und politischer Werte erforderlich, wie sie in der italienischen Renaissance, der Deutschen Klassik und der amerikanischen Verfassung zum Ausdruck kam. Damit stand er in völliger Übereinstimmung mit den Ideen des Schiller-Instituts, das 1984 von Helga Zepp-LaRouche gegründet wurde. Das Schiller-Institut und andere von Lyndon und Helga LaRouche geschaffene Organisationen setzten sich genau für einen solchen kulturellen und politischen Paradigmenwechsel ein, der die Renaissance-Ideale bei der Gründung der Neuen Welt darstellte. Krafft Ehricke schloß sich ohne zu Zögern dem internationalen Beirat des Schiller-Instituts an.
Helga Zepp-LaRouche beschrieb diese Übereinstimmung der Ideen mit Krafft Ehricke so:
„Ich teile seine Überzeugung, daß der Mensch nur durch die Raumfahrt, nur wenn er seine Augen von der Erde weg zu den Sternen hinwendet, und wenn er seine Bedeutung begreift, das erlangen kann, was Schiller die ,Würde des Menschen‘ genannt hat. Nur wenn wir anfangen, über das Universum nachzudenken und den Weltraum zu besiedeln, wird das Zeitalter der Vernunft möglich werden, das alle großen Humanisten der europäischen Zivilisation verwirklichen wollten. Das war der Glaube Schillers und Krafft Ehrickes: Der Mensch ist fähig zur Vernunft, ganz gleich wie schrecklich die Bedingungen um ihn herum sein mögen.“2
Im November 1984 veranstaltete das Schiller-Institut seine dritte internationale Konferenz, an der Krafft Ehricke krankheitsbedingt nicht mehr teilnehmen konnte, aber er übersandte der Veranstaltung die folgende Grußbotschaft, worin er seine Vorstellungen über die Zukunft der Menschheit im Weltraum im langen Lauf der Geschichte darstellte:
„Grüße an das Friedrich-Schiller-Institut, an seine Vorsitzende Helga Zepp-LaRouche; an sein Ziel einer starken, wiederbelebten amerikanischen Allianz mit Europa und der Ausschaltung der neomalthusianischen ‚grünen‘ Parteien, die Europa bedrohen.
Ich habe mich vom Mond Lichtjahre nach draußen bewegt und habe keine Grenze des Wachstums gefunden… Wachstum ist die Zunahme an Wissen, an Weisheit, an der Fähigkeit, auf neue Weise zu wachsen. Krisen müssen gelöst werden, indem man scheinbare Grenzen des Wachstums überspringt… Am heutigen Punkt in der Geschichte steht unsere hochtechnisierte Zivilisation vor einer weiteren Krise der Energieversorgung, der Materialien, der Produktionsfläche und der Materialbearbeitung. Aber die menschliche Vernunftfähigkeit erlaubt uns, eine ,dritte Erde‘ im extraterrestrischen Raum auf Grundlage einer konzentrierteren Energieform zu errichten – Kernspaltung und Kernfusion… Wenn 4 oder 5 oder 6 Mrd. Menschen auf die Lebensweise einer noch embryonalen Menschheit zurückfallen, würde die Menschheit um Milliarden dezimiert, und die Biosphäre würde verwüstet.
Zivilisation bedeutet die Überwindung der Brutalität und die Erkenntnis der Pluralität, daß es verschiedene Lebensweisen gibt und wie man die Natur erforscht… Die europäische Zivilisation des Mittelalters, erstarrt in der Enge ihrer kleinen, streng kontrollierten Orte und fest eingebunden in allmächtige religiöse Dogmen, befand sich im 12. und 13. Jahrhundert gefährlich nahe daran, eine weitere statische Zivilisation wie die des antiken Chinas, Japans, Indiens oder der Inkas auf diesem Kontinent zu werden. Die plötzliche Erkenntnis, daß es dort eine große und schöne Erde gab, die darauf wartete, vom Menschen eingenommen zu werden, bestürmte und ermutigte die großen Denker dieser Zeit… Das war die krönende Errungenschaft der Renaissance.
Jetzt beginnen wir zu erkennen, daß das Sonnensystem und wahrscheinlich sogar Teile dieser Galaxie unser sein kann. Die Folgen hiervon für alle Phasen menschlichen Seins, der praktischen Anwendung des zweiten Gesetzes der Astronautik während der kommenden Jahrhunderte übersteigt fast unsere Vorstellungskraft, genauso wie sich die Renaissance-Pioniere die Welt von heute kaum vorstellen konnten. Wir sind heute nur die Schiffsbauer für die Männer und Frauen, die in eine neue Ära von Entdeckungen eintreten und die die Grundlage für jene legen, die nach ihnen kommen, jene, die planetare Technologien entwickeln und kosmische Zivilisationen schaffen werden.“
Seine Äußerung „Die Zivilisation bedeutet die Überwindung der Brutalität“ war für Krafft Ehricke eine überaus reale Frage, denn er sah in dieser Zeit die Zivilisation genauso existentiell bedroht wie in den 30er Jahren. Am 28. November 1981 hielt Krafft Ehricke aus New York eine Rede, nachdem er gerade von einer Vortragsreise in Europa zurückgekehrt war. Schon in der Autofahrt vom New Yorker Flughafen nach Manhattan war er sichtlich erschüttert von seinen Erfahrungen mit gewalttätigen grünen Kernkraftgegnern, die seine öffentlichen Veranstaltungen in Deutschland stören wollten. Er eröffnete seinen Vortrag über den extraterrestrischen Imperativ mit den Worten:
„Es bestürzt mich, daß ich am Ende meines Lebens die gleiche Art von Sturmtruppen und von emotionell aufgeheizten Kundgebungen erleben muß, wie sie in meiner Jugend in den Jahren 1929 bis 1932 in Berlin so häufig waren.“ Und weiter: „Die Jugend Westdeutschlands und anderer Nationen ist unglücklicherweise zu einem großen Teil in die Irre geführt worden… wenn heute jemand über Raumfahrt und Kernenergie spricht, so betrachten die ,Umweltschützer‘ und Kulturpessimisten dies als unerhörte Provokation, die es mit allen Mittel zu verhindern gelte.“
Die Polizei mußte gerufen werden, um Gewalttätigkeiten zu verhindern, als Studenten an einer deutschen Universität Krafft Ehricke am Zutritt zum Veranstaltungsort hindern wollten.
Die Grünen hätten keine positiven Vorschläge, sagte Krafft Ehricke, jedoch gingen sie davon aus, daß es Grenzen des Wachstums gäbe und man „die technologische Uhr auf primitivere Zeiten zurückdrehen muß, um den Planeten zu ,retten‘.“ Was ist die Folge davon? Müssen wir demnach für alle Zeiten leiden, weil Technologien, die unser Leben erleichtern, auch mißbraucht werden könnten? Was ist unser moralisches Gebot? Für Krafft Ehricke waren die Antworten auf diese Fragen nicht akademisch, sondern stellten das „Moralgesetz“ im Menschen auf die Probe.
„Nehmen wir einmal des Argumentes wegen an, die Ansicht [der Grünen über die Grenzen des Wachstums] sei korrekt. Sollen wir deswegen ewig leiden, weil lebensrettende Technologien mißbraucht werden? 1979, ausgerechnet im Jahr des Kindes der Vereinten Nationen, haben 12 Mio. Kinder auf der Welt ihren ersten Geburtstag nicht erlebt. Das sind 50 Prozent mehr als alle Gefechtstoten im Ersten Weltkrieg in vier Jahren. Das ist empörend für eine Gattung, die sich zivilisiert nennt. Ganz zu schweigen von dem Leid dieser Kinder, bevor sie sterben, und ganz zu schweigen von dem Leid der Mütter, die diese Kinder geboren haben und mit ansehen müssen, wie sie sterben, weil sie sie nicht ernähren können, und sie Tag und Nacht schreien hören. Das sind unvorstellbare Qualen.“
Aber es gibt eine Alternative: die der „offenen Welt“, wo Wissenschaft und Technologie das Wachstum erzeugen, welches dem Menschen ermöglicht, die Erde insgesamt zu verlassen und neue Welten zu schaffen, in denen er nicht auf seinen Heimatplaneten beschränkt ist. Dies wird nur eintreten, so betonte er, wenn „das Moralgesetz in ihm“ die treibende Kraft der Zukunft ist.
Früher in diesem Jahr hatte Krafft Ehricke in einem Brief an den neu gewählten Präsidenten Ronald Reagan vom 3. März 1981 in deutlichen Worten die moralische Krise der Menschheit beschrieben. Darin umriß er seine Vorstellungen von den Maßnahmen, die der Präsident in der Weltraumpolitik ergreifen sollte, benutzte dabei allerdings keine akademischen und gar wissenschaftlichen Argumente, sondern stellte sie in einen Zusammenhang, der ihnen die größte Dringlichkeit verlieh.
Der Weltraum, so schrieb er, „wird diesen Planeten nicht in ein Paradies verwandeln, sondern wird dazu beitragen, ein viel wichtigeres Problem zu bekämpfen – zu verhindern, daß er zur Hölle wird… Die Erde wird tatsächlich für einen wachsenden Teil ihrer Bevölkerung zunehmend zu einem immer unangenehmeren ,Raumschiff‘. Wachsende Armut, falsche wirtschaftliche und soziale Agenden, eine falsche Energiepolitik… und zunehmende politische Intoleranz, die Millionen Flüchtlingen in Afrika und Südostasien sowie in Mittelamerika unermeßliches Leid zufügt – wir haben es mit diesen unmenschlichen Realitäten zu tun, nicht aufgrund dessen, was Technologie und Industrie leisten, sondern aufgrund dessen, was sie nicht leisten dürfen.“
Unter Verweis auf seinen extraterrestrischen Imperativ schildert Krafft Ehricke dem neuen Präsidenten die bemannten Weltraummissionen, die Entwicklung des Mondes, Weltraumanwendungen und eine Reihe von Robotermissionen im Sonnensystem, die im Mittelpunkt seiner Weltraumpolitik stehen sollten. Er schließt das Schreiben mit einer philosophischen Anmerkung:
„Die Luftfahrtgeschichte ist eine Geschichte der Überwindung von Grenzen des Wachstums durch menschlichen Mut und technische Kreativität, durch einen Drang nach Freiheit und eine Hingabe zur Unendlichkeit. Sie hat uns mit unzähligen Herausforderungen an unseren Mut, unsere Entschlossenheit und Kreativität ins Außerirdische geführt – zukunftsorientiert, lösungsorientiert und letztlich frei von den Schuldzuweisungen der Vergangenheit, wenn wir dieser Herausforderung menschlich gewachsen sind.“
In der Zukunft leben
Sechs Wochen vor seinem Tod und bereits schwerkrank reiste Krafft Ehricke noch von Kalifornien nach Washington, D.C., um die Hauptrede auf einer großen Konferenz mit dem Titel „Mondbasen und Raumfahrttechnologie des 21. Jahrhunderts“ zu halten, die am 29.–31. Oktober 1984 von der NASA auf Einladung der Nationalen Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurde. Die Organisatoren der Konferenz – Mondforscher vom Johnson Space Center der NASA in Houston – waren erst unlängst auf Krafft Ehricke aufmerksam geworden durch eine Reihe von Artikeln, die er für FUSION geschrieben hatte. Ich selbst hatte ihnen diese FUSION-Ausgaben bei einer früheren Mondkonferenz in Houston zugänglich gemacht. Wendell Mendell, der Diskussionsleiter der Washingtoner Konferenz, hatte Krafft Ehricke zuvor nie getroffen, erkannte jedoch sofort die besondere Qualität des Redners.
Bei seiner Vorstellung von Krafft Ehricke sagte Mendell, daß er von mehreren Kollegen und Freunden gebeten worden sei, einige einführende Bemerkungen zu machen. Einer, der Mendell darauf angesprochen hatte, war Fred Durant III., der selbst eine beeindruckende Laufbahn hinter sich hatte: Marinefluglehrer im Zweiten Weltkrieg, Präsident der Amerikanischen Raketengesellschaft, Präsident der International Astronautical Federation (IAF) und stellv. Direktor für Astronautik am Air & Space Museum in Washington. Er selbst ist 2015 im Alter von 98 Jahren verstorben. Fred Durant hatte Krafft Ehricke Anfang der 50er Jahre kennengelernt und später auf dem dritten IAF-Kongreß 1952 ein Papier von Krafft Ehricke vorgetragen.
Nachdem Mendell einige der Errungenschaften Krafft Ehrickes geschildert hatte – von dem, was erreicht wurde –, stellte er fest:
„Aber Krafft ist nicht froh, solange er nicht schreibt, was erreicht werden kann und was unsere Nachkommen, unsere Enkel einmal sehen werden. Ich möchte sagen, daß es eine einsame Welt ist, in der Krafft zeitweise lebt, denn sie ist die Zukunft…“
Krafft Ehricke begann bereits im Alter von 12 Jahren in der Zukunft zu leben, nachdem er in einem Berliner Kino den Film „Die Frau im Mond“ gesehen hatte. Sein Mentor Hermann Oberth, der technische Berater des Films, hatte ein Mondraketenmodell gebaut, das im Film die zentrale Rolle spielte.
1934, als er 17 Jahre alt war, verfaßte Krafft Ehricke ein Manuskript mit dem Titel Gedanken über Weltraum und Menschen, das mehrere Kurzgeschichten enthielt. Im ersten Stück beschreibt er, wie Wissenschaftler aller Fachgebiete aus der ganzen Welt alle 50 (!) Jahre zusammenkommen und über die neuesten wissenschaftlichen Durchbrüche diskutieren.
Als junger Mann schrieb Krafft Ehricke eine weitere Kurzgeschichte mit der einfachen Überschrift An meine liebe Mutter mit Dank, in der er sechs Jahrzehnte in die Zukunft blickte. Nach Auskunft seiner Familie setzte Krafft Ehrickes Mutter „Himmel und Erde in Bewegung, um seine Träume als Jugendlicher zu nähren. Sie suchte in der ganzen Welt nach wissenschaftlichen Büchern, die ihm einen Einstieg ermöglichten und er dann selbständig fortschreiten konnte.“
Zusätzlich zu seinen eigenen Studien, die er intensiv betrieb, mußte Krafft Ehricke aber auch in der Schule klarkommen. Seine Familie berichtete, daß „er als Jugendlicher Probleme mit dem Rechnen hatte. Seine Lehrer waren frustriert.“ Seine Mutter „besorgte ihm deshalb einen Nachhilfelehrer nach dem anderen. Einer der Nachhilfelehrer sagte ihr schließlich, daß an seinen Rechenfähigkeiten nichts auszusetzen sei, er sei vielmehr so weit voraus, daß man seinen Überlegungen nicht folgen noch sie verstehen konnte… [Doch] dieser eine Nachhilfelehrer arbeitete weiter mit ihm, denn er fand Interesse an der Mathematik, der sich Krafft bediente, und er begann von seinem Schüler zu lernen.“
Die Kurzgeschichte, die Krafft Ehricke seiner Mutter gewidmet hatte, handelte von einer Expedition des Kapitäns Knuth Ehrich, der sich 1991 auf einen Flug zur Venus begab. Die Reise zu einem so entfernten Ziel „wurde möglich durch die neue atomare Ehrich-Ionen-Rakete“. Aufgabe der Expedition war es, „nach neuen Siedlungsmöglichkeiten für die Menschheit zu suchen und wissenschaftliche Forschung zu betreiben.“ Die Mannschaft des Kapitäns bestand aus 30 Forschern, die die verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete vertraten. Die Expedition „mit Zwischenhalt auf dem Mond“ war von der „Internationalen Regierungs-Konferenz“ unter Beteiligungvon 48 Nationen beauftragt worden.
Ein Jahr nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten schrieb Krafft Ehricke 1948 ein Papier über die Expedition Ares: Eine Sage vom Beginn interplanetarischer Flüge. Die Handlung spielt mehr als 400 Jahre in der Zukunft und blickt auf die Geschichte der Weltraumforschung zurück, so auch auf die Expedition Ares, eine bemannte Mission zum Mars im Jahr 2000. An der Wende zum 21. Jahrhundert, so schreibt Krafft Ehricke, „befanden sich Wissenschaftler, Ingenieure, Träumer und Abenteurer, die die Erde in kleinen Erkundungsraketen umrundeten, am Rande einer gewaltigen Leere, jenseits von der neue Welten lockten und ihr Verlangen anregte, die zwischen Mensch und Sternen errichteten Barrieren zu beseitigen. Der erste Versuch, diese Träume zu verwirklichen, ist in der Geschichte als ,Expedition Ares‘ bekannt.“ In späteren Missionen von Kraffts Sage brechen bemannte Raumschiffe zu allen Planeten des Sonnensystems auf.
Die Raumfahrzeuge und ihr Antriebssystem, die erforderlichen Wartungs- und Reparaturarbeiten im All, die Gefahren des Asteroidengürtels und die Begegnung mit einem bisher unbekannten Asteroiden werden ausführlich geschildert. Viele der Herausforderungen und Fehlschläge auf diesen Missionen sollten auch im realen Leben während der anschließenden ersten 60 Jahre des Raumfahrtzeitalters eintreten.
Aber die Erforschung und Nutzung des erdnahen Weltraums, die Industrialisierung des Mondes und die Erforschung unserer Nachbarplaneten waren für Krafft Ehricke nicht das Ende. Seine Vision, wie sich die Menschheit von der Erde entfernen würde, begann mit einer „Raumstation“ – allerdings nicht von der Art, wie wir sie von der heutigen Internationalen Raumstation kennen. Krafft Ehrickes „Station“ sollte eine die Erde umkreisende Stadt mit Tausenden von Einwohnern sein. Neben den Wohnbereichen und allen notwendigen Ergänzungen für die Mannschaft enthielte die Station auch Einrichtungen wie eine Orbitalklinik für alle, denen eine Behandlung und Genesung in der Schwerelosigkeit nutzen würde, Unterkünfte für Weltraumtouristen, eine Universität, landwirtschaftliche Anbauflächen und Erholungseinrichtungen. Krafft Ehricke nannte diese Stadt im Erdorbit „Astropolis“, ein urbanes Umfeld als erstem Schritt zur „Extraterrestrialisierung“.
Sein in den 70er Jahren ausgearbeitetes Programm zur Industrialisierung des Mondes ist ein umfassender Bauplan, hinter dem sein Konzept des extraterrestrischen Imperativs steht und als Weiterführung der ersten Apollo-Missionen gedacht war. Sein fünfstufiges Programm gipfelte in der Fertigstellung einer Stadt auf dem Mond „Selenopolis“ – kein Stützpunkt, keine Unterkunft, sondern eine Stadt mit Tausenden Bewohnern, die eine neue Zivilisation gründen würden, die wirtschaftlich, politisch und soziologisch von der Erde unabhängig wäre.
„Es wird ein neuer Zweig der Psychologie, die Exopsychologie, und der Soziologie, die Exosoziologie, entstehen,“ schrieb er, „denn die Umstellung fern von der Erde ist sehr profund.“
Mit Hilfe einer solchen Infrastruktur und anderen Mondressourcen wie Helium-3 als Brennstoff für Fusionskraftwerke wäre die Zivilisation bereit, auch das übrige Weltall zu besiedeln.
Damit wäre die Menschheit frei, eine „neue Erde“ zu schaffen – nicht nur Städte auf den Planeten unseres Sonnensystems, sondern autonome Städte, mit Antriebssystemen ausgestattet, die diese neue Erde in die Tiefen des Alls befördern. Derartige „Androzellen“ würden nicht zur Erde zurückkehren, sondern sich als eigenständige Gesellschaften frei im Sonnensystem bewegen. Krafft Ehricke nannte diese Androzellen auch „menschengemachte Planetellen“, die mobil wären „und jenseits des Erde-Mond-Systems nach anderen Ressourcen suchen.“ Schließlich würde der Mensch die Nabelschnur zur Erde durchschneiden.
Die Zivilisation dieser „wandernden, eigenständigen Welten ist wahrlich dreidimensional… Sie können unsere Sonne in unabhängigen Bahnen umkreisen“, schreibt er. Dies sind „politisch unabhängige Stadtstaaten, treiben Handel mit der Erde, dem Mond, Produktionsanlagen im Orbit und anderen Stellen und bilden neue kulturelle Keimzellen einer Menschheit, deren Entscheidung, im Weltraum zu leben, erheblich zugenommen hat, was die Vielfältigkeit der menschlichen Zivilisation vergrößert.“
Krafft Ehricke konnte sich zukünftige Pioniere vorstellen, die sich aufmachen, um das gesamte Sonnensystem zu erforschen und zu entwickeln, ganz ähnlich wie die Pioniere im ersten Zeitalter der Entdeckungen eine neue Zivilisation in der Neuen Welt erschufen.
In einem Interview 1970 präzisierte er seine Ansicht weiter, daß die Menschen, wenn sie in den Weltraum gehen, eine dreidimensionale Zivilisation schaffen; wenn man dieser Vorstellung noch die Zeit hinzufüge, werde diese sogar vierdimensional. Interstellare Flüge, so meint er, „besonders die Wanderung zwischen den Sternen und das interstellare oder galaktische Nomadentum sind die Bereiche, in denen die Zivilisation in vierdimensionaler (Raumzeit)-Ausdehnung wächst.“ Das mute zwar futuristisch an, doch, so wendet er ein, „Reisen zu entfernten Sternen jenseits unseres Sonnensystems hört sich heute genauso irreal an, wie eine bemannte Landung auf dem Mond nur einer oder zwei Generationen zuvor erschienen sein muß.“
Der Mond
Krafft Ehricke hat den bekannten Satz geprägt: „Früher pflegten manche Leute zu sagen: ,Hätte Gott gewollt, daß der Mensch fliegen kann, so hätte er ihm Flügel verliehen.‘ Heute können wir sagen: ,Hätte Gott gewollt, daß eine Gattung wie die unsere zu einer raumfahrenden Gattung wird, so hätte er ihr den Mond gegeben.“ Somit war die Industrialisierung des Mondes für Krafft Ehricke der erste Schritt in der wirklichen Extraterrestrialisierung des Weltraums.
Kurz vor seinem Tod hatte Krafft Ehricke noch ein Buch fertiggestellt, das die Krönung von über zehn Jahren intensiver Forschungsarbeit darstellte. Es hatte den Titel Der siebte Kontinent: Die Industrialisierung und Besiedlung des Mondes. Es wartet immer noch auf sein Erscheinen.
Darin heißt es: „Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum der Mond am Anfang der androsphärischen Expansion vorrangig als Modell für die Entwicklung einer neuen Welt in Frage kommt. Der Mond ist unser Partner in diesem Doppelplanetensystem und nur 2,5 bis 3 Flugtage entfernt – weniger Zeit, als ein Öltanker benötigt, um vom Persischen Golf an die Ostküste der Vereinigten Staaten zu gelangen. Der Mond ist eine vielversprechende Rohstoffquelle und ein geeigneter Ort zur Materialverarbeitung und zum Aufbau der ersten Biosphäre außerhalb der Erde. Seine Oberfläche entspricht etwa der des amerikanischen Kontinents, was ihm eine Schwerkraft verleiht, die für das menschliche Wohlbefinden und den Pflanzenwuchs (dem in der Schwerelosigkeit die Richtung fehlt) ausreicht.“ Außerdem erwarte uns auf dem Mond „eine neue Welt großer Schönheit.“
Die Selenier „können durch die Mondwelt in die Berge wandern, zu den reizvollen ,Küstenlinien‘ der Mare, den wilden Bergketten an den Polen… Wenn die Sonne untergeht, steht die Erde als Sichel am Mondhimmel. Der langsam zunehmende Mutterplanet taucht die Mondlandschaft in ein mildes Licht von wachsender Intensität.… Die Selenier leben ohne Frage an den Küsten des interplanetaren Ozeans. Sie können mühelos zwischen der Schwerkraft von 1/6 g auf der Mondoberfläche und ihren zirkumlunaren Außenposten in der Schwerelosigkeit Handel treiben, später auch zwischen ihrer Welt und den Welten des Mars, der Asteroiden und der Monde Jupiters oder Saturns… Die Selenier leben tatsächlich in einer kosmisch offenen Welt.“
In der Mitte des nächsten Jahrhunderts, so schreibt er weiter, „sehe ich eine polyglobale dreidimensionale Zivilisation. In der Rückschau aus dieser Zukunft wurde ihr Fundament im Dämmerlicht des ausgehenden vergangenen Jahrtausends von jenen geschaffen, die die großartige Herausforderung des extraterrestrischen Imperativs verstanden hatten… Aber es gab auch solche Menschen unter ihnen, die nicht imstande waren zu begreifen, daß ihre Welt zu den Sternen reichte, und so haben sie sich in die Erde gewühlt. Anstatt ihren Platz im äonenweiten Kraftfeld des evolutionären Wachstumspotentials einzunehmen, entwickelten sie sich greinend und Parolen brüllend zurück. Voller Angst davor zu wachsen, verkümmerten sie zu tauben Stummeln auf einem Klumpen Erde und wurden zu Totgeburten der Biosphäre… In einer unglücklichen Welt von Stagnation, Armut und Rückständigkeit könnten sie es vielleicht sogar dahin bringen, die endgültige Katastrophe einer Freisetzung von nuklearer Energie in einer entropischen Massenvernichtung herbeizuführen.“
Aber dies sei nicht vorherbestimmt. Vielmehr „wird die neue Menschheit, Homo sapiens extraterrestris, ihre Liegeplätze im brennenden Hafen der Erde verlassen und die Segel für einen neuen Kurs in die Offene Welt unbegrenzten Wachstums setzen – negentropisch und unbeirrbar!“
Wie seine Familie nachdrücklich bezeugt, ging Krafft Ehricke immer mit großer Intensität und Konzentration zu Werk. Er war getrieben von einer Leidenschaft, das reale Potential für schöpferische Entdeckungen zu wecken, Wissenschaft und Technologie einzusetzen, um die Erniedrigung eines Großteils der Weltbevölkerung zu beenden, und zu zeigen, daß sich unsere edelsten Bestrebungen in jenen Zivilisationen erfüllen, die wir außerhalb der Erde erschaffen.
Fußnote(n)
- Auszüge dieses Interviews erschienen in Shirley Thomas, Men of Space, 1960.[↩]
- Helga Zepp-LaRouche, „Wenn wir den Weltraum erschließen, können wir auch unsere irdischen Probleme lösen“, Einführende Rede auf der Krafft-Ehricke-Gedenkkonferenz in Reston am 15. Juni 1985, Neue Solidarität, 12. Jg. Nr. 27, 4. Juli 1985.[↩]